Breithorn, Punta Giordani und Bernina
VON GEORGES PERRIN, VEVEY
Mit 5 Bildern ( 108-112 ) Mit meinem Freund Jean-Louis unternahm ich schon zahlreiche Touren in den Alpen, welche sich über eine Woche oder einige Tage erstreckten. Meistens begleitete uns ein dritter Kamerad. Alle Touren hatten ein bestimmtes Massiv zum Ziel, welches schon monatelang voraus bestimmt wurde.
Durch gründliche Vorbereitung wollten wir bei dem Unternehmen nichts dem Zufall überlassen. Man liess sich von Kennern beraten und widmete sich einem intensiven Studium der Karten und Clubführer.
Jahr für Jahr entdeckten wir so eine neue Gruppe von Gipfeln, entweder in Italien, Frankreich oder in der Schweiz. Wir waren vom Glück begünstigt. Wie oft habe ich das schon erkannt! Sind es die bergsteigerischen Fähigkeiten meines Freundes, welcher ein Seilschaftsführer im wahrsten Sinn des Wortes, sowohl auf dem Eis als auch im Fels, ist oder ist es sein aussergewöhnlicher Optimis-musIch weiss es nicht recht, muss aber gestehen, dass wir selten ohne Erfolg zurückkehrten.
Der Ausarbeitung des Programmes 1966 fehlte hingegen jede bestimmte Richtlinie. Musste man diese Ausnahme dem ungünstigen Wetter jenes Sommers zuschreiben, welches kaum zu Hochtouren ermunterte? Was es auch sei, wir waren jedenfalls nicht in der Lage, uns festzulegen. Wir dachten an den Grat des Zermatter Breithorns über die Südwand; ich sprach von einem Massiv, das ich ein wenig kannte, wo ich vor etwa fünfzehn Jahren den Hauptgipfel, die Grandes Jorasses, bestiegen hatte.
Als wir am Vorabend der Abreise - bei stark bedecktem Himmel und heftigem Westwind - zusammenkamen, um die letzten Beschlüsse zu fassen, hörten Jacky und ich höchst erstaunt unsern Freund Jean-Louis von der Bernina und den Dolomiten berichten; es stellte sich dabei die Frage, ob wir nicht kurzerhand die Gegend wechseln und das gute Wetter anderwärts suchen sollten. Grösste Unentschlossenheit!
Wir entschieden vorläufig einmal, übermorgen den Grossen St. Bernhard im Auto zu durchqueren. Ob wir in Aosta die Strasse nach rechts benützen, um uns den Grandes Jorasses zuzuwenden, oder nach links abbiegen sollten, um das Breithorn anzusteuern, würde von den Wetterverhältnissen in den Bergen und der augenblicklichen Stimmung abhängen.
Unser « Unternehmen 1966 », wie wir es unter uns in Zukunft nennen, wird mir als ein solches der Improvisation und des spontanen Einfalls in Erinnerung bleiben. Wir müssen gestehen, dass diese Art der Durchführung bestimmt einer der Gründe war, die zum Gelingen beitrugen; die Tour wurde nämlich zu unserer eigenen Überraschung ein grosser Erfolg. Wir konnten unsere Besteigungen während der Schönwettertage der ersten Augustwoche unterbringen und verloren deshalb nicht den Mut, als Unwetter herrschte.
Der Wetterbericht versprach am Freitagabend: « Südlich der Alpen: schönes Wetter ». In froher Stimmung verlassen wir darum, Jean-Louis, Jacky und ich, am frühen Morgen des folgenden Tages bei leicht bewölktem Himmel die Ufer des Genfersees. Der umfangreiche Kofferraum des Wagens erlaubt uns, ausser dem beträchtlichen Material auch noch die Landkarten und alle Clubführer der Schweizer Alpen und selbst der angrenzenden ausländischen Gebiete mitzuführen. Das erwies sich als kluge Voraussicht.
In Martigny herrscht strahlender Sonnenschein. Auf dem Grossen St. Bernhard begegnet man an diesem frühen Morgen noch keinem Menschengewimmel; wir fühlen uns deshalb hier oben sehr wohl: die Luft ist frisch und der Himmel klar.
