Das Silvrettagebirge
Von J. Coaz.
Den 1. October 1864 hat der Schweizer Alpenclub in seiner Jahresversammlung zu Basel das Silvrettagebirge als offizielles Excursionsgebiet für das Jahr 1865 bezeichnet. Von dieser Zeit an wurde diesem Theil der rhätisehen Alpen eine Aufmerksamkeit zu Theil wie nie zuvor, und nur dem regnerischen Juli und August ist es zuzuschreiben, dass derselbe letztes Jahr nicht stärker besucht und gründlich erforscht wurde. Aus diesem Grunde erklärt es sich denn auch, dass die Jahresversammlung des Schweizer Alpenclubs zu Chur die Silvretta auch noch für dieses Jahr als offizielles Gebiet offen liess.
Und es verdient diese Berücksichtigung, denn es ver-
* ) Nach Pallioppi vom lateinischen Salubreta abstammend. Romanisch: Suvreta oder Savreta. Pfr. Catani schreibt in seinen Reisebeschreibungen: Salvreta.
einigt in sich eine Grossartigkeit der Natur und einen Reichthum von zum Theil höchst malerischen Gebirgsformen, wie solche in Bünden vielleicht nur.noch die südliche Bergeller Kette in höherem Masse aufzuweisen hat. Der P. Linard, der P. Buin, das Verstanklahorn, die Platten- und Seehörner suchen ihres Gleichen unter sämmtlichen Bergen, welche aus den Schweizer Alpen ihre Häupter gen Himmel erheben.
Die Silvretta, zwischen dem Prätigau, Unterengadin und Vorarlberg gelegen, gehört, wie gesagt, den rhätischen Alpen an und specieller derjenigen Kette, welche die linke Thalseite des Engadin aufwandet und sich in ihrer Hauptrichtung von Südwest nach Nordost von Gravasalvas oder P. Lingkin, am Malöja, bis in 's Tyrol hinaus erstreckt und gewöhnlich* Albulakette genannt wird, obwohl hiefür weder orographische noch geologische Gründe sprechen. In der Silvretta findet die Kette einen ihrer Knotenpunkte, sie bildet hier geognostisch eine Centralisasse.
Bei der Begrenzung dieses Gebietes zur Bestimmung des Rahmens der Excursionskarte fand man sich in einiger Verlegenheit. Im Nordwesten musste die Gruppe derSeehörner und Plattenspitz, die ersten Knoten in der Räticon - Kette, nothwendigerweise noch zur Silvretta gezogen werden, zu der sie auch geologisch gehören. Dadurch fiel auch der Nordabfall der Silvretta, der Hintergrund des vorarlbergischen Garneira- und Oomerthales, ferner das Kloster- und Ochsenthal und der Hintergrund des tyrolischen Piel- und Jamthales in die Karte. Oestlich hätte der tiefe Einschnitt des Fermunt-Passes eine orographische und für Val Tuoi auch eine geologische Grenze geliefert; um aber auch noch die Ortschaft Guarda in den Rahmen zu bringen, nahm man die östlichen Grenzen etwas weiter an. Im Süden war der Flüelapass massgebend, mit dem im Südosten auch noch die Dorfschaft Süs genommen wurde.
Man hätte hier vielleicht Val Torta, 2600 M. üb. d. M., als Grenze annehmen können, in dessen Nähe das Gewölbsystem der Silvretta in das Fächersystem der Scaletta übergeht, aber der Flüelapass mit nur 2405 M. bot orographisch eine bessere Grenze, und dies um so mehr, als das Jörithal nicht wohl von der Silvretta getrennt werden durfte, obwohl das Weisshorn für sich wieder einen kleinen Stock bildet mit einer eigenen Kette, derjenigen der Pischa, welche sich nordnordwestlich gegen Klosters erstreckt. ( Die krystallinischen Formationen, welche die Centralmasse der Silvretta bilden, gehen übrigens weit über die Flüela hinaus bis zur Kesch- und Albula - Gruppe. ) Damit war auch die westliche Grenze im Jöri - und Verainathal gegeben.
Der Zug des Hauptgrates der Silvretta vom Flüelapass und Weisshorn über das Verstanklahorn zum P. Buin und Fermuntpass bildet zugleich die Wasserscheide zwischen dem Rhein- und Inngebiet; die Firnkörnchen und Wasser-tröpflein, die auf der Gratschärfe mit entgegengesetzter Richtung von einander Abschied nehmen, trennen sich auf Nimmerwiedersehen, denn die Nordsee und das Schwarze Meer liegen gar weit auseinander.
Die Länge des Grates beträgt in der Projection nach beiliegendem Profil circa 20,000 M. oder stark 4 Stunden. Die Höhen der tiefsten Einsattelungen des Grates und seiner höchsten Bergspitzen über dem Meere und über den beiden nächsten Ortschaften, Klosters und Lavin, messen:
Coaz:
1. Pässe:
Absol.Höhe
Relative H
üb. d. M.
Klosters
Meter Meter
2405
1200
2650
1445
2470
1265
2659* )
1454
2783
1578
3026
1821
2806
1601
Lavin
Meter
Flüelapass.. Jöri-Flesspass Flesspass... Val Tortapass. Fuorcla Zadrell Silvrettapass. Fermuntpass.
975 1220 1040 1229 1353 1596 1376
2. Bergspitzen:
Meter
Meter
3089
1884
2935
1730
3211
2006
3302
, 2097
3207
2002
3264
2059
3327
2122
Meter
Weisshorn... Flesshorn... Plattenhorn.. Verstanklahorn Signalhorn.. Klein Buin.. P. Buin
1659 1505 1781
1872 1777 1834 1897
Die durchschnittliche mittlere Höhe des Hauptgrates berechnet sich nach den vorhandenen Höhenangaben auf circa 3000 M.üb. d.M., 1795 M. über Klosters und 1570 M. über La vin. Merkwürdig ist, dass die grösste Erhebung der ganzen Silvretta - Gebirgsgruppe, diejenige des P. Linard mit 3416 M., ziemlich weit ausserhalb des Hauptgrates liegt.
Von dieser Hauptwasserscheide zwischen Rhein- und Inngebiet und ihrer Fortsetzung längs der Grenze zwischen Tyrol und Vorarlberg und von der nordwestlichen Verzweigung nach dem Räticon gehen, nach allen Himmelsgegenden abfallend, 15 rauhe, meist steilwandige Sackthäler aus,
* ) Die Höhe wurde auf einem Hügel genommen, so dass für die eigentliche Passhöhe ein kleiner Abzug zu machen ist.
