Ärzte als Erschliesser der Alpen
Von Joh. Jak. Jenny
( Basel ) Die Geschichte des Alpinismus ist schon in zahlreichen Schriften abgehandelt worden; unseres Wissens ist aber der Anteil, den eine bestimmte Berufsgruppe, die der Ärzte, an der Erschliessung der Alpen hatte, noch nie ins rechte Licht gerückt worden. Und doch ist der Beitrag der Schüler Äskulaps so bedeutend, dass sich eine monographische Darstellung lohnt. Freilich kann bei diesem Versuch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, auch sind die alpinistischen Leistungen der zeitgenössischen Ärzte nicht in den Rahmen dieser Arbeit einbezogen worden.
Der etwas vage und vieldeutige Begriff « Erschliessung » wurde absichtlich gewählt, weil er am ehesten dem Wesen des Alpinismus angepasst ist, der selbst eine vielschichtige Erscheinung darstellt und um den zu definieren schon viel Tinte vergossen worden ist, übrigens ohne der Sache ganz gerecht zu werden. Denn die Motive, die den Menschen ins Gebirge um seiner selbst willen führen, sind nicht immer so klar und wechseln mit den Zeiten und den Generationen, denen sie angehören. Es kann sich auch hier nicht darum handeln, sie alle aufzuzeigen und darzulegen, wie sich der Mensch mit diesem seinem Tun auseinandersetzt und es erklärt. War zu einer gewissen Zeit das wissenschaftliche Interesse bei den Unternehmungen vorherrschend, so trat später der sportliche Faktor in den Vordergrund. Sucht der eine im Hochgebirge in erster Linie eine ästhetische Befriedigung, so glaubt ein anderer durch das Leben in den Bergen neue moralische und ethische Kräfte zu gewinnen und dergestalt gestärkt den Kampf mit dem Alltag besser aufnehmen zu können. Oder ein dritter sieht im Kampf und in der Gefahr den Wesenskern des Bergsteigens, wie Eugen Guido Lammer, für den die Gefahr geradezu « eine Gottesgabe ist, das was den Menschen am Tiefsten adelt ». Théophile Gautier sagt von den Alpinisten « ils sont la volonté protestant contre l' obstacle aveugle... » ( Vacances du Lundi ). Wir sehen, die Idee des « Vivere pericolosamente » und des Kampfes ist dem Alpinismus nicht fremd, kurz jenes Ideal, das in früheren Zeiten und vergangenen Kulturen den Ritterstand auszeichnete und das nun nicht von ungefähr in moderner Form wieder auftaucht. Aus welchen Gründen wird später noch zu untersuchen sein.
Auch eine rein wissenschaftliche Disziplin schien man im Alpinismus schon sehen zu wollen und verstieg sich dabei zu solchen Definitionen wie « Unter Gebirgen verstehe ich Bodenauswüchse mit Gipfeln und bergsteigerischen Widerständen » ( Rickmer W. Rickmers « Die Gebirge der Erde » in « Alpines Handbuch », Bd. I ) und « Spalten sind Zusammen-hangstrennungen im Eise ». Ein Wilhelm Busch hätte seine helle Freude daran gehabt!
Eine Umschreibung des Bergsteigens, wie sie Oskar Erich Meyer in seinem Buch « Tat und Traum » gegeben hat, sei hier, weil psychologisch besonders reizvoll, nicht übergangen.
« Des Bergsteigers letztes bestes Erkennen bleibt die alpine Tat. Die Tat, die nicht fragt, warum sie geboren wurde, noch welchem Zwecke sie dient. Die Tat, die da grünt wie ein Baum in Sonne und Wind... Wie alles so einfach wird in den Bergen! Die Ziele selbstverständlich und klar! Dort ist der Berg, und hier bin ich. Zwischen Morgen und Abend liegt die Entscheidung. Der Steinmann des Gipfels ist greifbare Erfüllung, und meine Augen ernten den sichtbaren Lohn. Kein Tun kann schlichter und ehrlicher sein.