In Aosta lenkt Jean-Louis ohne weiteres in die linke Strasse ein und steuert nach St-Vincent weiter. Jetzt ist also der Entscheid gefallen: wir werden zum Breithorn ziehen. In Verrès erfolgt noch eine Viertelsdrehung nach links in Richtung des Valle d' Ayas. Am Anfang schlängelt sich die Strasse in mehreren Windungen bergan, und wir durchfahren in der Folge eine Reihe von malerischen Dörfern mit gutfranzösischen Namen: Challant, St-Anselme, Brusson, Periasc, Frachey.
Ohne uns aufzuhalten, passieren wir Champoluc, den stattlichen Fremdenort des Tales, der in voller Entwicklung begriffen ist. Es ist hier Brauch, dass sowohl die eleganten Damen als auch die Männer Holzsandalen tragen. Vier Kilometer weiter liegt St-Jacques, ein bescheidener Weiler auf 1689 Meter Höhe mit grossem Autoparkplatz. Hier lassen wir unser Fahrzeug zurück und brechen einige Minuten später auf, um einem angenehmen Weg mit gleichmässiger Steigung und einem schäumenden Wildbach, dem Evençon, entlang zu folgen.
Das alte Hotel von Fiery lassen wir links liegen und halten kurz nachher in einem Lärchenwald unser Picknick ab. Ein Rat für Liebhaber: « Am besten gehen Sie noch einige Schritte weiter und wählen die ,Pian di Verra Inferiore'genannte Ebene für Ihre Rast. Dieser Platz ist bezaubernd, und Sie geniessen dort eine umfassende Aussicht auf die Bergkette mit Breithorn, Pollux und Castor. Wenn Sie sich etwas genauer umsehen, so entdecken Sie hoch oben auf der Moräne einen braunen Fleck: es ist das Rifugio Mezzalama, das Tagesziel. Benützen Sie vor allem kurz nach der Ebene nicht den Weg auf dem Moränenrücken, denn Sie würden sich unnötig ermüden! Nehmen Sie aber den guten, richtigen Maultierhüttenweg, welcher einige Kehren mehr aufweist, aber von Anfang bis Ende angenehm zu begehen ist! » Das Rifugio Mezzalama des Italienischen Alpenclubs ist ein kleiner, sympathischer Holzbau, welcher auf 3004 Meter Höhe, in der Nähe des Grande Ghiacciaio di Verra liegt. Es wird von einer freundlichen, sonnengebräunten Hüttenwartin betreut, welche auch einige Worte französisch spricht, was die Verständigung erleichtert.
Am Abend ist der Himmel vollständig bedeckt. Als wir uns am Sonntagmorgen erheben, hat sich dieser Zustand nicht geändert. Trotzdem verlassen wir um 4 Uhr ohne Verzögerung die Hütte. Drei Stunden später halten wir Rast, um im neuen und komfortablen fixen Biwak Cesare e Giorgio ( 3700 m ), welches der Italienische Alpenclub 500 Meter westlich des Schwarztors auf einem Felssporn errichtet hat, zu essen. Die Aufstiegsverhältnisse waren ausgezeichnet und das Wetter hat merklich gebessert.
Es ist unsere Absicht, den ganzen Grat des Breithorns, von der Roccia Nera bis zum Hauptgip- fei, das heisst, von Ost nach West, zu traversieren. Der Grat ist mehr als 2,5 Kilometer lang und an vielen Stellen schneebedeckt. Meiner Sache sicher, unterlasse ich es, den Clubführer aufmerksam zu studieren und veranlasse Jean-Louis, welcher etwas zögert, bis zum Grenzgrat, zur Senkung zwischen dem östlichen Gipfel und dem Gendarmen ( 4105 m ) aufzusteigen, was natürlich ein Fehler ist. Wir gewinnen den Gipfel des letzteren über den Grat, wobei wir an einigen Stellen viel Schnee auf den Felsen antreffen, hätten aber den Schneehang des Berges in schräger Richtung queren sollen. Vom höchsten Punkt aus entdecke ich zu meiner Überraschung das wirkliche Ziel 500 Meter entfernt in südöstlicher Richtung und 30 Metern tiefer. Es ist rasch erreicht.