Silvrettagebirge.
in ihrem Hintergrunde und auch längs ihren Seitengräten oft mit Gletscher oder Verwitterungsgestein, in den tieferen Lagen aber mit den kräftigsten, feinsten Sommerweiden bedeckt, die sich ein zahlreicher Viehstand wohl schmecken lässt.
Neun dieser Thäler fallen dem Gebiete des Rheins zu, das Jörithal, dann das Garneira-, Cromer-, Kloster- und Ochsenthal ( im Vorarlberg ) in nördlicher, das Schlappiner, Sardasca-,* ) Vernelaund Süser Thal in ziemlich westlicher Richtung. Vier dieser Thäler vereinigen ihre Wasser bei der Alp Novai zur Landquart, die vier Vorarlberg-Thäler geben der Ill ihren Ursprung.
Gegen das Inngebiet senken sich vier Thäler: Fless, Saglians, Lavinuoz und Tuoiin südlicher und südöstlicher, das tyrolische Piel- und' Jamthal in nördlicher Richtung.
Im Gebiete der Silvretta finden sich keine grösseren Seen eingebettet, dagegen treffen wir häufig auf kleine Wasserbecken und zwar in sehr hohen Lagen. So die Jöri-Seen ( 2505 M. ), in denen der Jörigletscher seine Fussspitzen netzt, die Seen am Flesspass ( 2479 M. ), die Seen ob Sardasca, den Hühnersee ( 2451 M. ) und Andere. Fast alle liegen auf der weniger steilen, westlichen Abdachung der Silvretta, enthalten aber keine Beute für den Fischer, ebensowenig als die Bäche in Sardasca, Veraina und Schlappin.
* ) Nach Pallioppi- ursprünglich aus dem altkeltischen Sartasc romanisirt. Sardasca seil. Val. d.h. ein mit köstlichen Alpentriften versehenes Thal.
Vielleicht Diminutiv vom lateinischen ferina seil, vallis d.h. rauhes, von wilden Thieren bewohntes Thal.
) Nach Pallioppi vom hibern. Tuoi, lies: Toi. Locus adscenditus, quietus etc. Coas.
Mehr oder weniger in der Mitte genannter Thäler stehen die Alphütten, meist auf kleinen Verflachungen der Thalsohle. Im Ganzen fallen ca. 20 in unsere Karte. Die meisten besitzen eine Erhebung zwischen 1900 und 2200 M. üb. d. M.; die unteren Klosterser Alpen senken sich indess bis zu der seltenen Tiefe von 1407 M. ( Pardenu ).
Die Thäler, die vom Hauptgrat ausgehen, bestimmen begreiflicherweise auch die Verkehrsrichtung zwischen dem Prätigau, Engadin und Vorarlberg. Der sicherste, niedrigste und daher auch leichteste Pass vom Prätigau ins Engadin und der kürzeste nach Süs und dem darüber liegenden Theil des Thales ist der Flesspass mit 2479 M. üb. d. M. und einer Entfernung von Klosters bis nach Süs von 7 Wegstunden. ( Profilzeichnung in Beilage. ) Zur Verbindung mit Lavin und den unteren Gemeinden des Engadin dient der Pass Val Torta ( Saglians-Pass ) durch Saglians. Er führt in 63/4 Stunden von Klosters nach Lavin. Beide genannten Pässe sind gletscherfrei und ungefährlich, doch muss man sich bei neblichtem Wetter in Val Torta wohl vor Verirrung in Acht nehmen, denn es ist schon öfter vorgekommen, dass Reisende durch 's Süser Thal hinaufgingen, in Val Torta die Orientation verloren und in der festen Beglaubigung, durch Saglians hinunterzuziehen, endlich, zu ihrem nicht geringen Erstaunen und Aerger zugleich, wieder in die Alp Veraina gelangten.
Der Pass vom Jörithal nach Fless wird nur von Jägern und Hirten benutzt, die übrigen, Fuorcla Zadrell, Silvretta und Fermunt, führen alle über Gletscher. Von diesen ist der Silvrettapass der eigentliche Clubistenweg, denn er besitzt diejenigen vorzüglichen Punkte, welche die Aussicht über die schönsten Partien dieser und der umliegenden Gebirge bietet, und geht mitten über den grössten Gletscher der Silvrettagruppe, der denn auch den Namen dieses Gebirges trägt.
Die Passhöhe erreicht 3026 M. üb. d. M. Die Entfernung von Klosters über Silvretta und den Gletscher Plan " Hai nach Guarda beträgt 10 Va Wegstunden, doch kann, seit Erstellung der Clubhütte am sog. Birchzug, der Marsch auf zwei Tage vertheilt werden.
Der Fermuntpass wurde früher, zur Zeit als die Steinsberger und Guardner ihre Alpen Gross -Fermunt ( im Illge-. biet ) noch mit eigenem Vieh betrieben * ), oder gar zu jener noch ferneren Zeit vor der Reformation, zu welcher Galttür ( nach unseren Chronisten ) eine Filiale der Gemeinde Steinsberg gewesen und die Todten zur Beerdigung über den begletscherten Pass nach der Hauptkirche in Steinsberg getragen werden mussten, stärker begangen als jetzt, wo die den Steinsbergern nur allein gehörenden Alpen an Vorarlberger verpachtet werden. Der Verkehr ist jetzt sehr schwach.
Die Pässe unserer Karte, welche das Prätigau mit Vorarlberg verbinden, sind der mühsame Klosterthalpass und der des Garneira-Joch, 2460 M. Die Rothfurka dient nur Jägern und Clubisten, wie auch der Sattel zwischen dem Klein-Buin und Signalhorn.
Bei genauer Prüfung der beiliegenden Passprofile wird Jedermann sogleich auffallen, dass die südöstliche Abdachung der Thäler im Allgemeinen steiler ist als die westliche, wesshalb denn auch der Uebergang der Pässe vom Prätigau nach dem Engadin leichter ist, als in umgekehrter Richtung.
* ) Die Bezeichnung „ Ochsenthal " kommt daher, dass die Steinsberger ihre Zugochsen dahin in die Sommerung treiben.
