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Centovalli.

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Max Senger, Zürich

( Bilder 7 und 8 ) Wer nur ein bisschen Italienisch versteht, wird ohne Mühe übersetzen: hundert Täler — und dann doch wieder sagen « das Centovalli »...

Ob es wirklich hundert Täler sind, ist schwer zu sagen, und umso schwieriger dürfte es zu bestimmen gewesen sein, als diese Gegend ihren Namen erhalten hat. Das soll nämlich im 12.Jahrhundert gewesen sein, zu einer Zeit also, wo es noch keine geographischen Karten gab, die diese Frage hieb- und stichfest hätten beantworten können. Vielleicht war es auch nur ein phan-tasiebegabter Wanderer, der den Namen prägte und dessen einfallsreiche Bezeichnung sich über Jahrhunderte erhalten hat.

Und zwar vollkommen zu Recht, denn an Seitentälern aller Art herrscht kein Mangel. Das Haupttal jedoch, die Hauptrichtung, geht von Locarno nordwärts über Tegna zum Hauptort, nämlich nach Intragna, das sich rühmt, den « höchsten Kirchturm des Kantons » zu besitzen -wenigstens fehlt diese Bemerkung in keinem einzigen Hinweis « rund um » alles Wissenswerte über die Ortschaft. Sie rühmt sich auch eines « römisch » oder wenigstens « lateinisch » klingenden Namens — inter amnes = zwischen den Flüssen. Und die Mehrzahl aller Talbewohner sagen, Gambetta sei hier zur Welt gekommen... natürlich nicht der berühmte Léon Gambetta ( 1838 bis 1882 ), sondern irgend ein Ahnherr... Und in diesem Intragna muss man nachts durch die engen, dunklen Gassen wandern, den hellerleuchteten Kirchturm im Auge, um die Richtung nicht zu verlieren.

Der ganze Kanton Tessin hat von 1850 bis 1970 von 117 000 auf 252000 zugenommen; daran war dasCentovalli aber keineswegs beteiligt. Im Gegenteil! Seine Bewohner sind ausgewandert wie schon ihre Vorfahren, um als brave Handwerker ihr Brot anderswo zu verdienen.

Wer aber eine interessante Schilderung der Lebensweise in diesen Tälern, auch in jenen weiter östlich, geniessen will, der lese den Roman des jungen Tessiner Schriftstellers Plinio Martini; er trägt den etwas verwirrenden Titel « Nicht Anfang und nicht Ende » und wurde im übrigen in gutes « fremdwortarmes » Deutsch übertragen.

Soweit Dörfer überhaupt vorhanden sind, ähneln sie, mit Kirche und Mauern - wie etwa Palagnedra —, kleinen schwarzen Burgen, worin die alten Bewohner und ein paar Kinder hausen.

Gewiss, das Tal ist « erschlossen », mit Strasse seit 1908 und mit Bahn seit 1923, und wer für Tunnels und Brücken eine Vorliebe hat, der kommt voll und ganz auf seine Rechnung. Grund zu dieser « Eröffnung » in einem ökonomisch nicht ergiebigen Gebiet war natürlich der Durchgang zur italienischen Grenze und weiter nach Domodossola.

In Ré, also bereits in Italien und nicht mehr zum Centovalli gehörend, aber nur eine Wegstunde von der Schweizergrenze entfernt, präsentiert sich gross, mächtig, katholisch - eine Basilika, erst 1958 erbaut, mit Kuppeln und romanisch anmutenden Zusatzbauten. Entsprechend gross ist das Hauptschiff. Mosaiken fehlen nicht, und all dies, eigentlich erst « kürzlich » erbaut und gestiftet, geht auf den 29. April 1494 zurück, als ein anscheinend mutwilliger Gläubiger einen Stein auf das damalige Madonnenbild warf, dem dann Blut entfloss, das als Reliquie gefasst und verehrt wurde.

Doch zurück zu unserem weniger turbulenten Centovalli mit einigen romantischen Dörfern, vielen Bergblumen und ebenfalls vielen aus Steinen erbauten soliden Häusern und Gebäuden, von denen manche als Ruine ohne Dach und mit eingebrochenem Mauerwerk, von ihren Bewohnern verlassen, der zerstörenden Wirkung von Wind und Wetter einer Ungewissen Zukunft entgegenträumen.

Und von den rauschenden Gebirgswassern meinte der Pfarrer Don Giuseppe bei Martini: « In den letzten Jahren hat man auch im Tessin 1Kapitaler Steinbock 2Gemsgruppe zur Brunftzeit; am Regenflüeli 3Flüchtendes Gemsrudel im Winter 4Steinbockrudel. Blick vom Widderfeld gegen Kirchboden etwas von der Hochkonjunktur zu merken begon-nen.In einem gewissen Tunnel entdeckt man... dass die Wasserkräfte im Val Maggia ( die zum Teil aus dem Centovalli kommen ) einen Wert darstellen, und meint, es wäre eine grossmütige Tat, sie auf dem Altar der heimatlichen Volkswirtschaft zu opfern... Praktisch ist damit eines der ärmsten Täler zugunsten des fetten Unterlandes ausgeplündert...

