Begleitwort zum Panorama des Säntis
Von Albert Heim.
Nachdem ich im Jahre 1866 mein erstes Panorama vom Zürichberg, dann weiter: 1867 von der Grossen Mythe, 1868 vom Stätzerhofn und vom Pizzo Centrale, 1869 vom Ruchen-Glärnisch gezeichnet hatte, gelangte 1870 die Sektion St. Gallen des S.A.C. mit dem Gesuche an mich, ein Panorama vom Säntis aufzunehmen. Wie freute ich mich der schönen Aufgabe und zugleich des Glückes, dadurch mit dem von mir so hoch verehrten Verfasser des « Tierlebens der Alpenwelt », Friedrich von Tschudi, der damals Präsident der Sektion St. Gallen des S.A.C. war, in persönlichen Verkehr treten zu dürfen! Im Oktober des gleichen Jahres weilte ich auf dem Säntis. Erst fand ich dort eine kleine Hütte mit Heulager. Der Bau des kleinen Gasthauses daneben ging rasch seinem Ende entgegen. Die Witterung war teilweise sehr gut. Ich zeichnete nach freiem Auge, sehr viel durch den Feldstecher, leider aber damals noch ohne eigentliche Vermessung, nur nach « Augenmass ». Keine Viertelstunde Hess ich unbenützt. Oft konnte ich nur stückweise durch Nebellücken zeichnen. In den ersten Tagen November war ich zu etwa 2/3 vorangerückt. Wir waren in das neue Gasthäuschen umgezogen. Da waren eines Morgens Fensterläden und Türe eingeschneit und eingefroren. Es bedurfte langer Arbeit, bis wir uns befreien konnten. Günstige Witterung war für die nächsten Tage nicht zu erwarten. Der Winter war eingebrochen. Der Schnee fiel in Masse. Wir packten zusammen und flohen talwärts. Es war ein stellenweise schwieriges Waten. Erst im Juli 1871 konnte ich meine Arbeit wieder aufnehmen. In einigen Tagen war ich mit den Alpen fertig. Viel grössere Schwierigkeiten als das Gebirge bot das vorliegende Hügelland hinaus zum Bodensee und bis Schwarzwald und Jura. Bei hellem Wetter blieb dort alles in dunstigen Schleier gehüllt, meistens war keine Horizontlinie sichtbar. Wenn man auch teilweise Dörfer, Wiesen und Wälder unterscheiden konnte, verlor das Auge, das immer wieder von der Natur auf das Papier sehen musste, oft seine letzte Stelle in der Natur und musste wieder suchen, um fortzufahren. Aber endlich, bei einem vierten Besuch des Säntisgipfels, war der gewöhnliche Schleier über dem Tiefland verschwunden. Ich sah alles klar. Aber es wehte ein kalter Wind. Vom Gasthäuschen herauf trug mir die Meisterin jede Viertelstunde ein Becken mit warmem Wasser, so dass ich die Hände, die den Bleistift oft nicht mehr fühlen konnten, wieder zum Zeichnen erwärmte, und sie wickelte mich in Wolldecken ein. Es galt, an diesem Tage alles noch Fehlende von Lindau bis gegen den Hohe-rhonen fertig zu zeichnen, denn so günstig würde die Sicht vielleicht das ganze Jahr nicht mehr. Ich hatte nicht Zeit zum Essen. Man schob mir hie und da einen Bissen in den Mund. Es fing an zu dunkeln. Regenwolken zeigten sich. Ich zeichnete so schnell als möglich und wurde eben noch fertig. Nur die Horizontlinie des Jura blieb unsicher.
Im ganzen weilte ich 1870 und 1871 in 4 Malen zusammen etwa 34 Tage auf dem Säntis. Davon waren etwa 10 Tage wirklich gut, so dass ich ohne Unterbruch arbeiten konnte. Etwa 15 Tage waren nur hie und da eine halbe Stunde brauchbar, und die übrige Zeit hüllte uns ständiger dichter Nebel ein. Solche Nebeltage benützte ich, um mich wieder gründlich von der steifen Haltung des Zeichnens zu erholen, indem ich beim Gasthausbau oder beim Herauftragen des Baumateriales vom Lagerplatz bei der Wagenlucke oder an der Wegverbesserung mithalf. Dadurch erwarb ich mir von seiten des Haus-meisters Andreas Anton ( « Restoi » ) Dörig den dauernden Beinamen « Chnechtli », und ich nannte ihn Meister. Die Führer, die oft mit Turisten heraufkamen, Messen mich den « Zächner Albert », und so wurde es bald in ganz Innerrhoden gebräuchlich.
Ich habe die schönsten Erinnerungen von meinen Aufenthalten auf dem Säntis. Alles bot mir Freude.