Wir geniessen hier oben in dieser morgendlichen Stunde ganz besonders auf das Monte Rosa-Massiv, den Liskamm und die Zwillinge eine aussergewöhnliche Aussicht. Italienische Seilschaften besteigen den ganz nahen Pollux oder die ausgedehnten Schneehänge des Castors. Oh, Zauber der Berge! Um diesen Hochgenuss so lang als möglich auszudehnen, möchten wir mit Lamartine ausrufen: « O temps!suspends ton vol... » Wir erreichen wieder den Westfuss des Gendarmen auf dem richtigen Weg und besteigen von dort den Ostgipfel, eine bescheidene Spitze. Der Aufstieg ist kurz, während der Abstieg grosse Vorsicht verlangt, weil die Felsen mit Schnee bedeckt sind.
Die tiefste Einsenkung dieses langen Grates wird auf 4014 Meter Höhe erreicht, und mit ihr liegt die Hälfte des Weges, wenigstens bezüglich der Distanz, hinter uns. Bei Jacky melden sich Anzeichen von Müdigkeit. Jean-Louis und ich betrachten den Felsgrat, welcher sich in drei Aufschwüngen zum Zentralgipfel des Breithorns hinaufzieht, nicht ohne Sorgen. Er ist mit Schnee überzogen. Wir freuen uns, ihn zu erklettern, denn er ist der interessanteste Teil der Tour, stellt aber unter den herrschenden Verhältnissen die Sicherheit in Frage.
Hierauf fassen wir den vernünftigen Entschluss, von unserer Einsenkung auf den flachen Gletscher, auf etwa 3800 Meter, abzusteigen, um hier Jacky zurückzulassen und die Tour zu zweit fortzusetzen. Er wartete dann während dreieinhalb Stunden einsamer als Robinson auf seiner Insel und in eindrücklicher, auf die Dauer fast unerträglicher Stille auf uns; so erklärte er uns bei unserer Rückkehr.
Für uns ist die Lösung sehr einfach. Wir steigen in direkter, gerader Richtung und senkrecht zum Gratkamm, angesichts des eindrücklichen Hanges, der 350 Meter hohen Südwand des Zentralgipfels. Blick und Händedruck, die wir bei der Ankunft austauschen, sind ein beredtes Zeichen der Befriedigung über die ohne einen einzigen Halt vollbrachte Leistung. Der Abstieg zum breiten Sattel und der Wiederaufstieg zum höchsten Punkt, dem allbekannten Breithorngipfel, erfordert zusätzlich eine knappe Stunde.
Eine gewisse Erschöpfung überfällt uns. Wir sind glücklich, aber müde. Unser Ziel ist erreicht, denn wir haben alle Gipfel des Breithorn-Massivs bestiegen. Der Plan, von dem wir schon lange gesprochen haben, ist endlich verwirklicht.
Wir erreichen unsern Freund Jacky und erst lange nachher den südlichen Fuss des Pollux, wo der einzig mögliche Durchgang für die Rückkehr zum Rifugio Mezzalama liegt. Ich kann nicht verschweigen, dass dieser endlose Marsch im weichen Schnee des Grande Ghiacciaio di Verra mit abwechselnden Ab- und Aufstiegen für mich an diesem warmen Sonntagnachmittag eine mühselige Prüfung wurde.
Um 18.30 Uhr überschreiten wir mit sichtlicher Befriedigung die Schwelle der Hütte. Beim ausgezeichneten Abendessen, welches uns die Hüttenwartin zubereitet hat und das mit einem feurigen « Roten » Italiens begossen wird, macht unser Freund Jean-Louis, einfallsreich wie noch nie, Jacky und mir einen Vorschlag zur Fortsetzung des Unternehmens der Woche:
- Was würdet ihr sagen, wenn wir jetzt unsere Blicke auf die Punta Giordani im Monte Rosa-Massiv richteten?
- « Gerne », antworte ich, « und dann nachher? » - Fahren wir zur Bernina!
- Ebenfalls einverstanden mit der Bernina, aber über den Biancograt!
Jean-Louis hat für alles eine Antwort! Das Wochenprogramm ist bereit, wirklich vorbereitet, ohne in der Tat vorbereitet worden zu sein.
Man muss zugeben, dass diese Punta Giordani, welche uns am Herzen liegt, der unbekannteste und unbedeutendste der zehn Gipfel des Monte Rosa-Massivs ist und genau genommen der einzige davon, der in unserer Liste der Besteigungen noch fehlt. Die Punta Giordani liegt auf italienischem Gebiet, südöstlich der Pyramide Vincent, mit welcher sie durch einen Felsgrat verbunden ist. Sie ist von der Schweizer Seite mühsam zu erreichen, weil sie der vom Lisjoch am weitesten entfernte, wenn auch niedrigste Viertausender ist.