Der 10. Jahrgang der naturforsch. Gesellschaft Graubünden's enthält eine Arbeit hierüber von Herrn Pfarrer Andeer.
Coaz.
Werfen wir jetzt noch einen allgemeinen Blick über unser Kärtchen der Silvretta, so wird unwillkürlich der Wunsch in uns rege, zu wissen, wie gross die Flächenausdehnung des Bodens nach seiner verschiedenen Beschaffenheit und das gegenseitige Flächenverhältniss sei. Folgende Zusammenstellung soll diesem Wunsche entgegenkommen:
Auf Gebiet Zusammen Jucharten j0 der Gesammtfläche der Schweiz Vorarlbergs
a. Weiden u. Wiesen| 27,689 j4561
b. Felsen u. Trümmergestein24,5455000
c. Gletscher82149979
32,250
29,545
18,193
6062
37,6 34,3 21,1 7.
d. Waldungen
6062,
66,510 19,540 | 86,050
Die 21,1 % der Gesammtfläche einnehmenden Gletscher liegen grösserentheils auf der nördlichen Abdachung des Gebirges, auf österreichischem Gebiet. Es sind hauptsächlich der Jamthaler Ferner, der Fermuntgletscher und der Klosterthaler Kees. Dagegen sind die schweizerischen Gletscher auf der östlichen und westlichen Seite des Hauptkammes wegen der grösseren Mannigfaltigkeit der Gebirgsbildung und der meist steileren Abdachungen formreicheiv zerrissener und daher auch schöner. Der Vadret Fiatscha in Lavinuoz ist der sehenswürdigste Gletscher der Silvrettagruppe, zugleich aber auch der ungangbarste. Einige Abstürze des SilVretta- gegen den Verstankla-Gletscher sind auch grossartig zerklüftet und zeigen ein herrliches Farben-
Gletseherstudien wurden im Silvrettagebiet noch keine gemacht. Vor 5 — 6 Jahren zog ich'mit Hrn. Land. Brosi am Fusse des Verstanklagletschers eine Linie, welche mit schwarzer Oelfarbe am Felsen der beiden Ufer bezeichnet wurde.
Leider konnte ich letzten Sommer des schlechten Wetters wegen keine Messungen vornehmen, Hr. Brosi hat indess beobachtet, dass der Gletscher seither um einige hundert Schritte zurückgetreten.
Spuren einstiger weit grösserer Ausbreitung der Silvrettagletscher finden wir in allen Thälern, welche zu ihren Flussgebieten gehören. Besonders reich an Silvretta-Findlingen ist die rechte Thalseite des Prätigau, an welcher wir vorletztes Jahr sogar in Höhlen der Sulzfluh solche Belege früherer Gletscher fanden. * )
Geologisch herrscht in der Silvretta grosse Einförmigkeit, überall treffen wir auf Gneis, Glimmer- und Hornblendeschiefer, die in den mannigfachsten Weisen in einander übergehen und mit einander wechsellagern. Die Fallrichtung der Schichten, z.B. in der Richtung von den Seehörnern über Verstankla nach dem P. Linard, geht von Nordfallen über in die Senkrechte und in Süd- und Süd-westfallen. Die Seehörner und die ganze Gebirgsreihe bis zum Silvrettahorn fallen nördlich, auch der Gletscherkamm noch zeigt gleiches Fallen, richtet sich indess schon stark bis beinahe zur Senkrechten auf und in dem Verstanklakopf und Horn herrscht das senkrechte Einfallen vor. In den Plattenhörnern und dem wesentlich aus Hornblende zusammengesetzten P. Linard ist die Fallrichtung südwestlich, in P. Fliana südlich.
Prof. Theobald sagt in seiner geologischen Beschreibung von Graubünden, S. 117: „ Die Hauptmasse der Silvretta ist ein gesprengtes Gewölbe, dessen Hebung wahrscheinlich durch den Metamorphismus des Gesteins bedingt ist, die
* ) Die Sulzfluh. Excursion der Section Rätia. Chur 1865.
scharfen Gräte mit ihren plattenförmigen Gesteinen sind die zersprengten Schalen dieses Gewölbes " etc. Ueber das Vorkommen von Gesteinarten im Silvrettagebiet sagt der gleiche Geolog: „ Es erscheint auffallend, dass in einem so ausgedehnten krystallinischen Gebirg so wenig interessante orycto-gnostische Vorkommnisse erscheinen. Ausser kleinen Bergkrystallen, Hornblende, Pistacit und Staurolithen hat sich in der Hauptmasse bis jetzt noch nichts gefunden. Erst in dem südlichen Grenzbezirk finden sich gegen das Susasca-thal hin und in demselben schöne Staurolithe, Kyanite, An-dalusite und Granaten. Metallinische Mineralien kommen gar nicht vor " etc.* )
Bei einer derartigen geognostischen und oryctognosti-schen Beschaffenheit der Silvretta darf auch keine grosse Mannigfaltigkeit der Flora vermuthet werden; es ist eben die Flora der krystallinischen Gesteine, wie sich dieselbe in Bünden vielorts findet.** )
Die Fauna dieses Gebietes, insbesondere der entomologische Theil derselben, ist noch wenig bekannt und es ist
* ) In der Geologie der Schweiz v. B. Studer wird das Silvretta-Gebirge ebenfalls behandelt.
Aufzählungen von im Silvrettagebiete vorkommenden Pflanzen treffen wir in der Jlpinannd im alten und neuen Sammler von unserem älteren Bündn. Botaniker Dr. Amstein, Pfarrer Pool, Catani und Andr. Gujan, Magister Rösch und Ldm. C. U. v. Salis. Die Flora Helvetica vonGaudin, Band 7, botanische Geographie der Schweiz ( 1833 ), enthält eine Znzammenstellung des ihm bis dahin über die Flora Fermunt-Silvretta Bekanntgewordenen. Weitere Angaben finden sich in der Central-Alpen-Flora von Ost-Rhätien v. Dr. Chr. Brügger ( pag. 85—86 ). Die Benutzung mir gefälligst zur Verfügung gestellter werthvoller botan. geogr. Mittheilungen von Herrn Dr. Chr. Brügger erlaubte Zweck und Raum dieser Schrift nicht.
sehr zu wünschen, dass die Zoologen die Silvretta nicht länger vernachlässigen.