Freude boten mir die blütenreichen Pflänzchen, die ringsum in den Felsen nisteten. Freude die Tiere. Bald flog mir ein schönes Käferchen auf das Papier, ein andermal lief mir ein Schneehase über die Füsse. Gemsen kamen oft auf wenige Schritte an mich heran und betrachteten mich ruhig. Häufig zeigten sich Wiesel. Die Bergdohlen umspielten in gewandten Wendungen den Gipfel. Ich habe oft erfahren, dass man bei langem, ganz einsamem, ruhigem Stillsitzen, wie es meine Zeichnerarbeit verlangte, die schönsten Dinge erlebt. An andern Orten konnte ich unter solchen Umständen die Murmeltiere beobachten. Einmal ist mir eine Gemse über den Kopf gesprungen und hat mir den Hut abgeschlagen, junge Schneehühnchen verbargen sich unter dem neben mir liegenden Regenmantel, und ein Adler hat einmal versucht, durch seinen Flügelschlag mich über die Felswand zu werfen. Unter solchen Umständen hört man das in manchen Gebieten fast unaufhörliche Gepolter der abstürzenden Steine, belauscht die Akkorde der tosenden Wasser, hört die entfernten Lawinen.
Freude boten mir die Menschen, besonders die Eingebornen: der Meister, seine Schwester und seine Frau, der damalige Meglisalpwirt und dessen Hausgenossen. « Restoi » ist mir ein lieber Freund geworden. Mit allen Führern verkehrte ich gerne, und schliesslich sprach ich gut innerrhodisch.
Aber die grösste Freude war immer die Arbeit selbst. Sich in die herrlichen Bergformen versenken, ihre Anatomie herauslesen, ihren Charakter erfassen, sie in ihren Eigentümlichkeiten und Zusammenhängen mit einfachen, klaren Strichen darstellen, ihre Beleuchtungen beobachten, den einen Tag die Erscheinungen des Alpenglühens geniessen, den andern Nebelbilder mit komischen Schatten und farbigem Ring verfolgen: das alles war Arbeit und Lust. Dazwischen gab es mehrere Male gewaltige Gewitter, dass uns der Boden unter den Füssen erbebte.
Und nun ein Wort vom Zeichnen selbst.
Der Benützer des Panoramas soll jeden Gipfel, auch wenn er ihn ohne Zusammenhänge nur durch ein Wolkenloch sieht, auf dem Bilde erkennen können, unabhängig davon, in welcher zufälligen Beleuchtung er ihn sieht. Der Panoramazeichner soll also nicht Beleuchtungseffekte zeichnen, sondern Formen ohne momentane Beleuchtung. Er soll nicht künstlerische Wirkung suchen, sondern wissenschaftliche Darlegung. Zu dieser Objektivierung kann uns nicht die Flächenzeichnung, sondern nur die Linienzeichnung führen. Die Mannigfaltigkeit der Bergformen ist unendlich. Es gibt, auch nur die obern Teile des Berges betrachtet, nicht zwei Gipfel, die zu verwechseln wären. Dieser ungeheuren Mannigfaltigkeit und Individualisierung soll auch das wissenschaftliche Bild gerecht werden. Der Zeichner muss jeden einzelnen Berg in den mannigfaltigsten Beleuchtungen sehen und studieren. Nicht um ihn in einer dieser Beleuchtungen darzustellen, denn der Benützer des Panoramas sieht ihn vielleicht in einer ganz anderen, wohl aber um den Berg in seiner ganzen Gestalt zu verstehen und seine Form dann unabhängig vom vorübergehenden Effekt darstellen zu können. Um so ein richtiges, stets gültiges Bild des Berges zu erhalten, dürfen wir nicht mit Schatten und Licht zeichnen, denn diese sind das Kind des Augenblickes. Aber Schatten und Licht, beobachtet in den verschiedensten Sonnenstellungen, lassen uns die Kanten und Furchen und die Profilform erkennen, und diese müssen wir als Linien zeichnen. Dabei gibt es je nach der Entfernung Linien erster zweiter, dritter usw. Ordnung zu berücksichtigen und ihre Bedeutung für die Bergform durch die Strichstärke zu unterscheiden. Jede Linie in der von mir gesuchten und befolgten Zeichnungsart — dabei sehe ich von den vordersten Bergen ab — soll Bodenform bedeuten und beschreiben. Keine soll nur dem Beleuchtungseffekt, der Schattierung dienen. Die Bodenform bietet uns meistens genug Linien. So gewinnen wir das für jede Beleuchtung brauchbare Bild, in welchem man auch die Dinge sieht, die zeitweise im tiefen Schatten verborgen sind. In der Zeichnung der vordergrundlichen Berge freilich kommen wir ohne eine gewisse Schattierung kaum aus. Hier aber schadet diese auch nicht im Erkennen des Berges und stört nicht, sondern hilft der wirklichen Formdarstellung.
