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Eine Traversierung der Kalkschyen

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Das letzte Jahrbuch brachte Kunde von diesen wilden Malm-Kalkgipfeln zuhinterst im Maderanertal. Zweck dieser Zeilen ist eine Ergänzung zu jenem Aufsatz. Der Unterzeichnete führte darin als schönstes noch ungelöstes Problem die Traversierung sämtlicher Gipfel an. Diese Tour wurde am 16. und 17. August 1910 von R. Lejeune, stud. phil. aus Zürich, und mir ausgeführt.

Am 14. August verließen wir abends 10 Uhr schwerbepackt Linthal; wir führten unter anderem 120 m Seil, diverse Abseilschlingen und Haken mit; Kletterschuhe fehlten selbstverständlich nicht. Auf dem Weg zum Klausen überraschte uns ein heftiges Gewitter und zwang uns zu längerem Aufenthalt in einem Gaden. Erst um 7 Uhr des andern Morgens brachen wir wieder auf und erreichten auf bekanntem Wege über die Paßhöhe und die Kammlialp den Griesgletscher gegen 10 Uhr. Wir hielten auf den Griespass zu, überstiegen denselben und hofften nun schon, ohne weitere Fährlichkeiten über das Scheerhorngriggeli die Hüfihütte zu erreichen; doch schon auf dem Gletscherchen nördlich vom Scheerhorngriggeli ereilte uns ein fürchterliches Unwetter, das unerwartet rasch von Westen her heranzog und uns binnen kurzer Zeit trotz Battistpelerine und Segeltuchjacke bis auf die Haut durchnäßte. Auf dem Griggeli schien wieder die Sonne, und ein warmer Wind trocknete die Kleider, ehe wir den Bocktschingelfirn verlassen hatten. Auf der obersten Moräne unter dem Hutstöckli errichteten wir aus einigen großen Steinplatten ein schützendes Dach, das als Depot für die Seile, Mauerhaken etc. dienen sollte, welche für den Augenblick überflüssige Sachen wir hier zurückließen. In kurzer Zeit erreichten wir sodann auf öfter beschriebenem Wege über den Bocktschingel und den Hüfigletscher das südliche Ufer und die Hüfihütte.