Bekannt sind die Jagdthiere, die besonders auf der Klosterser Seite häufig sind. Das interessanteste und für den eigentlichen Jäger anziehendste Wild ist der Bär. Er streift im Sommer beständig aus den Engadiner Waldungen und Alpen herüber und hinüber, unzweifelhaft bald diesen, bald jenen unserer genannten Pässe benutzend. Seine Operations-punkte sind hauptsächlich die Schafalpen, in denen er jährlich grössere oder kleinere Verheerungen anrichtet. Zur Herbstzeit halten sich die Bären gern am nördlichen Fuss des Canardhornes auf, wo kleine Bestände von Vogelbeer-bäumen vorkommen, deren rothe Doldentrauben der leckere Mutz ungemein liebt.
Weitere Jagdthiere sind die Gemsen, das Murmelthier, Hasen und sämmtliches Gefieder, das in den übrigen Theilen des Kantons vorkommt. Kleine Rudel von Rehen, Ueber-läufer aus dem Vorarlberg, finden sich in den tieferen Alpgegenden, z.B. bei Pardenu, das ganze Jahr, zur eigentlichen Heimath scheint ihnen das Hochgebirge indess nicht werden zu wollen. Letzten Winter kamen mehrere Stück in Lawinen um.
Unter den Reptilien ist dem Volke die in den Heubergen und Alpen häufig vorkommende Kreuzotter ( Vipera Berus L. ) wohl bekannt und gefürchtet. In der Nähe der Clubhütte, nahe an 2400 M. üb. d. M., trafen wir letzten Sommer eine Unzahl sich träge liinschleppender Salamander ( Salamandra altra L. ).
Ein so grossartiges und wildes Gebirge wie die Silvretta mit ihren für den einfachen Landmann nicht enträthselbaren, seine Begriffe verwirrenden Naturerscheinungen, verbunden mit den Gefahren, die Jägern und Hirten auf Felsen und Gletschern drohen, musste notwendigerweise eine Sagenwelt hervorrufen.
Und in der That ist Klosters reich an Sagen und die Spuck- und Hexengeschichten finden unter der älteren Bevölkerung immer noch ihre Gläubigen. Die bekannteste Sage ist diejenige über den Ursprung der Namen Silvretta und Veraina. Sie wurde bereits in Prosa und Reimen behandelt* ) und fasst sich kurz in folgende Geschichte zusammen:
In uralter Zeit lebte in Italien ein reicher und vornehmer Edelmann. Aber trotz der herrlichen Natur und dem milden italischen Klima fühlte er sich, hintergangen und verfolgt von seinen Standesgenossen, denen seine Ehrlichkeit und derbe Offenheit verhasst war, doch nicht glücklich in seiner Heimat. Eine tiefe Verachtung der Menschheit hatte sich seiner bemächtigt. Er entschloss sich daher, seine schöne Heimat zu verlassen und in einer entlegenen Gegend, entfernt von allem Verkehr mit den Menschen, ein Asyl aufzusuchen. Sein Vermögen weihte er nach damaliger Uebung frommen Stiftungen und nahm nichts mit sich, als seine ihm über Alles lieben Töchter Silvretta und Veraina.
Er wandte sich nach Norden, und nach langen mühsamen Gebirgsreisen kam Alfonso di Baretto — so hiess der Edelmann — nach dem heutigen Thale Veraina, wo es ihm gar wohl gefiel und wo er sich in der kleinen, später nach ihm benannten Höhle „ Baretto -Bahne " niederliess. Baretto und seine Töchter richteten sich in derBalme möglichst wohnlich ein und mit Wurzeln, Früchten und der reichen Beute der Jagd fristeten sie ihr einfaches, aber zufriedenes Leben.
* ) Veraina und Silvretta, oder Baretto und seine Töchter, im 4. Jahrgang des Bündner Volksblatt, 1832.
* ) Volkssagen aus Graubünden v. Alfons v. Mugi, 1843.
Wenn Baretto mit Jägern und Hirten auf seinen Streifzügen zufällig zusammentraf, so wich er ihnen anfänglich aus, später aber, durch ihr einfaches Wesen angezogen, sprach er gerne mit ihnen über Jagd, Alpen u. dergl. und besuchte sie sogar in den Alphütten. Ja er söhnte sich mit der Menschheit soweit aus, dass er sich in langen Wintern hie und da mit seinen in der gesunden Alpenluft kräftig und schön aufblühenden Töchtern nach Klosters hinunter begab und an den bäuerlichen Festlichkeiten Theil nahm.
Endlich starb Baretto in hohem Alter. Die Töchter begruben die theure Leiche in der Balme und bestreuten das Grab mit Blumen und duftendem Bergheu.
Silvretta, der ihre frühere Heimat, das schöne, milde Italien, noch nicht ganz aus dem Sinn entschwunden war, fühlte sich nach dem Tode ihres Vaters wieder dahin zurückgezogen. Sie nahm von ihrer Schwester Abschied und stieg über das Gebirge nach dem Süden, und von dieser Zeit an heisst das Gebirge, über das sie ihren Weg genommen, Silvretta.
Bald darauf wurde es auch der zurückgebliebenen Veraina zu einsam in dem entlegenen Gebirge. Bevor sie dasselbe verliess, bestieg sie eine nahe Anhöhe, um noch einmal ihr liebes Thal zu überblicken und dem Prätigau ihr Lebewohl zuzurufen.
„ Lebe wohl, " rief sie, „ du theures Land, und Euch, ihr glücklichen Ortschaften, die mein Auge heute zum letzten Mal erblickt, schenke ich diese meine Thäler mit ihren ausgedehnten Weiden
Seit dieser Zeit sind die Dorfschaften Saas, Conters, Küblis, Luzein, Puz, Buchen und Jenaz, die Veraina beim Abschied gesehen, im Besitze der Alp, welche nach ihrer Geberin Veraina genannt wurde. Das hinter einem Gebirgs-
Sctrweizer Alpen- C!ub.3
Coaz.
vorsprang liegende Dorf Fideris, das Veraina nicht sehen konnte, hat keinen Antheil an der Alp.
Die kleine Baretto-Balme dient Jägern und Hirten bei ungünstiger Witterung noch heute als Zufluchtsstätte, und so oft sie dieselbe besuchen, finden sie dieselbe immer rein wie ausgeblasen, sie sagen: „ Sie lässt nichts d'rin ", das ist eine Erscheinung, die nicht mit rechten Dingen zugeht, und wirklich soll Baretto ein Zauberer gewesen sein, denn wenn er seine Spur im Schnee unkenntlich machen wollte, konnte er beliebig Fuchsenspur annehmen.