Um eine panoramatische Gebirgszeichnung zu prüfen, kann man folgenden Versuch machen: Man schneidet aus einem Papierblatt ein rundes Loch etwa von der Grösse einer kleineren Münze. Man legt das Papier auf das Bild. Ist das Bild gut gezeichnet, so wird ein Kenner der Berge sofort den Gipfel erkennen, der in dem Rahmen isoliert sichtbar ist. Auch abgesehen von der Umgebung soll im Bilde so gut wie in der Natur jeder Gipfel seine Individualität zeigen. Das Experiment kann also sowohl zur Prüfung des Zeichners als auch des Betrachters dienen.
Die plastische Wirkung der Einzelform und sogar das Bild der ungleichen Entfernungen kann man tatsächlich durch die blosse Linienstärke gewinnen. Man kann sie aber auch wesentlich verstärken und dadurch das Bild leichter erfassbar gestalten, wenn man die Linienzeichnung noch unterstützt durch einen glatten, neutralen Ton — « Schummerung », nicht Schraffierung! Einen solchen Ton darf man auch bescheiden benützen zu Beleuchtungseffekten, zur Unterscheidung von Wald, Wiese und Fels. Ist nur die Linienzeichnung richtig und unabhängig vom Beleuchtungsmoment, so schadet eine zarte Schummerungsbeleuchtung nicht, bindet aber gut, was zusammengehört, und erleichtert das Erfassen der Form. Schon in der ersten Auflage des Säntis- panoramas war ein solcher Schummerungston angewendet. Warum er bei späteren Nachdrucken wieder verlassen worden ist, weiss ich nicht. Mich freut es sehr, dass Prof. Imhof sich der Ausführung einer solchen Tonplatte angenommen hat. Auch beim Mythenpanorama ist ein Gleiches 1924 mit Erfolg geschehen.
Die heutigen Methoden der photographischen Übertragung einer Federzeichnung auf den Stein unter beliebiger Veränderung des Masstabes waren 1870 bis 1880 noch nicht erfunden. Bei Federzeichnung auf Stein war die Strichfeinheit ungenügend und die Handhabung von Feder und Tusch verzweifelt langweilig. Nur der Stich in Stein mit Stahlnadel oder Diamant konnte befriedigen. Er ist auch heute noch für manche Dinge die edelste Art wissenschaftlicher Zeichnung. Das dabei nötige Zeichnen in Spiegelbild war mir geläufig. Also Stich in Stein! Freilich für die Vordergründe war der Steinstich mühsam und im Ergebnis nicht ganz befriedigend. Ich habe etwa vier Wochen zum Stich gebraucht.
Als nun vor zwei Jahren die Sektion St. Gallen des S.A.C., welche Eigentümerin des Stiches mit den Stichsteinen ist, mich über eine neue Auflage befragte, musste ich leider erklären, dass meine Augen nicht mehr imstande seien, eine Revision des ganzen Säntispanoramas in Zeichnung und Beschriftung durchzuführen. Ich empfahl, Prof. E. Imhof um Übernahme dieser Arbeit zu bitten. Er nahm sich der Sache mit Liebe und Treue an, und man beriet zusammen. Im Herbst 1928 kam Imhof nach Tagen klarer Fernsicht vom Säntis zurück mit der für mich sehr erfreulichen Erklärung: « Mit Ausnahme einiger weniger Kleinigkeiten gibt es an der Stichzeichnung von 1871 nichts zu verbessern. » Eine eingreifende Durchsicht wurde der Beschriftung zuteil. Viele Höhenangaben waren um einige Meter zu ändern, manche Namen den neuesten Karten anzupassen. Aber blosse Veränderungen in der Schreibweise, wie z.B. Tal früher Thal und ähnliches, sollen im Panorama, welches ja die Jahreszahl der Aufnahme 1870—1871 trägt, unverändert belassen werden — besonders wo es sich um in die Zeichnung eingeschriebene Worte handelt, deren Änderung schwierig und den Stich schädigend wäre. Die ganze Beschriftung ausserhalb der Zeichnung über dem Bilde musste neu gestochen werden.
