Eine Besteigung des Fujiyama
VON W. K. RIEBEN, EVERETT ( WASHINGTON )
Mit 1 Bild ( 22 ) Am 5. Juli 1963, nachmittags 2 Uhr, flog unser Düsenflugzeug von Honolulu nach Japan ab. Am Tag darauf, nachdem ich zum erstenmal, aber wahrscheinlich nicht zum letztenmal in unserem Leben einen Kalendertag übersprungen hatte, näherten wir uns der Bucht von Tokio. Dort grüsste uns über einem Meer von Wolken schon von fern das Symbol Japans, der Fujiyama. Wir stellten unsere Uhren fünf Stunden zurück und landeten nach 7V2stündigem Flug um 17.35 Uhr am 6. Juli auf dem Flugplatz von Tokio, wo uns die japanische Stewardess beim Abschied ein nettes Büchlein aushändigte. Es hiess Parlez-vous Japanese? Ich konnte nicht Japanisch. Aber zwei Tage später zwischen 18 und 19 Uhr stand ich schon auf dem Gipfel des unvergleichlich schönen Fujiyama. Er war das Ziel meiner Reise. Wie hatte ich es geschafft?
Mit Hilfe des Parlez-vous Japanese? durchquerte ich die Riesenstadt Tokio mit ihren 9312000 Einwohnern. Alle Touristenattraktionen liess ich beiseite: die Parks, die Museen und Kunst-sammlungen, das Parlament und die Geishas von Ginza, dem weltberühmten Vergnügungsviertel Tokios.
Ich hatte allzu geruhsame Ferientage auf Hawaii hinter mir und sehnte mich nach einem Bergerlebnis. Auch hatte mir die fast zwei Stunden lange Taxifahrt durch Japans Hauptstadt mit ihrer überfüllten, betriebsamen und ziemlich staubigen City einen eher bedrückenden Eindruck gemacht und um so mehr das Bedürfnis nach einer richtigen Bergfahrt geweckt. Ich freute mich auch auf die Landschaft und alles, was zu diesem berühmten Gipfel gehört. Im fürchterlichen Gedränge des Bahn- hofs, wo ich mit meinen drei Worten Japanisch das Transportproblem nicht lösen konnte, wartete ich zwei Stunden. Aber das freundliche Entgegenkommen der Japaner - besonders der jungen Generation - jedem Fremden gegenüber und meine offensichtlich fremdländische Kleidung und Ausrüstung trugen Früchte. Ein japanischer Geschäftsmann wurde auf meine Eisaxt und mein übriges Kletterwerkzeug aufmerksam. Er kam auf mich zu, und es stellte sich bald heraus, dass auch er in die Gegend der fünf Fujiyama-Seen fahren wollte. Ohne ihn hätte ich wohl meinen Bestimmungsort, den schönen Kawaguchisee, nicht schon am ersten Abend meiner Ankunft erreicht.
Die japanischen Eisenbahnen spiegeln besser als alles andere die Übervölkerung dieses Landes. Auf jeder Station drängten sich Dutzende von Passagieren in die schon vollgestopften Wagen. Wenn ich mich je dem Ersticken nahe geglaubt habe, so war es in der subtropischen Julihitze dieses Zuges, der von Tokio wegfuhr. Dank den japanisch geschriebenen Anweisungen meines hilfsbereiten Geschäftsmannes, der bemerkenswert gut Englisch sprach, erreichte ich um Mitternacht das Fuji-View Hotel. Es war der ländliche Typ eines altjapanischen Gasthauses.
Am andern Morgen war ich überrascht von der unmittelbaren Nähe des Fujiyama und überwältigt von seiner ebenmässigen Gestalt. Kein Wunder, dass dieser majestätische Berg Weltruf besitzt. Er ist nicht nur Japans höchster Berg, seit über tausend Jahren ist er sein nationales Heiligtum, das Mekka der Pilger. Die Japaner huldigen dem Sengen-Altar, der auf seinem Gipfel errichtet ist, und begeistern sich an der ausserordentlichen Rundsicht über fast ganz Japan.
Der Fujiyama, 3778 m, heute von den Japanern Fuji genannt ( gesprochen Fudschi ), ist ein mächtiger Vulkankegel mit einer Basis von fast 160 Kilometern Umfang. Neben dem Cotopaxi in Ecuador gilt er als der schönste Vulkan der Erde. Für seinen Namen gibt es viele phantasievolle Deutungen. Als allgemein anerkannt gilt die Ableitung vom altjapanischen Wort Ainu für Feuer. Auch seine Geschichte ist bemerkenswert. Er soll bis ins 14. Jahrhundert ein besonders aktiver Vulkan gewesen sein, ist aber seit seinem letzten Ausbruch im Jahre 1707 vollkommen ruhig. Es sind nicht weniger als achtzehn verschiedene Eruptionen urkundlich überliefert. Die schlimmsten ereigneten sich in den Jahren 800, 864 und 1707. Beim letzten Ausbruch wurde nach zeitgenössischem Bericht der Ort Edo, etwa 65 km vom heutigen Tokio, mit einer Aschenschicht von 15 cm bedeckt.
