Edward Whymper und die Alpentiere
VON MAX OECHSLIN
Wenn man heute von Edward Whymper spricht, so denkt man vorab an den Engländer, der Mitte Juli 1865 mit seinen Kameraden erstmals das Matterhorn bestieg. Immer weniger erinnert man sich daran, wie er, kaum zwanzigjährig, Anno 1860 von einem Londoner Buchhändler aufgefordert wurde « Skizzen der grossen Alpengipfel zu liefern », wie er im Vorwort zu seinem « Scrambles Amongst the Alps in the Years 1860-1869 » schreibt. ( Das Buch wurde von Friedrich Steger ins Deutsche übertragen und erschien 1872 erstmals in Braunschweig unter dem Titel: « Berg- und Gletscherfahrten in den Alpen, 1860-1869 ». Es wurde von Ad. Joanne, 1873, auch ins Französische übersetzt: « Escalades dans les Alpes », Genf; letzte, 3.Auflage 1922 ). Whymper vermerkt, « er habe damals eben England verlassen wollen, um eine Reise auf den Kontinent zu machen » und habe « mit dem Bergsteigen bloss aus Büchern Bekanntschaft gemacht und noch nie ein Hochgebirge gesehen, geschweige denn betreten. Unter den Gipfeln, die ich zeichnen sollte, befand sich der Mont Pelvoux im Dauphiné! Die Skizzen, die ich von ihm entwerfen sollte, waren dazu bestimmt, den Triumph einiger Engländer zu verherrlichen, welche ihn besteigen wollten. Sie kamen, sahen und siegten - nicht. Ganz zufällig traf ich einen liebenswürdigen Franzosen, welcher diese Gesellschaft begleitet hatte, und wurde von ihm aufgefordert, mit ihm den Versuch zu wiederholen. Im folgenden Jahr tat ich das mit meinem Freunde Macdonald und wir siegten. Dies war der Anfang meiner Berg- und Gletscherfahrten in den Alpen ». Was dann Whymper weiter schreibt, sagt uns heute, dass er nicht nur aus Abenteuerlust sein Bergsteigen ausübte, wenn dies im Ganzen auch ein gehöriges Pfund ausgemacht haben mag, sondern auch Fahrten unternahm, um seinen Wissensdurst zu stillen und die Schönheiten der Alpentäler zu sehen und in Skizzen festzuhalten. Whymper zog zweifellos als Künstler - und vielleicht sogar als eine Art Träumer ins Hochgebirge. Und so konnte und durfte er im erwähnten Vorwort auch schreiben: « Die Ersteigung des Mont Pelvoux war trotz einiger Unannehmlichkeiten ein wahrer Genuss. Die Bergluft wirkte nicht als Brechmittel, die Luft sah nicht schwarz, sondern blau aus, und ich fühlte keine Versuchung, mich in Abgründe zu stürzen », womit er wohl sagen will, dass er den Weg zu finden suchte, der am besten zur Gipfelhöhe führt. « Ich kam nun in Eifer, meine Erfahrungen zu erweitern, und ging zum Matterhorn. Zum Mont Pelvoux zog mich der geheimnisvolle Antrieb, der den Menschen treibt, das Unbekannte zu ergründen... Das Matterhorn zog mich einfach durch seine Grossartigkeit an. Es galt für den schwierigsten aller Berge und wurde selbst von Leuten, die es hätten besser wissen sollen, für durchaus unersteiglich erklärt. Eine Niederlage nach der andern reizte mich bloss zu neuen Anstrengungen und Jahr auf Jahr kehrte ich zum Matterhorn zurück, um entweder einen Pfad zu seinem Gipfel zu finden, oder zu beweisen, dass es wirklich unersteiglich sei. » - Whymper stieg als Zeichner zu den Bergen. Das bekennt er zu Beginn seines ersten Buches, indem er schreibt: « Diese Wanderungen in den Alpen waren Sonntagserholungen und müssen als solche beurteilt werden. Ich habe sie als Sport geschildert, und das sind sie in der Hauptsache gewesen. Von dem Genuss, den sie mir verschafft haben, fürchte ich, dass er sich auf andere nicht übertragen lässt. Den besten Federn ist es nie möglich gewesen, einen richtigen Begriff von der Grossartigkeit der Alpen zu geben. Die ausführlichsten Beschreibungen der besten Schriftsteller erwecken bloss Eindrücke, welche vollständig falsch sind. Der Leser macht sich Bilder, die vielleicht prächtig sind, aber hinter der Wirklichkeit weit zurückstehen. Ich bin deshalb mit Beschreibungen sparsam, mit Illustrationen aber freigebig gewesen, weil ich hoffe, dass der Pinsel vielleicht Erfolg hat, wo die Feder ohnmächtig ist. » - Wir folgen bei diesen Textangaben der ersten, 1872 erschienenen Übersetzung des Buches, von Friedrich Steger, weil manche Ausdrucks- und Schreibweise noch den Hauch widerspiegelt, der vor einem Jahrhundert das Bergsteigen umgab.