Vor einigen Monaten hatte mir ein SAC-Freund einen Prospekt gezeigt, welcher eine Luftseilbahn aufführt, die kürzlich erstellt wurde und in der Nähe der Capanna Gnifetti ( 3611 m ) endet. Es ist bekannt, dass diese Hütte ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für die italienischen Alpinisten ist, welche den Liskamm oder die verschiedenen Gipfel des Monte Rosa besteigen wollen. Sie bildet ebenfalls das Verbindungsglied zur Capanna Margherita auf der Signalkuppe.
Jetzt, wo die Angelegenheit für uns interessant wird, habe ich Mühe, mich daran zu erinnern, ob diese Luftseilbahn vom Valle di Gressoney oder vom Valle della Sesia aus aufsteigt. Nach kurzem Überlegen entscheide ich mich jedoch für das zweite dieser Täler; es ist dasjenige, dessen Anfang gerade am weitesten vom Valle d' Ayas entfernt ist.
Es ist anzunehmen, dass jeder Clubist, welcher etwas auf sich hält, grundsätzlich, zum mindesten aber aus innerster Überzeugung gegen die Konstruktion grosser mechanischer Transportmittel eingestellt ist, welche massenweise Besucher in das Hochgebirge befördern; sind diese aber da, benützt er sie ebenso gerne wie jeder gewöhnliche Sterbliche.
Unser Vorgehen ergibt sich von selbst: Wir verlassen nicht ohne Bedauern am Montag früh das Rifugio Mezzalama und steigen bei angenehmem Wetter gemütlich nach St-Jacques ab. Auf dem Pian di Verra Inferiore machen wir am frischen, klaren Wasser eine « Katzenwäsche ».
Am Ende unserer Wanderung erfrischen wir uns an der benachbarten « Bar » und nehmen noch einige Änderungen an unseren persönlichen Ausrüstungen vor. Mit Jean-Louis am Volant des Wagens geht die Fahrt los, die zwar lang, aber angenehm werden wird. Von Verres an fahren wir in südlicher Richtung nach Ivrea und von dort nach Biella. In Borgosesia gelangen wir ins endlose, kurvenreiche, aber malerische Valle della Sesia. Es ist etwa 15 Uhr, als wir in Alagna, einem hübschen Ort auf 1200 Meter, welcher sich ebenfalls in voller Entwicklung befindet, ankommen.
Am Schalter der Luftseilbahnstation antwortet man uns in vollendetem Französisch, dass momentan kein fahrplanmässiger Kurs nach Punta d' Indren ( Bergstation ) fahre; um uns entgegenzukommen, werde man aber für uns sofort einen Spezialkurs führen.
Man könnte nicht liebenswürdiger sein!
Und so werden wir rasch und ohne Anstrengung auf 3260 Meter hinaufgehisst, wobei wir zweimal die Kabine wechseln müssen. Das Wetter verschlechtert sich, dichte Nebel schleichen den Berghängen entlang, und unsere Kabine steckt hie und da mitten drin.
Glücklicherweise erreichen wir in etwas mehr als einer Stunde bei guter Sicht die Capanna Gnifetti. Bei diesem kurzen Aufstieg traversieren wir den Ghiacciaio d' Indren in seiner ganzen Breite, erklettern einen Felsriegel und berühren den Fuss des Ghiacciaio del Lis. Die Hütte, eine Holz- 16 Die Alpen - 1966 - Les Alpes241 konstruktion, welche sich an den Hang lehnt, ist sehr gross, wie das Rifugio Mezzalama. Die Küche ist so prächtig ausgebaut wie in einem Hotel, und zahlreiches Personal hantiert darin geschäftig.
Der beträchtliche Andrang von Touristen, welche mit der Luftseilbahn von Alagna herauf befördert werden, wird sich bald verdoppeln, wenn auch von Gressoney aus eine Luftseilbahn geht. Der Italienische Alpenclub ist daher im Begriff, eine neue Hütte an die alte anzubauen, um für den Besucherstrom Platz zu schaffen.