Der Freihandzeichnung von 1870 und 1871 entsprechend war ein geometrisch genaues Einhalten des Masstabes nicht möglich. Von NW über N bis NE ist unser Panorama im Halbquadfant 50 1/2 cm lang; in den alpinen Teilen, wo das Augenmass sich sicherer auswerten konnte, messen die 6 Halb-quadranten von E über S und W bis NW je ( 55+1 ) cm. Der Zeichnungsmass-stab ist also im Gebirge etwas grösser, aber auch sicherer und gleichmässiger geworden. Die Abweichungen vom Mittel betragen höchstens 1/50. Für den Zweck des Panoramas, auf dem man nicht trigonometrische Abmessungen machen will, hat das keinen Nachteil. Für das Innere der Zeichnung ist die Masstabschwankung unsichtbar klein — auf 5 cm höchstens 1 mm! Durchführung einer Verbesserung wäre ein Ding der Unmöglichkeit und ohne Wert. Für die Höhen im Bilde sind schon 1870 mittels mathematischer Konstruk- tionen Sicherheiten geschaffen worden, darin sind messbare Fehler kaum vorhanden. Es wurde also beschlossen, die Stichzeichnung von 1871 mit Ausnahme weniger Einzelheiten ( Eintrag der Rheinkorrektion bei Diepoldsau, Vergrösserung mancher Ortschaften, etwas zu hohe Stellung der Horizontlinie des Jura ) unverändert zu belassen.
Seit dem Jahre 1871 ist dies die erste wirkliche Revision zu neuer Auflage. Bisher wurden nur Nachdrucke veranstaltet und bei dieser Gelegenheit hie und da noch ein neuer Name eingesetzt. Eine ganz besondere Schwierigkeit hatte sich dadurch eingeschlichen, dass die Aufbewahrung der Stichsteine nicht mit genügender Sachkenntnis und Sorgfalt geschehen war. Einander nahe liegende oder sich schief kreuzende Linien waren in Kleckse zusammen-geflossen, und es bedurfte der ungewöhnlichen Erfahrung und Kunst von H. Hofer ( Hofer & Co. A.G., Zürich ) und grosser mehrtägiger Arbeit und Geduld, die Steine so zu säubern und zu behandeln, dass wieder ein reiner Abdruck möglich wurde. Die mühevolle Arbeit ist über Erwarten gut gelungen.
Ich will hier nicht auf eine Erläuterung der vom Säntis gebotenen Gebirgsansicht der Alpen und ihres Vorlandes eintreten. Darüber könnte man gar viel Merkwürdiges sagen. Ich will nur darauf hinweisen, dass der Säntis durch seine auf den Aussenrand der Alpen vorgeschobene Stellung und Höhe besonders begünstigt ist. Dazu ist seine Fernsicht doch noch mit unserem Blick und unserer Vorstellungskraft zu bewältigen, während das wunderbare Panorama vom Mont Blanc von Xaver Imfeid viel schwieriger zu erfassen und zu geniessen ist.
Dass der S.A.C. sich entschlossen hat, die neue Auflage in seiner Monatsschrift allen Mitgliedern darzubieten, dass dies möglich gemacht worden ist unter Mitwirkung noch anderer Freunde des Werkes und dass es « zur Ehrung des Erstellers anlässlich seines 80. Geburtstages » geschah, erfuhr ich zu meiner grossen Überraschung und Freude durch die Ansprache des Zentralpräsidenten gelegentlich der Exkursion, zu welcher die zürcherische geologische Gesellschaft zur Feier des 12. April 1929 an die Lochseite bei Schwanden eingeladen hatte, und " wo er mir das neu auferstandene Werk überreichte.
1857 weckte mir eine erste kleine Reise mit meinem Vater ins Glarnerland die Freude an den Bergen. Tschudis « Tierleben der Alpenwelt » gab mir herrliche Nahrung. Im Jahre 1863 durfte ich schon die ersten Sitzungen der Sektion Uto als Gast besuchen. Im Sommer 1864, als ich mit gebrochenen Knochen im Bette lag, waren die an die Wände gehefteten Bilder aus dem ersten Jahrbuch des S.A.C. meine Augenweide und mein Trost. 1866 wurde ich zum Mitglied des S.A.C. aufgenommen. Dann stärkte der junge S.A.C. meine Bergfreude und Bergkenntnis mächtig. Seit 66 Jahren stehen wir, der S.A.C. und ich, in innigem Verkehr — bald der eine, bald der andere gebend oder nehmend — verbunden. Alpenclub und Zürcher Naturforschende Gesellschaft reiften in mir den Wunsch, mich ganz den Naturwissenschaften widmen zu dürfen. Das grösste Glück, das mir das gute Schicksal darbot, bestand darin, dass es mich die « heiligen Berge » nicht nur zur Freude geniessen Hess, sondern meinen Beruf in deren Erforschung legte. Diesem Glücke verdanke ich es, dass ich dem S.A.C. manches bieten konnte. Es geschah immer mit Freude und immer im Sinne des Dankes für die Förderung, die er mir geboten hatte. Auch heute verbindet uns wieder ein gemeinsames Werk, eine Tat, die der S.A.C. so sinnig und schön ausgedacht hat. Ich danke dem Schweizer Alpen-Club!