Nördlich des Fujiyama liegen mehrere Seen. Von hier aus und vom Pazifik her bietet er den imposantesten Anblick. Ein Ochudo, ein Pfad, führt auf etwa halber Höhe rund um den Berg. Grundsätzlich ist er wohl von allen Seiten her zugänglich, aber es gibt doch fünf gebräuchliche Routen. Jede ist in zehn Etappen unterteilt, und deren Endpunkte sind als lchi-gome, Nigome, als erste, zweite Station usw., bezeichnet. Von den fünf Aufstiegsrouten sind der Yoshida- und der Funatsu-weg die leichtesten. Der Gotembaweg bietet den angenehmsten Abstieg. Yoshida, Shogi und Fu-natsu gehen vom Fünf-Seen-Gebiet aus. Eine 27 Kilometer lange Fahrstrasse vom Kawaguchisee bis zur fünften Station ist gegenwärtig im Bau und soll den Anmarsch stark verkürzen und erleichtern.
Die zehn Teilstrecken beginnen bei der Waldgrenze und sind von sehr unterschiedlicher Länge. Ich brach am Vormittag vom Kawaguchisee auf und erreichte am Nachmittag die Waldgrenze. Für jede Teilstrecke brauchte ich durchschnittlich eine Stunde Steigzeit. An diesem ersten Tag begegneten mir etwa fünfzig andere Bergsteiger. Die meisten waren exotisch gekleidet, mit farbenfrohen Krawatten und Halstüchern. Sie trugen breitrandige Hüte zum Schutz vor der Sonne, ähnlich wie die Mexikaner, und waren mit währschaften Alpenstöcken ausgerüstet wie weiland De Saussure mit seiner Partie bei der Besteigung des Mont Blanc.
Zwischen acht und neun Uhr abends, bevor ich die siebente Station erreichte, stieg im Südosten der Mond prächtig, wie ich ihn nie in meinem Leben gesehen hatte, aus dem Ozean auf, rotgelb wie eine Orange. Da wurde mir so richtig die exotische Lage meines Kletterzieles bewusst. Ich erinnerte mich an einen Film, den ich einmal gesehen hatte: The Teahouse of the August Moon. Es war ein unvergesslicher Anblick, ein Farbenglanz von orientalischer und subtropischer Schönheit, wie wir ihn bei uns in den westlichen Ländern nicht kennen. Die Landschaft erschien in ungewöhnlicher Klarheit. Zu meinen Füssen lagen einige der Seen vom Fuji-Hakone-Izu Nationalpark. Es sind fünf im ganzen, alle von lieblichen Wäldern umgeben. Sie heissen, in der Reihenfolge von Ost nach West: Yamanaka, Kawaguchi, Saiko ( auch Nishi-no-umi genannt ), Shoji und Matosu-See. Weit im Südwesten, 50 Kilometer entfernt, war die Küstenlinie Japans zu erkennen und dahinter das Blau des Stillen Ozeans.
Auch die Nacht in der Schutzhütte auf der siebenten Station an den steilen Hängen des Fujiyama war ein Erlebnis. Ich war hier der einzige Bergsteiger aus dem Westen unter einem Dutzend Japanern. Sie sassen alle um mächtige Teekessel herum, und aus der Art, wie sie mich anschauten, merkte ich wohl, wie fremd ich auf sie wirkte. Trotzdem brach ihre natürliche Freundlichkeit und Neugier das Eis. Ich musste meine Bergschuhe ausziehen - welche Erleichterungund Schlüpfer überziehen, die drei Nummern zu klein waren. Und ich musste meine langen Beine unter einen niedrigen japanischen Tisch zwängen und vegetarische Dinge kosten, die, ach! so ganz anders schmeckten, als ich 's von zu Hause gewohnt war. Jemand spielte auf dem Banjo, welchem - als Warnung sei 's gesagt - weniger musikalische Bedeutung zukommt, als dass es Lärm macht. Und wieder stand mir die Vorsehung in Gestalt des kleinen Büchleins Parlez-vous Japanese? helfend zur Seite. Es wirkte Wunder, gestattete mir, auf 2750 m über Meer Freunde zu gewinnen und verhalf mir zu Nudeln und Tee. Wenn es mir auf dem Fujiyama nicht geradezu das Leben zu retten hatte, so bewahrte es mich doch vor dem Isoliertsein inmitten fremder Menschen - und vor Verdauungsstörungen. Unter den freundlichen japanischen Bergsteigern war auch eine reizende Frau aus Osaka, die mir mit ihren paar Worten Englisch nach Möglichkeit beistand. Sie lehrte mich das Kunststück, mit den japanischen Essstäbchen Nudeln zu essen. Mit italienischen Spaghetti fertig zu werden ist nichts dagegen! Indessen hörte ich aus dem Essraum nebenan undefinierbare, eigentümlich zischende Laute und brauchte lange, bis mir klar wurde, dass es das schlürfende Begleitgeräusch der Essenden war, eine japanische Form, Zufriedenheit und Behagen auszudrücken.