Die Spuckgeschichten spielen gewöhnlich in den Alpen. Am verrufensten ist in dieser Beziehung die Stutzalp, wo das sog. Nebelmännchen gewöhnlich kurz vor Eintritt von Schneewetter erscheint. Es ist der Geist eines untreuen Sennen, der den Kühen seiner Verwandten und Bekannten mehr Salz gab, als den andern. Das Nebelmännchen sucht sein Unrecht wieder gut zu machen, aber das Vieh hört nicht auf seinen Ruf und leckt kein Salz von der hinge-haltenen Hand. Das Nebelmännchen ist wohl der bekannte Nebelschatten, der auf der Stutzalp hie und da vorkommen mag, da sie auf einer kleinen Anhöhe liegt. In der Warnung für den Hirten, das Salz gleichmässig unter das Vieh zu ver- theilen, liegt die Moral der Sage.* )
Eine andere Sage erzählt, dass in Veraina bei der Alpentladung ein Rind zurückgeblieben. Der Eigenthümer begab sich folgenden Tages in die Alp, fand das Rind aber erst spät Abends, so dass er gezwungen war, dort zu übernachten. Um Mitternacht öffnete sich plötzlich die Keller-thüre, vier Männer traten in die Hütte, holten sein Rind aus
* ) Auch diese Sage wurde im Volksblatt und von Alf. v. Flug bearbeitet.,.
# dem Stall, schlachteten es, zogen ihm die Haut ab und sotten
im grossen Alpkessel das Fleisch, alles vor den Augen des erschrockenen Besitzers. Als das Fleisch gesotten war, kam einer der vier Männer zur Bettstätte und lud den Bauer ein, am Mahle theilzunehmen. Der aber war zu voller Angst und Schrecken, um sich von der Stelle bewegen zu können. Nach einiger Zeit kam derselbe Mann zum zweiten Male und lud den Bauer wiederholt und mit dem Bemerken zur Mahlzeit, dass es ihm schlecht ergehen werde, wenn er nicht sofort komme. Zitternd erhob sich der unglückliche Gast, ass aber nur ein kleines Stückchen Fleisch, während die vier Männer sich dasselbe wohl schmecken liessen. Als das Mahl zu Ende war, breitete einer der Vier die Haut des Rindes aus, legte sorgsam alle Knochen und Knöchelchen hinein, rollte sie auf und gab ihr einen Tritt mit den Worten:
Stand uf und sei wie vorhin,, In einem Jahr fall über den " Wirbel in. * )
Damit verschwand die ganze Erscheinung und der Bauer machte sich wieder auf sein Lager.
Am folgenden Morgen fand der Bauer sein Rind im Stalle angebunden, wie er es am Abend verlassen hatte, nur fehlte demselben das kleine Stück Fleisch, das der Bauer in der Nacht zu essen gezwungen worden. Die Worte „ in einem Jahr fall über den Wirbel in " hatte sich aber unser Bauer wohl gemerkt und um dem Unglück vorzubeugen, stellte er sein Rind das folgende Jahr in eine weit von Veraina entfernte Alp zur Sommerung. Aber das Rind wusste die ihm bekannte, gute Alp Veraina bei dem ausgezeichneten Ortssinn, welcher diesen Thieren eigen ist, auch allein aufzu-
* ) Eine felsige, für das Vieh gefahrliche Stelle der Alp.
3* finden und weidete mehrere Tage mit der Verainer Heerde.
Eines Abends konnten die Hirten aber das Rind beim Sammeln nicht finden — es war über den Wirbel ingefallen.
Noch eine Sage, die am Silvrettagletscher, in den sogenannten Krämerköpfen* ) spielt, glaube ich den Lesern nicht vorenthalten zu sollen. In diese kalten, unfruchtbaren, weit von allen lebenden Wesen entfernten, schaurigen Felsenköpfe hatte einst ein Kapuziner alle bösen Geister gebannt, welche verdammt waren, in Häusern und Ställen des Thales zu spucken. Weil es hauptsächlich Krämer-seelen gewesen sein mögen, wurde der Ort Krämerköpfe genannt.,
Ein junger Gemsjäger wurde einst in Verfolgung des Wildes in diesen Köpfen von'Nacht und Nebel überfallen und musste sich bequemen, hier den Morgen abzuwarten. Zur Geisterstunde wurde es plötzlich lebendig auf den bis dahin todesstillen Krämerköpfen. Blasse, hohle Gestalten in weiten Mänteln sprengten auf weissen Rossen hin und her. Einer der Reiter kam auf unseren Jäger zugeritten und sagte ihm: „ Greife her unter den Sattel, wie schwitzt der Gaul vom scharfen Ritt. Aber Götti, Gottilass dich hier zu dieser Stunde an diesem Ort nicht wieder sehen. " Darauf flog die ganze Reiterschaar lautlos wieder von dannen.
Die Kartographie über die Silvretta war bis in die neueste Zeit sehr mangelhaft. Ein nettes und für den südwestlichen Theil dieses Gebirges ziemlich genaues Kartellen
* ) Ist nach Pallioppi durch das kzmr. cram=incrustatio, Ueber-ziehung, zu deuten. Der Silvrettagletscher liegt wirklich über den Kr. K. wie eine Incrustation.
Tiiuipathe.
im Massstab von circa Vsoorooo "? das Herr Zeller-Hörn er im J. 1840 gezeichnet und das sowohl von H. Keller als auch von J. M« Ziegler für ihre Karten benutzt worden seih soll, liegt mir vor. Einen allseitig befriedigend richtigen Ueberblick über den ganzen schweizerischen Theil des Sil-vretta-Gebirges gewährte aber erst Blatt XV des eidgenössischen Atlasses und einen noch genaueren unser Ex-cursionskärtchen, das von den eidgenössischen Originalaufnahmen copirt ist. Auf dem hier beiliegenden Kärtchen finden sich eine Menge theils berichtigter, theils neuer Ortsbezeichnungen, welche an der westlichen Abdachung letzten Sommer gemeinschaftlich mit dem gesammten Führercorps von Klosters wie betreffs der Engadiner Seite nach genauen Erkundigungen in dortiger Gegend vorgenommen wurden. Die wichtigsten neuen Benennungen sind: Klosterthal-Horn, Silvretta-Horn, Eckhorn, Signalhorn, Klein-Buin, Dreiländerspitz, ( die Grenzen des Engadin, Vorarlberg und Tyrol treffen in ihr zusammen ), Gletscherkamm, Breitkopf, Seebach, Mittelgrat, Scheyenpass, Klosterthal-Pass, Rothfurka, Silvretta-Pass, Verstanklathor, Roggenfurka, Jöri-Fless-Pass und Flüela-Jöri-Pass, Ober- und Unter-Gletscher ( am Sil-vretta-Gletscher ), Kamm-Gletscher, Miesboden-Gletscher.