Vom Fenster unseres Schlafraumes aus, den wir mit sympathischen Bayern teilen, erkennen wir am Dienstagmorgen um 4.30 Uhr nicht viel, denn der Nebel verhüllt alle Gipfel. Manchmal zerreisst er, entfernt sich, stellt sich aber bald wieder ein. Einmal mehr sind wir fest entschlossen, unser Glück zu versuchen. Rasch erfolgt der Aufbruch. Der Nebel löst sich bald auf, doch ist der Himmel nicht wolkenlos, und ein heftiger Wind fegt um die Gipfel.
Eines ist sicher: heute werden wir nicht unter der Hitze zu leiden haben. Wir steigen in nordwestlicher Richtung auf dem Ghiacciaio del Lis empor, den wir auf seiner rechten Seite verlassen, um den gleichen Felsriegel wie am Vorabend, aber viel weiter oben, zu traversieren. Dann erreichen wir den oberen Teil des Ghiacciaio d' Indren, den wir schräg mit Kurs auf die Punta Giordani, die wir uns von Anfang an zum Ziel gesetzt haben, überschreiten - bei gutem Tempo und ausgezeichneten Verhältnissen auf dem Gletscher. Knapp zwei Stunden nach unserem Abmarsch sind wir auf dem Gipfel, auf 4046 Meter. Er trägt ein kleines Marienbild, welches von besonders eifrigen Verehrern mit Blumen geschmückt worden ist. Das Gipfelbuch weist in der Tat auf einen sehr bescheidenen Besuch hin; die meisten Alpinisten lenken ihre Schritte zu den « Grossen » hin, welche die Hütte überragen und einen bekannteren Namen tragen.
Es war unsere Absicht, von diesem Gipfel aus die Pyramide Vincent über ihren Ostsüdost-Grat zu erreichen, eine Besteigung, welche keine Schwierigkeiten bietet; aber der dichte Nebel, der um den Corno Nero und die Ludwigshöhe wogt, bereitet uns Sorge. Wir ziehen deshalb vor, die Hütte auf dem Aufstiegsweg zu erreichen. Das Wetter verschlechtert sich zusehends.
Auf der Talstation von Alagna werden wir gegen 11 Uhr morgens von einem Angestellten mit deutschem Namen empfangen. Ich wurde von einem Arbeiter, welcher an der neuen Capanna Gnifetti arbeitet, beauftragt, ihm einige kleine mechanische Teile zu übergeben. Wir kommen miteinander ins Gespräch, und ich erfahre, dass seine Familie zu Hause den Oberwalliser Dialekt spricht. Es sind ohne Zweifel Nachkommen der Walser, wie sie noch in andern abgelegenen Tälern anzutreffen sind. Ihnen ist es gelungen, ihre eigene Sprache über Jahrhunderte hinweg unter harten Lebensbedingungen zu erhalten.
Jetzt muss der Opel unseres Freundes Jean-Louis alles hergeben. Er lässt uns aber nicht im Stich und setzt uns etwa um 17 Uhr vor dem Bahnhof Pontresina ab. Diese etwa 300 Kilometer lange Reise auf italienischen Strassen und dann im Bergell lief aufs allerbeste ab. Von Chiavenna bis auf Maloja begleitete uns ein schwacher Regen, während der Scheibenwischer streikte und uns daran erinnerte, dass nicht nur der Mensch, sondern auch der Mechanismus unvollkommen ist.
Durch Zufall begegnen wir einem liebenswürdigen Grenzwächter mit Gebirgsabzeichen, welcher uns gründlich über die gegenwärtige Situation in den Bergen orientiert. An die Bernina über den Biancograt sei besser gar nicht zu denken. Wegen der grossen Schneemenge sei sie dieses Jahr noch nicht über diesen Grat bestiegen worden. Er empfiehlt uns den normalen Weg über die Bovalhütte und den Morteratschgletscher.
Unser Chauffeur fühlt sich etwas müde, was nach einer so langen Reise und der vorangegangenen Besteigung verständlich ist; auch lädt uns der stark verhängte Himmel nicht ein, heute abend zur Hütte aufzusteigen. Wir beschliessen deshalb, in Pontresina das Abendessen einzunehmen und irgendwo im Freien im Wagen zu schlafen. Höchst komfortabel!