Wir kennen noch einige ältere Bergkameraden, welche, wenn sie zu Berg gehen, immer den Skiz-zenblock und den Bleistift mit sich tragen, um da und dort ein prägnantes Bild zu skizzieren, und um ganz besonders in längerer, geruhsamer Gipfelrast die grossen Konturen der Gipfelschau festzuhalten und in diesen Teilansichten oder Panoramen ganz besondere Dinge mit auch besondern Strichen zu markieren. Heute ist - leider - so ausschliesslich die Kamera an die Stelle des Skizzen-blocks getreten, wobei sich da allerdings nicht weniger erkennen lässt, ob der Photograph oder Bilderknipser ein Künstler ist oder keiner ist. Und so gibt es auch in der gegenwärtigen Mode der käuflichen Bergbilderbücher gar viele, die man zur Hand nimmt, durchblättert und zur Seite legt, um sie liegen zu lassen oder bei irgend einer Gelegenheit, sei es eine Preisverteilung oder eine Tombola, weiterzugeben, weil ihnen eben der besondere Hauch fehlt, den der Künstler solchen Bildern zu geben vermag. Beim Bild, welcher Aufnahmeart es auch entstammen möge, muss eben genau dasselbe mitschwingen, wie im beschreibenden Wort. Fehlt diesem das Singen und Raunen, das feine Schildern und Erzählen, so wirkt es ebenso leer, wie ein Photobild, das lediglich den « momentanen Berg » zeigt, aber bar ist des Fluidums, den der Bildner in die Aufnahme legen können muss.
Edward Whymper gibt in seinem erwähnten Bergbuch wohl vorab Schilderungen, die den Vorbereitungen und der Durchführung der Besteigungen gewidmet sind, den Niederlagen und Erfolgen, das Warum oft genug ganz unverblümt aussprechend. Aber er flickt immer wieder, und das finden wir so wertvoll, allerlei Begebenheiten und Beobachtungen ein, was wohl der damaligen Zeit entspricht, in der solche Bergfahrten im Sinn und Geist einer Expedition und Entdeckungsfahrt unternommen wurden. Wie viele Expeditionen werden aber heute selbst in die fernsten Weltbergmassive unternommen, wobei fast durchwegs an das Bergtechnische gedacht wird und gar wenig « so nebenbei » von den Dingen geschöpft wird, die mit dem Bergsteigen wenig zu tun haben, für deren Entdeckung das Bergsteigen aber Mittel zum Zweck sein sollte.
So wollen wir Whympers Schilderungen der Bergfahrten, die er vor einem Jahrhundert ausser der Matterhornbesteigung durchgeführt hat, nach seinen Aufzeichnungen über Tiere durchstöbern, um damit zu zeigen, wie gerade Whymper, als ein « Extremer seiner Zeit », noch auf andere Dinge achtete. Da zeigt sich wohl der Künstler WhymperAls er im Aostatal weilte, hat er über den Steinbock folgendes niedergeschrieben ( 16. Kapitel, Das Aosta-Thal und die Grandes Jorasses ):
« Das Aosta-Thal ist wegen seiner Steinböcke berühmt und wegen seiner Cretins berüchtigt. Der Steinbock ( Bouquetin, Ibex ) war früher in den ganzen Alpen verbreitet. Jetzt beschränkt er sich hauptsächlich, vielleicht sogar einzig und allein auf einen kleinen Bezirk im Süden des Aosta-Thals, und man hat in der letzten Zeit häufig die Befürchtung ausgesprochen, dass er rasch verschwinden werde...