Die Literatur über unser Silvrettagebiet ist auffallend arm. Zwar wird schon in den ältesten Reisebüchern dieses Gebirges Erwähnung gethan* ), Ausführliches und Zuverlässiges ist aber wenig vorhanden. Das Beste aus der älteren Zeit ist die Topographie des Piz Linard und der Silvrettagruppe von Campell ( 1570 ) und einige Reisen
) Ebel's Anleitung, auf die genussvollste Art die Schweiz zu bereisen. Neuestes Handbuch für Reisende in der Schweiz v. 6. v. Escher. Gemälde der Schweiz XV, Kanton Graubünden.
Pfarrer Pool's und Catani's. Aus der jüngsten Zeit sind die bereits erwähnten geologischen Abhandlungen und ferner die Katurbilder Graubünden's von Professor Theobald zw nennen. Eine gute Anleitung zur Bereisung des Silvretta-gebirges giebt Tschudi's Schweizerführer.
Ein clubistischer Ausflug nach der Silvretta fand schon im Jahre 1840 durch Herrn Zeller-Horner statt. Er besuchte den ersten Tag von Klosters aus das Lawinenzug-horn und zeichnete von da das Panorama von den Seehöniern bis zum Flesshorn. Den folgenden Tag machte er mit Führer AI. Jegen die Tour durch 's Roggenthal hinauf, über die Roggenfurka nach Vernela und über die Fuorcla Zadrell nach Lavin. Vom Abhänge des Piz Miezdi zeichnete Herr Zeller das diesem Werke einverleibte Panorama des Piz Linard und seiner nächsten Umgebung. Die Beschreibung eines Ueberganges über den Silvrettapass im Jahre 1863 von Professor M. Ulrich im 2. Band unseres Jahrbuches darf ich als bekannt voraussetzen.
Eine gewagte und höchst beschwerliche Fahrt durch das Silvrettagebirge unternahm Herr Oberst E. Frey-Gessner im Jahre 1864 mit Herrn Land. Florian Brosi und dem Führer Christ. Jann. Die kleine Gesellschaft befand sich den 12. August in Guarda und beabsichtigte, durch Val Tuoi und über den Fermuntpass nach dem vorarlbergischen Ochsenthal hinab und durch 's Klosterthal wieder hinauf und hinüber nach Klosters zu wandern. Der 12. August war aber leider ein Schneetag, wie solche hie und da mitten in den Sommer des Engadin einbrechen. Das Thal war weiss und die Berge lagen tief im Schnee. Dessenungeachtet hielten die Herren an ihrem Plane fest und wateten, zwar langsam aber stätig, durch Val Tuoi hinauf. Als sie sich der Tiefe des Thales nahten, forschten sie nach dem Fermunt-Passr keiner war aber der Gegend kundig und der Schnee bedeckte jede Spur eines Weges.
Statt nun zwischen dem Piz Mon und Piz Buin durchzusteuern, welch letzteren sie sogleich an seiner erhabenen Pyramidenform erkannt hatten, wandten sich die Herren, durch Lawinenstürze und Schneewirbel vom eigentlichen Uebergang zurückgeschreckt, nordöstlich nach dem Gletscher am Dreiländerspitz ( 3199 M. ) und geriethen so mit ungeheurer Anstrengung Mittags 11/i Uhr auf den wohl noch nie erstiegenen Gletschersattel n. n. w. von der Höhe 3155 M. Eine herrliche Gebirgsaussicht belohnte hier die Mühsale unserer verirrten Wanderer. Gern hätten sie noch eine der nahen Bergspitzen erstiegen, aber der massenhafte Schnee und die scharfen Gebirgsgrate machten dieses Projekt unausführbar.
Nun betraten unsere Clubisten den Jamthaler Gletscher, zogen sich unter dem Punkt 3106 M. durch und gelangten nach manchem verdriesslichen Umwege um Gletscherspalten und über beinbrecherische Moränenablagerungen endlich zu einer verschneiten, leeren Alphütte in der Thaltiefe. Es war jetzt 4 Uhr 25 M. nach Mittag. Durch das ewig-lange Jamthal zogen die müden Wanderer weiter und trafen Abends 7 Uhr in Galttür ein.
Nichts weniger als abgeschreckt durch die beschwerliche Irrfahrt vom verflossenen Tag, überschritten unsere Clubgenossen den 13. August die Piltner Höhe, zogen durch das Klosterthal und über den Gletscher, in dessen Hintergrund hinan auf die Rothfurka und jenseits hinunter auf den Silvretta-Gletscher und nach Klosters.
Im verflossenen Sommer eröffnete unser bekannter Herr J. J. Weilenmann das Steigen auf den Silvrettagletscher. Er erstieg mit Herrn J. A. Specht von Wien und den Führern Fr. Pöll und Pfitscher am 14. Juli von der vorarlbergischen Alpe Fermunt aus zum eisten Mal den 3327 M. hohen Piz Buin ( Albuin ).
Der von ihm eingeschlagene Weg ist auf dem Silvretta-Kärtehen angegeben. Der Beschreibung dieser Wagefahrt, die in diesem gleichen Bande niedergelegt ist, will ich nicht vorgreifen.
Ich komme nun zum Bericht über die Thätigkeit des Central-Comités des Schweizer Alpen-Clubs, um die Wanderungen durch das Silvrettagebiet und dessen Erforschung vorzubereiten.
Zu diesem Zwecke wurde zuuächst in Klosters ein Führercorps gebildet und auch die Gemeinden Süs, Lavin und Guarda veranlasst, tüchtige Führer bereit zu halten. Das Führercorps in Klosters unter Leitung des Herrn Landammann Flor. Brosi zählt 6 Mitglieder. Es besitzt seine Statuten und billige feste Taxen.