Am Mittwoch bei Tagesanbruch bereitet uns das Wetter eine unerwartete Überraschung: die Wolken lösen sich auf, die Sicht klärt sich. Wir zögern nicht mehr und sind schon vor 7 Uhr bei strahlendem Sonnenschein zur Bovalhütte unterwegs. Wir machen kurz Halt in der Hütte, um Tee zu trinken und Bekannte zu begrüssen, und setzen den Weg auf der Moräne und dem Gletscher fort. Wir fühlen uns in ausgezeichneter Form und steigen rüstig auf dem zerklüfteten Morteratschgletscher voran, gut erkennbare Spuren unserer Vorgänger benützend.
Um 14 Uhr haben wir die Freude, einen alten Bekannten, Giovanni, den Hüttenwart des Rifugio Marco e Rosa des Italienischen Alpenclubs, zu begrüssen. Ich erinnere mich noch der südlän-disch-überschwänglichen Liebenswürdigkeit Giovannis von meinem letzten Besuch. Ich bereite meine Kameraden vor, und in der Tat wird der Nachmittag und Abend, den wir in Gesellschaft italienischer, deutscher und schweizerischer Alpinisten in dieser baufälligen, engen, aber sympathischen Hütte verbringen, von unserem Spassmacher Giovanni belebt. Am Abend wird selbstverständlich das ganze Repertoir der traditionellen Lieder « abgesungen », so laut, dass die Hüttenwände zittern.
Wie wir am Nachmittag zwischen der neuen und der alten Hütte hin und her bummeln und Photos knipsen, schlägt uns Jean-Louis unvermittelt und mit allem Ernst vor, sofort auf die Bernina aufzubrechen, um das schöne Wetter auszunützen. Jacky und ich lehnen ab. Wir versichern ihm, dass die Verhältnisse morgen ebenso günstig sein werden wie heute. Jede Tagesleistung hat ihre Grenzen, und wir wünschen, den gegenwärtigen Augenblick zu geniessen.
Donnerstagmorgen früh sind wir unserer Sache weniger sicher. In der Tat wütet der Sturm, von dichtem Nebel begleitet. Jean-Louis ist nicht zufrieden und schlägt raschen Rückzug vor. Auf dem breiten Grenzsattel der Fuorcla Crast'Agüzza weht der Wind so stark, dass wir die Spur verlieren und uns nach dem Kompass orientieren müssen.
Auf dem Gletscherboden, auf ungefähr 2600 Meter, entdecken wir einen Felsblock von auffallend weisser Farbe, dessen Form dem Matterhorn gleicht. Wir nehmen ihn mit und tragen ihn abwechslungsweise bis zu unserem Wagen in Morteratsch. Nach unserer Rückkehr ergibt die Gewichtskontrolle 17 kg. Diese ergötzliche Episode lässt uns unseren Misserfolg etwas vergessen.
Wir geben uns jedoch nicht vollständig geschlagen, sondern steigen am gleichen Abend wieder zur Bovalhütte, was sich als glänzende Idee erweist, weil das Wetter am folgenden Tag nach einigem Zögern strahlend schön wird.
Unser Entschluss ist rasch gefasst: Ziel Bernina. Der etwas verspätete Aufbruch wird durch unsere Geländekenntnisse und unser Training kompensiert Einmal mehr sind die Verhältnisse ausgezeichnet, und die zahlreichen Photoaufnahmen geraten alle, eine schöner als die andere.
Auf der Fuorcla Crast'Agüzza wenden wir uns um eine Viertelsdrehung nach rechts und statten Giovanni keinen Besuch in seiner Hütte ab. In den Felsen und auf dem Grat begegnen wir zahlreichen Seilschaften, haben aber das Glück, allein auf dem Gipfel zu verweilen. Wir rasten fast eine Stunde dort oben und geniessen in eindrücklicher Stille eine grossartige Aussicht. Wir alle empfinden grosse Freude; unsere Ausdauer wurde wirklich reichlich belohnt.
Um 14 Uhr nehmen wir in der Bovalhütte plötzlich wieder Kontakt mit der Zivilisation auf: auf der Terrasse wimmelt 's von Feriengästen, welche zur Hütte heraufgewandert sind.
Damit endet eine schöne Woche, in welcher viel Unvorhergesehenes die herzliche Freundschaft der drei Bergkameraden vertiefte und verstärkte.
( Übersetzung: Jakob Meier )