Die Furcht, dass der Steinbock bald verschwinden werde, ist eine voreilige. Eine Zählung dieser Thiere ist allerdings schwer, denn obgleich sie ihre bestimmten Wohnungen haben, so findet man sie äusserst selten zu Hause. Es lässt sich aber mit Grund annehmen, dass noch mindestens sechshundert Steinböcke auf den Bergen in der Nähe der Thäler von Grisanche, Rhèmes, Savranche und Cogne umherstreifen.
Es wäre schade, wenn es sich anders verhielte. Als Überreste eines aussterbenden Geschlechts erregen die Steinböcke die Theilnahme aller und kein Bergsteiger oder Turner kann ohne Kummer an den Untergang eines Thieres denken, das so edle Eigenschaften besitzt, wenige Monate nach seiner Geburt einem Mann mit einem Satz über den Kopf springt, ohne einen Anlauf zu nehmen, sein ganzes Leben in einem fortwährenden Kampfe um die Existenz verbringt, das feinste Gefühl für die Schönheiten der Natur besitzt, Schmerzen dergestalt verachtet, „ dass es Stunden lang mitten im kältesten Sturm wie eine Bildsäule dasteht, bis seine Ohrenspitzen erfroren sind, und das, wenn seine letzte Stunde naht, auf die höchsten Berggipfel klettert, seine Hörner an einem Felsen anhakt und sich so lange um sich selbst dreht, bis seine Hörner abbrechen und es herunterfällt und stirbtSelbst Tschudi ( dem dieser Hinweis entnommen ist, aus: „ Thierleben in den Alpen " und von dem die neuere Forschung über das Leben der Steinböcke mancherlei widerlegt hat ) nennt diese Geschichte wunderbar, und mit Recht. Ich verweigere ihr jeden Glauben - der Steinbock ist ein zu kluges Thier, um solche Dummheiten zu begehen.
Fünfundvierzig Wildhüter, unter den besten Jägern des Bezirks ausgewählt, bewachen seine Heimath. Ihre Aufgabe ist keine leichte, obgleich sie natürlich mit allen den Leuten bekannt sind, denen sich eine Wilddieberei zutrauen lässt. Wären diese Wächter nicht, so würde der Steinbock in den Alpen sehr bald verschwunden sein. Die Leidenschaft, irgend etwas zu tödten, und der gegenwärtig hohe Wert des Thieres selbst würden seine Ausrottung bald herbeiführen. Denn schon um seines Fleisches willen ist der Steinbock begehrenswerth. Das lebende Gewicht eines ausgewachsenen Thieres beträgt 160 bis 200 Pfund, während die Haut und die Hörner zweihundert deutsche Mark und besonders schöne Exemplare noch mehr werth sind.
Trotz der Wildhüter und trotz der schweren Strafen, die auf das Erlegen eines Steinbocks gesetzt sind, wird fortwährend gewilddiebt. Da ich das wusste, so fragte ich bei meinem letzten Besuche in Aosta, ob Häute oder Hörner zu verkaufen seien, und wurde zehn Minuten später in eine Bodenkammer geführt, wo man die Überreste eines herrlichen Thieres versteckt hatte. Es war ein prachtvolles Männchen und muthmasslich mehr als zwanzig Jahre alt, da seine schwerfälligen Hörner zweiundzwanzig mehr oder weniger stark hervortretende knorrige Ringe hatten. Das Fell mass von der Nase bis zur Schwanzspitze 1 Meter 69 Centimeter ( wahrscheinlich hatte sich das Fell beim Abhäuten gestreckt Anmerkung ) und vom Bauch bis zum Rückgrat vielleicht 77 Centimeter. Einen so grossen Steinbock trifft man selten und der Eigentümer dieses Felles würde wohl mit mehrjähriger Gefängnisstrafe bedroht worden sein, wenn man von seinem Besitz erfahren hätte.