Da die Entfernung von Klosters bis an den Silvrettagletscher stark 5 Stunden beträgt und in den dortigen Alpen nicht wohl übernachtet werden kann, so fand das Central-Comité den Bau einer Clubhütte unwreit des Gletschers für nothwendig. Auch hier war es Herr Brosi, der dem Cen-tral-Comité mit der grössten Bereitwilligkeit entgegenkam. Durch seine Vermittlung wurde ein Bauakkord abgeschlossen und nach allgemeiner Bezeichnung der Gegend der Bauplatz von ihm ausgewählt. Den 18. Juni wurde der Bau in Angriff genommen und den 18. Juli vollendet. Das benöthigte Holz stellte die Gemeinde Klosters-Serneus dem Central-Comité mit aller Bereitwilligkeit unentgeltlich zur Verfügung. Der Transport des Bau-Materials ( Holz und Kalk ) von der Serdasca-Alp über die Silvretta-Eck bis zur Baustelle war eine Riesenarbeit. Es mussten Tragbalken von 22'Länge und 5 und 6 " im Geviert, also circa 2 Ctr.
im Gewicht, mehr als 2 Stunden weit über steile, steinige Wege und Felstrümmer von einem Mann getragen werden.
Die erste Besichtigung der Hütte und die Abnahme des Baues fand den 24. Juli durch den Präsidenten des Central-Comités statt. Die Hütte bildet ein Quadrat von 18'Seiten-lange, ist solid mit Pflastermauer aufgeführt und mit einem ( lichten Schindeldach versehen. Wenn man in die Hütte tritt, steht rechts der Herd und daneben ein Tisch mit Bänken, den übrigen Raum rechts und links nehmen die Lagerstätten ein, welche für 16—18 Personen Platz bieten und immer reichlich mit trockenem, duftendem Bergheu angefüllt sind. Das nöthigste Schiff und Geschirr haben die sorglichen Führer auch beigeschafft und unter den Lagerstätten ist immer Vorrath an trockenem Legföhrenholz. Unweit der Hütte fliesst der Gletscherbach vorbei und eine gute Quelle findet sich in nächster Nähe. In einem Kist-clieii verwahrt liegt die Chronik der Clubhütte, in wrelche jährlich die interessantesten Begebenheiten aus dem Silvrettagebiet eingetragen werden und das in seiner zweiten Abtheilung als Fremdenbuch dient. Die Baukosten der Hütte beliefen sich auf nur Fr. 567, welche Summe indess auf Fr. 600 abgerundet wurde.
Die Hütte* ) steht l/j Stunde unter dem Silvrettagletscher, dessen gewaltige Moränenhalden und untersten Eis wände im Hintergrund des kleinen, wilden Thälchens sich aufthürmen. Der Gletscherbach fliesst gemächlich über die kleine Thalterrasse, auf der die Hütte steht, heraus und stürzt sich dann durch das steile und felsige Medjentelli hinunter in den Verstanklabach. Die Aussicht von der Hütte beherrscht den westlichen Halbkreis von den Seehörnern
* ) Hiezu eine Zeichnung. Clubhütte am Silvretta.
bis zu den Verstanklaköpfen mit einzelnen Partien der Rätikonkette und dem Blick nach Klosters hinunter mit den grauen Hörnern im Hintergrund. Umfassender und auch den Silvrettagletscher und das erhabene Verstanklahorn in sich schliessend ist die Aussicht vom Birchzug, dessen Rücken in 20 Minuten von der Hütte aus erstiegen werden kann. ( Hiezu das Panorama. )
Die Einweihung der Clubhütte sollte mit einer ersten Ersteigung irgend einer der höchsten Spitzen der Silvretta verbunden werden, zu welchem Zwecke der Centralpräsident mit Herrn Brosi und dem Führercorps den 31. Juli zum zweiten Mal zur Clubhütte sich begab; leider war aber das Wetter nicht günstiger als das erste Mal.
Des Wartens müde, machten wir uns früh den 1. August trotz des hin- und herwogenden Nebels auf die Beine, um das Silvrettahorn zu ersteigen, wurden aber Mitte Weges vom Regen wieder zurückgewiesen. Mittags zertheilten sich die Wolken etwas und liessen stellenweis das Blau des Himmels durchblicken. Clubisten, die schon in ähnlicher trauriger Lage waren wie wir, wissen, wie diese Himmelsbläue gleich alle Hoffnungen auf gutes Wetter weckt, und in der That machten wir uns wieder auf den Weg. Der untere Gletscher war merkwürdig stark abgeschmolzen und zeigte ein rauhes, festes, schmutzig-blaues Eis mit stellenweis breit klaffenden, tiefen Spalten. Gletschertische, Sandhügel, Mühlen und andere physikalische Gletschererscheinungen finden sich am schönsten am nördlichen Gletscherende, am Fusse des Klosterthalhorns.
Als wir in der Mitte des Gletschers angelangt waren, entschlossen wir uns statt des Silvrettahorn s den neugetauften Gletscherkamm ( auch von Klosters aus erscheint er als solcher ) zu ersteigen. Wir nahmen daher südliche Richtung an und gelangten ohne alle Schwierigkeit an die untere Spitze des Kammes.
Hier wählte ich mit 2 Führern den Weg über den Kammgletscher, während Herr Brosi mit 2 Führern den Grat des Kammes verfolgte. Letzterer Weg zeigte sich bald als sehr schwierig, aber das Zurück- und Umgehen ist bekanntlich eben so verdriesslich als zeitraubend und so kletterten unsere Reisegefährten denn längs dem Grate weiter, während wir durch den stark durchweichten Firn aufwärts wateten, um die höchste Spitze von der Südseite zu erklimmen. Der Gletscher bot uns keine Schwierigkeit im Vorrücken bis zur obern Randspalte, längs welcher wir lange hinziehen mussten, um eine Ueberbrückung zu finden. Fest an 's Seil gebunden setzten wir dann über und an einer sehr steilen Firnwand emporsteigend erreichten wir den südlichen Ausläufer des felsigen Grates.
Wir wandten uns nun an der westlichen Seite des Kammes hin, ohne auf bedeutende Hindernisse zu stossen.