Die Besteigung des Fujiyama ist keine besondere Bergsteigerleistung, obwohl der Aufstieg und besonders der endlos lange Abstieg über lose Lava recht anstrengend sein kann. Am nächstenTag, als ich die letzten Strecken bis zum Gipfel erstieg, wirbelten verheerende Gipfelwinde Wolken von Lavastaub, Sand und Asche auf. Um 3 Uhr in der Frühe hatte mich der Wecker aus dem Schlaf gerissen. Anderthalb Stunden später dämmerte es im Osten, und ich genoss und photographierte das wieder unerhört farbige Schauspiel eines japanischen Sonnenaufgangs. Bis um 6.30 Uhr war ich bis nahe unter den Kraterrand des Gipfels vorgedrungen. Der Sturmwind war so heftig, wie ich ihn nur schon einmal, im September 1938, bei einem Hurrican an der Ostküste Amerikas erlebt hatte.Viele Touristen kehrten um, auch solche, die den Berg schon einmal bestiegen hatten. Ich aber liess den Mut nicht sinken. 20000 Kilometer weit war ich gereist, um diesen berühmten Gipfel zu erreichenUnd zwei Stunden, nachdem ich den Nordrand des Kraters erreicht hatte, hellte das Wetter auf und bot eine Rundsicht bis Tokio im Osten, bis zu den Japanischen Alpen im Nordwesten, zum Pazifischen Ozean, zur Halbinsel Izu und zu Japans Küstenlinie im Süden. Und unter uns am Fuss des Berges erblickten wir, zwischen Wälder gebettet, zahlreiche Seen und Dörfer. Der Fujiyama ist ein ungeheurer Lavakegel, und seine mit Müll übersäten Aufstiegswege verraten einen weniger hoch entwickelten Alpinismus, als wir ihn im Westen kennen. Doch der Gipfel mit seinem Krater ist nicht ohne Reiz. Die Windstärke aber betrug hier schätzungsweise über 25 Kilometer. Als ich rings um den Kraterrand kletterte, riskierte ich, vom Grat weggefegt zu werden. An einigen Stellen waren schützende Steinwälle, aber andere waren so ausgesetzt, dass ich mich kriechend mit den Händen am Boden festhalten musste. Der Krater wies mehrere Eisfelder auf, und in der pechschwarzen Lava waren tiefe Risse. Ich beobachtete auch vielfarbige Konglomerate von vulkanischem Gestein, obschon keine Anzeichen einer kürzlichen Eruption vorhanden waren.
Der Schrein auf dem Gipfel brachte mich zum erstenmal in Kontakt mit der Shintoreligion. Von den mehreren Dutzend Bergsteigern, die ich auf dem Gipfel traf, näherten sich aber nur wenige dem Schrein, wo ein junger Priester bereitstand. Die meisten hatten offensichtlich genug mit sich selbst zu tun, um nicht vom Winde fortgeblasen zu werden. In einer der Schutzhütten beim Krater machte ich nachher die Bekanntschaft von Bergsteigern, die den Fujiyama jedes Jahr besteigen. Sie machten den Eindruck wirklicher Berg- und Naturfreunde.
Nach stundenlangem Abstieg über Lavafelder, abseits der begangenen Fährten, erreichte ich am Nachmittag sonnverbrannt und von der Hitze erschöpft die fünfte Station. Meine Augen brannten, denn der Gipfelwind hatte mich meiner beiden Sonnenbrillen beraubt. Aber ich war glücklich. Es war mein lebenslanger Traum gewesen, den Fujiyama zu besteigen. Nun hatte ich mein Ziel erreicht, kaum zwei Tage nach meiner Ankunft in Tokio. Es blieben mir noch zehn weitere Tage, um Japan kennenzulernen, dieses farbenreiche, poetische Inselland, weit ab von unserer westlichen Zivilisation, aber voll von Schätzen einer alten Kultur.
Nie werde ich die unerhörte Liebenswürdigkeit und das Entgegenkommen der japanischen Bergsteiger vergessen, beim Aufstieg, in den Schutzhütten und auf dem Gipfel, wo ich mit kleinen Souvenirs - darunter auch eine « Fuji-Flagge » - überschüttet wurde.
Und einen Monat später, als ich nach meiner Reise um die Welt nach Nordwestamerika zurückkehrte, fand ich einen Brief vor mit zwei Photographien, die ein Japaner aus Kyoto, der Kultur-kapitale Japans, auf dem Gipfel aufgenommen hatte. In dem Briefe hiess es: « Sie standen auf dem Gipfel des M. Fuji den ganzen Tag, und Sie haben auch dem Mondaufgang beigewohnt. Die meisten, die den Fuji besteigen, betrachten nur den Sonnenaufgang oder den Mondaufgang. Sie taten beides. Wir nennen Sie „ Yamaotoko ". Das heisst: einer, der die Berge wirklich liebt. » Aus dem Englischen: F. Oe.