Dazu kommt, dass unser Kanton ein kleines isoliertes Ländchen ist. Unsere Hauptindustrie ist die Hôtellerie; da lernt man den Rücken biegen... » Soweit Don Giuseppe, Pfarrer bei Martini.

Was er aber nicht wusste, hat ein Professor der ETH, übrigens auch Tessiner, festgestellt, das heisst, dass die Tessiner Anwälte Meister seien in der Kunst, die Lücken des Gesetzes zu finden, und in welchem Verhältnis zum Bevölkerungswachstum die Zahl der Anwälte dort zugenommen hat, wäre noch zu ermitteln. Dafür haben sich laut « Lex von Moos » ( 1941 ) die Immobilien-Gesellschaften im allgemeinen vermehrt, von 385 auf 2500, urid nicht zuletzt im Tessin.

Was aber den Berggänger im Centovalli besonders angenehm überrascht, ist die Tatsache, dass das Gelände und die Umstände eine natürliche Auslese unter den Touristen treffen: Strasse und Bahn haben dem Touristen den Durchgangsverkehr geöffnet; wer sich aber von ihm abwendet und seitwärts ziehen will, muss steigen, muss seine Kräfte beanspruchen, und da ergibt sich von selbst eine Auswahl, das heisst, das Centovalli ist für Wanderer, eben Bergwanderer, geeignet, und wer sich für lohnende Wanderziele und Wanderrouten interessiert, der greife zum Wanderführer Band « Locarno und seine Täler » ( Kümmerli & Frey ).

Übrigens ist das gesamte Centovalli flächenmässig nicht umfangreich. Eine Wanderung am Schattenhang auf alten, verwitterten Saumwegen über Raza, Bordi, Palagnedra, Moneto, Camedo ( an der italienischen Grenze ) beansprucht fünfeinhalb Marschstunden.

5Steinwild im Spätherbst. Im Hintergrund die Obwaldner Berge 6Vierjähriger Pilatus-Steinbock Photos J. F. Wildhaber, Sempach Der Höhenweg auf der Sonnenseite berührt Calazzo, Cornino, Madonna della Segna, Verda-sio, Lowza, Borgognone und endet ( politisch ) ebenfalls in Camedo nach etwa sechsstündigem Marsch.

Auf alle Fälle sollte der Monte Leone ( 1659 m ) « berücksichtigt » werden ( ab Raza etwa dreieinhalb Stunden ), und zwar besonders wegen der grossartigen Rundsicht.

« Zwar wird die Monte-Rosa-Gruppe vom nahen Gebirgsstock der Gridone mit dem vorgelagerten wilden Felsgrat der Costone di Lenzuoli verdeckt. Doch in der Verlängerung des Val Vigezzo, des italienischen Melezzatales, ragen die östlichen Viertausender der Walliser Alpen empor: die Mischabelgruppe und der Weissmies. Unten erstreckt sich die 1200 Meter tiefe Furche des Centovalli. Gegenüber, zwischen dem felsigen Pizzo da Ruscada und der bewaldeten Aula weist der Sattel von Segna den Weg ins Onsernonetal. Hinter den parallel sich hinziehenden Ketten der Tessiner Voralpen leuchten die Gipfel des Berner Oberlandes. Östlich davon und bedeutend näher erhebt sich die Pyramide des Basodino, des zweithöchsten Tessiner Berges. Hinter der Magadino-Ebene erkennt man die fernen weissen Spitzen der Berninagruppe, und tief unten erstreckt sich das breite, glänzende Band des Langensees nach Süden, wo es sich im bläulichen Dunst der lombardischen Tiefebene vereint. » ( A. Hofmann. ) Wohl wissend, dass « Fremdenverkehr » im Tessin « gross geschrieben » wird, haben die touristischen Behörden alle Zahlen und Daten über dieses Thema zusammengerafft und in einem Band vereinigt. Er wiegt - auf der Küchenwaage - genau drei Kilogramm... aber das Centovalli und seine verwandten, ähnlichen Täler kommen nur mit wenigen Zeilen zur Geltung:

« In den Zonen minderer touristischer Bedeutung, wie Vallemaggia, Onsernone, Centovalli, ist weitere Entwicklung nicht möglich, weil kein Wintersport, also nur Sommertourismus in Frage kommt. » Man sollte also die Sommerferien ent- 1 I

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7Die Centovalli-Bahn auf dem Viadukt bei Corcapolo Photo Alberto Flammer, Locamo 8Romanische Brücke über die Melezza im Centovalli Photo W. Müller, Locamo 9Aufstieg eines Freiballons von Stechelberg, zwischen Grosshorn ( links ) und Breithorn ( Lauterbrunnental ) wickeln, meinen eben diese Fachleute,keine kostspieligen Umbauten erstellen, dafür alte verfallene Häuser und Ställe instand stellen und Ferienhäuser in Bauernhäusern einrichten. Natürlich müssten auch dafür Subventionen in allerdings bescheidenerem Masse zugesprochen werden.

Soweit der fromme Wunsch der Fachleute mit dem drei Kilo schweren Kompendium. Für uns Wanderer ist die natürliche Auswahl, wie oben angedeutet, das Erfreuliche. Solari meint zwar mit Recht: « Diese Täler sind unser Reichtum, und man sollte sie unberührt lassen. »

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