Die Jagd des Steinbocks gilt mit Recht für ein königliches Vergnügen und König Victor Emanuel, der sie sich vorbehalten hat, ist ein zu guter Jäger, um ein Thier, welches eine Zierde seiner Besitzungen ist, schonungslos zu verfolgen. Im Jahre 1869 fielen seiner Büchse siebzehn zum Opfer, die er auf hundert Schritt und aus weiterer Entfernung schoss. Im Jahre vorher hatte der König dem italienischen Alpenclub ein schönes Exemplar zum Geschenk gemacht. Das Fleisch verzehrten die Mitglieder, das Fell liessen sie ausstopfen und stellten es zu Aosta in ihrem Zimmer auf. Kenner behaupten, dass es schlecht ausgestopft, in der Brust zu schmal und hinten zu breit sei. Mir erschien das Thier als wohlgebaut, wenn es auch für schwere Arbeit besser als für Beweise von Gelenkigkeit geeignet sei. ( Nach diesem Exemplar machte Whymper eine Zeichnung ).
Das Thier ist ein ausgewachsenes, etwa zwölf Jahre altes Männchen und misst vom Boden bis zum Ansatz seiner Hörner 3 Fuss 3l/2 Zoll. Seine höchste Länge beträgt 4 Fuss 3 Zoll. Seine Hörner haben elf stark hervortretende und zwei schwach angedeutete Ringe und sind ( rund um die Krümmung gemessen ) 54y2 Centimeter lang. Die Hörner des vorhin erwähnten Exemplars, die ich auf die Art mass, hatten bloss eine Länge von 53 Y2 Centimeter, obgleich sie fast mit der doppelten Zahl von Ringen geschmückt waren, woraus sich auf ein doppeltes Alter des Thieres schliessen liess. ( Anmerkung: King sagt in seinem Werk „ Die italienischen Alpenthäler ": „ In den paar Hörnern, die ich besitze und die zwei Fuss lang sind, befinden sich acht dieser Jahrringe ". Daraus würde sich also ergeben - wenn die Ringe Jahresringe sind -, dass die höchste Hornlänge in einem verhältnismässig frühen Alter erreicht wird. ) Die Wildhüter und Jäger des Bezirks behaupten, dass die Ringe auf den Hörnern des Steinbocks dessen Alter angeben ( indem jeder für ein Jahr zählt ), und dass die halb entwickelten Ringe, die zuweilen nur ganz schwach angedeutet sind, beweisen, dass das Thier im Winter Hunger gelitten hat. Die Naturforscher bezweifeln diese Angabe, aber da sie keine besseren Gründe gegen die Behauptung anführen können, als die Eingebornen für diese haben ( indem der eine Theil sagt, das ist so, und der andere Theil sagt, das ist nicht so ), so ist uns vielleicht gestattet, die Frage als eine offene zu betrachten. Ich kann bloss sagen, dass der Steinbock sehr harte Zeiten haben muss, wenn die schwach entwickelten Ringe wirklich Hungerjahre andeuten, denn bei den meisten Hörnern, die ich gesehen habe, waren die kleineren Ringe sehr zahlreich und traten zuweilen häufiger auf als die starken. Der Oberbeamte der Wildhüter, der nach dem eben erwähnten Anzeichen urtheilte, sagte mir, dass der Steinbock nicht selten dreissig Jahre alt wird und es zuweilen zu vierzig und fünfundvierzig bringt. Wie er ferner erzählte, hat das Thier keine Vorliebe für steilen Schnee und steigt eine Schneerinne im Zickzack hinunter, indem es von einer Seite auf die andere springt und dabei Sätze von fünfzig Fuss Weite macht. Herr Tairraz ( Bergführer von Albert Smith bei dessen Ersteigung des Mont Blanc ), der wackere Wirth des Hotel du Mont Blanc in Aosta, der den Steinbock ganz in der Nähe beobachtet hat, theilte mir mit, dass derselbe in einem Alter von vier bis fünf Monaten einen neun bis zehn Fuss hohen Felsblock mit einem einzigen Satze hinaufspringt. Möge der Steinbock lange leben und möge dessen Jagd dem Alpenkönig Victor Emanuel noch lange die Gesundheit erhalten... » So hat Edward Whymper eigene Beobachtungen, Gelesenes und ihm Erzähltes notiert. Die jüngsten Beobachtungen und die Forschung über das Leben des Steinbockes haben zu verschiedenen anders lautenden Resultaten geführt. Aber, dass man aus dem Leben dieses ausgeprägten Alpentieres wenig kennt, zeigt sich gerade im Bemühen unserer « Schweizerischen Stiftung für alpine Forschungen » ( Zürich ), die 1960 eine « Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung des Bergwildes » erkor, welche als erstes Ziel die Untersuchung über den Steinbock an die Hand genommen hat, die bis Ende 1963 bereits sechs Faszikel ihrer Publikation « Capra ibex » ( und eine Beilage über « 50 Jahre Neuansiedlung des Steinwildes in der Schweiz » ) herausgegeben hat.