Die Gegend hatte sich unterdessen wieder in Nebel gehüllt, der uns aber vom nahen Ziel unserer Reise nicht mehr zurückzuhalten vermochte. Wir waren nicht mehr weit von der Spitze des Gletscherkammes entfernt, als wir ein lautes, energisches Commando vom andern Grat her vernahmen, und erkannten auch sogleich die kräftige Stimme unsers Landammann Brosi. Unwillkürlich blickten wir nach jener Seite und durch den sich etwas lüftenden Nebel zeigte sich uns ein prächtiges Bild. Die zwei Führer des Herrn Brosi sassen rittlings auf dem scharfen Felsgrat, sich nach der südlichen Seite hinunterneigend. Am Bergstock hielten sie schwebend Herrn Brosi, der festen Fuss zu fassen suchte, aber nur durch Einsetzen seiner Fussspitzen in einen Felsenriss und einen Sprung seitwärts einen Standpunkt, finden konnte. Dieses waghalsige Manöver, dem wir in höchster Spannung und nicht ohne Besorgniss zusahen, so wie das Nachklettern der Führer gab Veranlassung zu dem lauten Rufen, das so unerwartet zu unsern Ohren drang.
Hart unter der höchsten Spitze trafen wir mit unseren Gefährten wieder zusammen, liessen ihrer Unerschrockenheit und Gewandtheit volle Gerechtigkeit widerfahren und erkletterten dann gemeinschaftlich die Gletscherkammspitze.
Dieselbe besteht aus nacktem Gneisfelsen mit etwas Hornblende, ist in Blöcke zerrissen und bietet keine Verflachung dar. Wir errichteten ein Steinsignal, pflanzten auf demselben eine Fahne aufund legten in einem alten Brillenfutteral folgenden Wahrzettel am Fusse des Signals nieder: „ Abgang von der Clubhütte. 12 Va Uhr Mittags, den 1. August 1865, Ankunft Zx/\ Uhr Nachmittags. Deponirt von J. Coaz, Land. FL Brost, von den Führern Jan Gord, Chr. Je gen, Leonh. Jeuch, Ant. Schlegel und Förster Chr. Hitz.
Die uns immer noch umwogenden Nebel gestatteten leider keine Aussicht nach Süden, dagegen verzogen sie sich von Zeit zu Zeit im Norden und deckten die Gruppen der Seehörner, den Sommrück, die schöne Thalfläche von Klosters, das Roggengebirge und die Verstanklaköpfe auf.
Die kaltfeuchten Nebel, die mit scharfem Windzug über die Spitze hinzogen, vertrieben uns bald aus diesen heute so düstern, unfreundlichen Höhen. Wir schlugen den Rückweg über den Kammgletscher ein und stiegen von demselben in gerader Richtung nach den Krämerköpfen hinunter, wandten uns dort, im Nebel eine Zeitlang irre gehend, rechts nach dem untern Silvrettagletscher und kamen mit Regen endlich wieder zu unserer gut eingerichteten Clubhütte.
Auch der 2. August war ein Regentag. Der Versuch einer Ersteigung des Verstanklahorns, welches wir eigentlich aufs Korn genommen hatten, wurde für einstweilen auf- gegeben und der Rückzug beschlossen.
Zur Einweihung der Hütte durften wir dessenungeachtet schreiten, denn die Kamm-gratspitze war unzweifelhaft noch jungfräulich, unsere Ersteigung die erste.
Eine Fahne voran zog die Gesellschaft paarweise* um die Hütte herum zur Kanzel* ), wo der Präsident des S.A.C. eine kurze Anrede hielt und die Clubhütte „ Silvretta " taufte. Nach einem weithinschallenden Hoch auf unseren werthen Täufling und nachdem der Ehrenwein bis auf den letzten Tropfen die Runde gemacht, zog die Gesellschaft mit fröhlichem Gesang und dazwischen einfallenden Jauchzern zum grossen Fels etwas unter der Hütte, von welchem man weit in 's Hauptthal hinuntersieht. Hier wurde die Fahne aufgepflanzt und feierlich beschlossen, von diesem Felsen, angesichts Klosters und des Silvrettagletschers, beständig eine Fahne flattern zu lassen. Der Fels wurde daher die „ Fahnenburg " genannt.
Nach uns hielten sich die Clubisten Herr Müller-Weg-mann und Jules Jacot mehrere Tage in dortiger Gegend auf, aber auch sie waren vom Wetter nicht begünstigt und fühlten gar sehr die Wohlthat der Clubhütte.Mit Herrn Zeller-Horner und seiner Tochter besuchte Herr Müller die Höhe des Silvrettapasses, wo er in der Sonne 30° R.
* ) Ein kanzelartiger Fels neben der Hütte.
Thermometer-Beobachtung v. Hrn. Müller bei der Clubhütte d. 5/c. Septbr. 1865:
Abends... 6 Uhr -f- 15° R. Schatten.
»55 ~T55. > » 55...8f " 6Nachts... 12f* 6 Morgens.. 5f- 5Gletscherbach Abends.. 7 .,4- 5,,
beobachtete. Er fand die Aussicht entzückend, besonders gegen Süden hin.
Herr Müller zeichnete verschiedene Panoramen des Silvrettagebirges von folgenden Standpunkten: Birchzug, Schiahorn, Fischa, Schlösslikopf ( in den Grauen-Hörnern ). Herr Jacot hat seine Panoramen vom Klostertlial- und Signalhorn aus gezeichnet.
Eine gewagte Gletscherfahrt hat letztes Jahr einer der Klosterser Führer, Christian Jegen, vorgenommen. Er hatte einen Touristen nach Lavin hinübergeführt und fasste dort den kühnen Gedanken, durch Lavinuoz über den Tiatscha-Gletscher und durch das Verstanklathor den Rückweg einzuschlagen, was ihm nach Ueberwältigung bedeutender ScliAvierigkeiten auch gelang. Jegen hat somit den Clubisten das Verstanklathor geöffnet. Der von ihm eingeschlagene Weg ist auf der Karte angegeben.
Nach Meldung dieser wackeren clubistischen That schliessen wir unsere Arbeit über das Silvrettagebirge mit dem Wunsche, dass dieses Ende der Anfang zahlreicher Entschlüsse und Projekte zum Besuche der Silvretta werden möge, damit dieses Gebirge in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung vielseitige Bearbeitung finde und seinen vollen Segen auf diejenigen ausgiesse, welche für die Eindrücke einer grossartigen Gebirgsnatur empfänglich sind.
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