Ganz wider Erwarten brach am 16. August ein glanzvoller Tag an. Um 4 Uhr verließen wir die Hütte und gewannen auf dem Weg, auf dem wir hergekommen waren, den Bocktschingelfirn um 6 Uhr, dann weiter über den Kleinen Ruchen den Nordgipfel der Hintern Kalkschyen um 8 Uhr 30 Min. Ohne Aufenthalt stiegen wir über den Südgrat ab zur berüchtigten Scharte, deren Überwindung wir nach kritischer Musterung sogleich in Angriff nahmen. Es standen uns, wie schon gesagt, 120 m Seil zur Verfügung. Ein 25 m Seil wurde nun mittelst Mauerhaken fix angebracht; es reichte bis zirka 10 m über dem Grund der Scharte.Von oben gesichert stieg ich am fixen Seil ab; wo es endigte, gestattete ein schmaler Wandvorsprung, Stand zu fassen. Von hier aus gelang es mir, ein Seil über die schmale, senkrechte Gratmauer jenseits der Scharte zu werfen, indem ich dessen beide Enden in der Hand behielt. Vollends in die Scharte absteigend, zog ich durch die Schlinge des über die Gratmauer geworfenen ein weiteres Seil, das bis zur Grathöhe hinauf gehißt wurde. Mein Kamerad folgte nun in die Scharte hinunter. Durch die beschriebene Vorrichtung gelang es uns, unter gegenseitiger Hülfe die jenseitige Grathöhe zu erreichen; um 12¼ Uhr war die Scharte bezwungen. Es folgte nun eine interessante Kletterei über einige Gratköpfe; nach ¾ Stunden standen wir vor dem großen Absturz, mit welchem der Südgrat des Nordgipfels der Hintern Kalkschyen auf den Nordgrat des Südgipfels übergreift. Heller hat diesen riesigen Überhang seinerzeit treffend als „ Affenkopf " bezeichnet, indem er mit einem solchen eine gewisse Ähnlichkeit aufweist. Auf der Ostseite seilten wir uns zirka 35 m tief auf ein Schuttplätzchen ab, das wir um 2 Uhr verließen und den ziemlich schwierigen, von runden Köpfen gekrönten Grat weiter nach Süden verfolgten. Um 3 Uhr setzten wir den Fuß auf den unbestiegenen Südgipfel der Hintern Kalkschyen; wir schlagen für diesen plattengepanzerten Gipfel den Namen Plattenhorn vor. Fröhlich flatterte die Schweizerfahne auf diesem neuentdeckten Fleckchen Erde. Die vorgerückte Zeit zwang uns zu baldigem Aufbruch; schon um 3¼ Uhr machteu wir uns an den Abstieg über den plattigen Südgrat. Dieses Stück gestaltete sich zum schwierigsten und unangenehmsten der ganzen Tour; die Glätte des Felsbelages, das Fehlen von Zacken und Ritzen machten ein Abseilen über die undeutlichen Absätze mit einer Ausnahme unmöglich; es war ein mühsames, gefährliches Hinabschleichen über die glatten runden Buckel; ohne Kletterschuhe möchte ich dieses Gratstück nicht in Angriff nehmen. Erst um halb 7 Uhr abends erreichten wir die größte Scharte des Kalkschyengrates, jene, die ich mit Heller anläßlich der ersten Besteigung der Mittlern Kalkschyen von Osten her über die Wand erreichte. Nach halbstündiger Rast erkletterten wir im Eiltempo Schyenhorn und Südgipfel der Mittlern Kalkschyen auf bekannter Route. Noch aber lag ein unbegangenes Gratstück vor uns, das zu den Vordem Kalkschyen hinführt. Unverdrossen nahmen wir es in Angriff; indes ereilte uns bald die Dämmerung; um 8 Uhr 20 Min. bezogen wir unter dem Absturz des Nordgipfels der Vordem Kalkschyen ein Biwak, im Innern froh, daß sich das Wetter wider Erwarten so gut anließ. Der Nebel, der sich gegen Abend um die Zinnen der Kalkschyen ballte und uns ernste Besorgnis verursachte, war verschwunden. Silbern stieg der Mond hinter dem Tödi auf. Nie werde ich die einsame Nacht vergessen, wo wir, an den Felsenleib der Kalkschyen geschmiegt, dem Herzschlag der Natur lauschten. Gegen Morgen wurde es empfindlich kalt; mit einem Jauchzer begrüßten wir einige über den still und bleich zu unsern Füßen liegenden Hüfifirn hinaufziehende Lichtlein. Allmählich wurde es hell; doch erst nach 7 Uhr verließen wir unsern Biwakplatz, nachdem wir uns erst von der Sonne hatten auftauen und erwärmen lassen. Der sich mächtig zu unsern Häuptern auftürmende Nordgipfel der Vordern Kalkschyen wurde auf einem Schneeband östlich umgangen und über den Ostabsturz erklettert; damit waren wir wieder auf begangenes Terrain gelangt. Indessen möchte ich die nun folgende Traversierung zum Südgipfel auf der Ostseite des hier ungemein zersplitterten Grates nicht leicht nennen; brüchige, abschüssige Felsrippen, trockener Schutt und schlechter Schnee auf dem Band mahnten fortwährend zu großer Vorsicht. Um 10 Uhr standen wir auf dem Südgipfel und bewunderten dessen grandiosen Absturz zum 800 m tiefer liegenden Hüfigletscher, dessen unverhüllten Anblick ich zum erstenmal von hier aus genießen durfte. Nach längerer Rast stiegen wir durch die östliche Rinne zum Bocktschingelfirn ab. Nachmittags 4 Uhr erreichten wir nach sehr gemächlichem Bummel die Hüfihütte nach 36-stündiger Abwesenheit.

W. A. Keller ( Sektion Pilatus ).

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