Über die Gemse berichtet Whymper lediglich vom Fund eines toten Tieres, den er mit Bergführer Franz Biener im Sommer 1963 machte, als er über die Felsen des Stockje hinaufstieg. Sie trafen ein verendetes Tier, das wohl auf einer nassen Felsplatte ausgeglitten, über darunterliegendes Geröll gekollert und mit den Hörnern an einer Felsleiste hängen geblieben war.
« Das Geröll, das am Felsen weiter hinunterging, hatte die arme Gemse mit den Hinterfüssen gerade berühren können und hatte daran gestrampelt und gekratzt, bis sie nichts mehr zu berühren vermochte. Sie war offenbar verhungert und hing noch in der Luft, mit heraushängender Zunge und zurückgeworfenem Kopf, als ob sie den Himmel um Hülfe anflehen wollte ».
Über die Gletscher hat Whymper eine grosse Zahl von Beobachtungen und Überlegungen niedergeschrieben und 1870 darüber einen selbständigen Aufsatz verfasst ( The veined structure of glaciers ), gibt aber auch in seinem Bergfahrtenbuch über viele Druckseiten hin darüberAufschluss. Wenn man dabei im Inhaltsverzeichnis auf den Hinweis « Über Flöhe » stösst, so ist man geneigt, an Gletscherflöhe zu denken, den schwarzen, kaum 1 mm langen Gletscherfloh, den Desor und Agassiz auf Gletschern entdeckten und beschrieben und den die Zoologen « Isotoma saltans A » oder gar « Desoria glacialis » nennen. Ihre spärliche Nahrung scheinen sie in den Kadavern von durch Stürme aus den Tälern in die grossen Höhen getragenen Schmetterlingen, Fliegen und Insekten aller Art zu finden, die auf Firn- und Gletscheroberflächen gefrieren und verenden. Whymper schildert aber nicht den Gletscherfloh, sondern berichtet, als er mit seinen Kameraden und Führern im Pel-voux-Massiv weilte und in einer Felshöhle übernachtete, von den gemeinen menschlichen Flöhen.
« In unserer Höhle schmausten wir und verrichteten die nothwendigen Abwaschungen. Die Körper der Einheimischen werden von gelenken Geschöpfen bewohnt, deren Geschwindigkeit blos durch ihre Menge und ihre Gefrässigkeit übertroffen wird. Es ist gefährlich, sich diesen Leuten zu nähern, und man muss sich stets auf ihrer Wetterseite halten. Trotz aller unserer Vorsichtsmassregeln wurden mein unglücklicher Gefährte und ich fast lebendig aufgefressen. Nur auf kurze Zeit konnten wir von Schmerzen frei zu sein hoffen, denn das Innere der Gasthöfe ist wie das Äussere der Eingebornen und wimmelt von dieser Form des thierischen Lebens.
Man erzählt, dass die Quälgeister einmal in Masse über einen arglosen Reisenden hergefallen wären und ihn aus dem Bett gezogen hätten. Verbürgen will ich es nicht, und über diesen unangenehmen Gegenstand nur noch ein Wort sagen. Als wir von unserer Waschung zurückkehrten, waren die beiden Franzosen in Unterhaltung begriffen. „ Was Flöhe betrifft ", sagte der alte Semiond, „ so bin ich nicht besser als andere Leute: ich habe welche ". Dieses Mal hatte er die Wahrheit gesprochen. » Eine besonders artige Beschreibung gibt uns Edward Whymper über die Walliser-Maultiere, die uns an den um die Jahrhundertwende im Rhonetal wirkenden Kantonsingenieur Henri de Preux erinnern lässt, der, es sind schon bald sechs Jahrzehnte seither, anlässlich einer Schulexkur-sion auf die etwas sonderliche Frage eines Studenten, mit welchem Instrument er bei Wildbach- und Lawinenverbauungen die Wege abstecke, mit fröhlichernster Miene erklärte: « Das mache ich mit dem lebendigen Gefällsmesser: dem Mulus, wie wir im Abiturium sagten, aber nicht einem Zweibeinigen, sondern einem regelrechten Walliser Maulesel plus einigen Sack Zement. Und das so: Voran das Tier mit einem Sack beladen, hinten nach der Treiber und zwei Mann mit Markier-pfählen und Schlegel. Ein Hüst - und der Maulesel steigt mit leichter Last so cirka in der Steigung von 20%, fünfzig Schritte, es wird ein Pfahl geschlagen. Und so weiter. Soll die Steigung 15 % sein, so hängt man an den Sattel zwei Säcke, auf jede Seite einen. Und will man nur mit 10 % trassieren, dann legt man noch einen dritten Sack oben drauf. Das sind immerhin 150 kg, mit denen man gemächlicher höhersteigt. » - Der Frager frug nicht mehr weiter; er hatte verstanden!
Aber der « Mule » ist weise!
Das liest man auch aus Whympers Schilderung, die er fast am Anfang seines Buches dem Leser bietet, gerade so, als wolle er damit seinen nachfolgenden Schilderungen über Felsen und Gletscher und Firne einen besondern Akzent voransetzen. Als wolle er dem Leser sagen, wenn er zu Berg gehe, dann solle er nicht nur an das Gipfelerreichen denken und den ausgefallensten Weg durch Flanken und über Grate suchen, sondern über Wege, die, selbst längs Steilabstürzen und mitten durch Wände, immerhin noch so breit sind, dass ein Esel sie zu gehen vermöge.
« Auf dem steilen Weg über die Gemmi konnte ich die Gewohnheiten und Manieren des schweizerischen Maulesels beobachten. Vielleicht ist es nicht Rache für eine durch Menschenalter fortgesetzte schlechte Behandlung, die den Esel veranlasst, die Beine seines Reiters an Zäumen oder Mauern zu reiben und an schlimmen Stellen, namentlich beim Umbiegen um Ecken und am Rande von Abgründen so zu thun, als ob er strauchle; aber seine üble Gewohnheit, stets an der Aussenseite des Wegs zu gehen, ist unbedingt eine Folge seiner Verbindung mit dem Menschen. Die meisten Maulesel haben während eines beträchtlichen Theiles des Jahres Holz aus den Bergen in die Thäler zu tragen. Die Scheite, in die man das Holz zerlegt, treten auf beiden Seiten eine Strecke weit vor, und der Maulesel geht deshalb auf jedem Weg, der auf der einen Seite einen Abgrund und auf der andern eine Felswand hat, so nahe als möglich an dem erstem hin, um nicht mit seiner Ladung an die Felsen anzustossen. Trägt er Menschen, so verfährt er eben so, und selbst wenn für die armen Thiere einmal die gute Zeit käme, welche sie des Lasttragens entbände, würden sie aus alter Gewohnheit am Abgrunde zu gehen fortfahren. Diese Gewohnheit veranlasst häufig Scenen: zwei Maulesel begegnen sich, jeder will an der Aussenseite gehen und keiner giebt nach. Dann muss man ihnen mit Beihülfe ihres Schwanzes recht zureden, ehe die Schwierigkeit sich ausgleicht. » Whymper erzählt dies vom schweizerischen Maulesel. Wir entsinnen uns aber, dass wir anlässlich des Ersten Weltkrieges mit unserer Kompagnie im Centovalli im Gebiet von Palagnedra-Borgnone eingepfercht waren, im wahren Sinne des Wortes, da wir zumeist in ausgeräumten und ausgemi- steten, aber mit sauberem Stroh ausgelegten Ställen Quartier bezogen, auch zwei Maulesel zugeteilt hatten. Woher, ist uns nicht mehr bekannt. Sie scheinen « von Privat » zugestellt geworden zu sein, weshalb uns der Bauer und Wirt der « Osteria Elvetica » auch betonte, es seien zuchtechte « Valdostaner » von Pont St-Martin, also italienische Maulesel, die sich bald genug ebenso gescheit wie die schweizerischen Maulesel im Wallis zeigten. Davon nur ein Musterehen. Wir hatten im Alpweiler Moneto ob Palagnedra, wo leider die kleine Kapelle dem Zerfall nahe ist - eine Gruppe untergebracht, zur Sicherung der vom Gridone und Leone durch die felsige Nordflanke steilabfallenden Couloirs, durch welche von den Rocce del Gridone weit mehr Felstrümmer niederprasselten als Schmuggler den Weg suchten. Nun, diese Eidgenossen mussten mit Nahrung und Tranksame so versorgt werden, wie die Alten Eidgenossen, welche « noch einen Trunk hielten, eh'sie gingen ». Bis zur nun nahezu zweihundertjährigen S.Michele-Kirche in Palagnedra konnten die Waren per Wagen geführt werden, wo sie dann von den Soldaten auf Armee-Räfen, die bekanntlich schon leer ein genügendes Gewicht besitzen, oder eben mit diesen Maultieren weiter befördert wurden, zumeist schon ab der Talstrasse, feinsäuberlich vor der « Osteria Elvetica » gebastet. Eines der Tiere hatte wohl zuvor schon manchen Tramp zur Alp und von dieser zurück getan und wusste, dass vor besagter Kapelle ein kleines Wiesengeviert besteht, wie sie oft vor kleinen Kapellen zu treffen sind. Dies hat wohl seinen Grund auch darin: kommen wenig Gläubige zur Predigt, so haben alle in den Bänken Platz, kommen viele, so lassen die Männer den Frauen gerne den Vortritt und hören vor der Türe, eben auf diesem Wiesenplatz, zu. Dieser Platz war aber auch der Maulesel-Rast- und Warteplatz, auf dem sie stehen konnten und warten, denn kein Vierbeiner versteht es so gut, still zu stehen und zu warten, wie ein Maulesel, vor sich hinglotzend, als habe er die gesamte Philosophie des Lebens neu durchzudenken. Oder dann konnten die Tiere sich auf diesem Platz niederlegen und sich geniesserisch rollen. Und dass dies besonders der eine unserer Maulesel gerne tat, erlebten wir, denn kaum hatte er jeweils den Halteplatz erreicht, so wartete er nicht auf das Abbasten, sondern fing allsogleich mit köstlich frohem Gewieher seine « Roullet » an, wie wir sein Tun tauften. Und das tat ein italienischer Maulesel, als wollte er uns sagen: wann es mir ums Wohlsein zu tun ist, bestimme ich, eure Gepäckladung hin oder her!
Und als wir dann ein Jahrzehnt später im arabischen Hügelland des Boucournins ( südlich von Tunis ) in den dortigen mühsam durchgeführten und unterhaltenen Aufforstungen sahen, wie arabische Maulesel als Tragtiere zur Verwendung kamen, erkannten wir auch deren Gescheitheit. Sie hatten, als wir dort waren, in grossen, über einen einfachen Sattel gehängten Kesseln Wasser zur Höhe zu tragen, da es notwendig war, durch 4 bis 8 Jahre die frisch ausgesetzten Pflanzen während der Trockenzeit zu bewässern. Soldaten mussten dies besorgen. Und da die Tretwege ziemlich steil angelegt waren, so hielten sich die Soldaten oft am Schwanz des Tieres, um so halb gezogen zu werden und leichter Schritt halten zu können. Dabei ergab sich hin und wieder, dass ein Maultier die für ihn seltene Bewegung ausführte: stand es an einem stotzigen Wegstück, dann bäumte es sich plötzlich hoch auf, stellte sich auf die Hinterbeine und begoss den Soldaten mit einem gehörigen Schuss Wasser. Sicher ein Zeichen, dass auch ein arabisches Maultier über eine Dosis Gescheitheit verfügt!
Ob nun Edward Whympers Mauleselbeobachtung zutrifft oder in ihrem Umfang etwas eingeschränkt werden muss, sie deutet doch die Intelligenz schweizerischer Maulesel an, liess uns Parallelen zu nachweisbar italienischen und arabischen Mules ziehen, und wird unzweifelhaft auch beim Leser Erinnerungen wecken, welche besagen, dass diese Vierbeiner ganz und gar nicht so dumm sind, wie sie die Menschen immer hinstellen wollen, zumal den kleineren Vorfahren der Kreuzung, den Esel. Und wie schon mancher Zweibeiner eine gehörige Eselei begangen hat, hat schon manch ein Esel etwas wirklich Gescheites getan. Man sehe sich diesbezüglich nur im Leben um.