Die Wege geistigen Schaffens verlieren sich in der Unendlichkeit. Je weiter wir streben, um so ferner reichen die letzten Ziele. Die Tat des Bergsteigers allein erntet den vollen Die Alpen - 1955 - Les Alpes1 Lohn, der keiner Kunst und Wissenschaft blüht, der Lohn des Siegerwortes. Nichts mehr über mir! So wohnt in den Bergen ein ewiger Trost für die Tragik des Lebens: eine kurze Erfüllung für jeden, der nach Unerreichbarem strebt, ein Trost für die nimmer zufriedene Sehnsucht. » Der Altmeister der deutschen Bergsteiger, Hans Pfann, äussert sich dagegen bedeutend lakonischer: « Ich geh in die Berge, weil es mich freut. » An allen Erklärungen mag etwas Wahres sein, und vielleicht lässt sich doch das Bergsteigen auf eine ganz einfache Formel bringen. Wen je schon die Lust ankam, einen Berg zu besteigen, dem mag es offenbar geworden sein, dass der allgemeinste und stärkste Impuls zur Entwicklung des Alpinismus, dass das, was den Menschen hinauf auf die Höhen treibt - um einen Satz aus der chinesischen Metaphysik zu wiederholen - ganz einfach die Anziehung des Himmels auf die Erde ist.
Merkwürdig lang lag der Schleier des Unbekannten über den Alpen, noch zu einer Zeit, wo die Schiffe der Entdecker schon die fernsten Meere durchfurchten, und ausserordentlich lang erhielten sich die sonderbarsten Vorstellungen.
Man glaubte nämlich, dass im Gebirge eine derartige Kälte herrsche, dass, wenn man in eine Wohnung trete und, wie der Zürcher Arzt und Naturforscher Scheuchzer sagt, « die Nase schneuzen wolle, selbige samt dem Unrath ins Schnupftuch falle ». Man glaubte auch, dass die Kälte selbst den Metallen zusetze und dass die Mineralien eine Art Eis seien. Noch im Jahre 1751 schrieb Joh. Georg Altmann, dass sich von Glarus bis Lauterbrunnen ein Eismeer hinziehe, eine ebene Eistafel, die auf dem Wasser schwimme, und die Gletscher seien Abflüsse dieses Eismeeres! Auch erhielt sich noch lange der Glaube an Lindwürmer und « Dracones montani », von denen ebenfalls Scheuchzer in seinen Werken neben modern wissenschaftlichen barometrischen Beobachtungen berichtet. Vor der Wildheit der Bergbewohner fürchtete man sich ebenfalls, so dass z.B. die Engländer Windham und Pococke, die Mitte des 18. Jahrhunderts eine förmliche Expedition ins Tal von Chamonix ausrüsteten, bis an die Zähne bewaffnet jenen Gegenden ihren Besuch abstatteten. Aber auch auf ästhetischem Gebiet blieben die Alpen, von seltenen Ausnahmen abgesehen - man denke z.B. an Petrarca und dessen Besteigung des Mont Ventoux - völlig verkannt, konnte doch noch ein Buff on von den Bergen als von « imperfections de la figure de la terre » sprechen, wohingegen im 19. Jahrhundert Ruskin die Frage, ob die Alpen eine gute oder eine böse Macht seien, im erstgenannten Sinn beantwortete und darauf seine Ästhetik gründete.
So blieb die Erforschung und die Erschliessung der Bergwelt lange im Hintertreffen gegenüber der anderer Erdräume.
Altertum und Mittelalter kannten keinen Alpinismus in unserem Sinne. Wenn man im Bestehen von Gefahren eine der Triebfedern des Bergsteigens erkennt, so muss man gestehen, dass dieses Motiv in früheren Jahrhunderten keine Berechtigung hatte, da diejenige Menschenklasse oder Kaste, der das Kämpferische zu eigen war, der Ritterstand, dieser Eigenschaft auf andere Weise Genüge leisten konnte. Es ist aber wohl kein Zufall, dass die wenigen Bergbesteigungen, die uns aus jenen vergangenen Zeiten überliefert sind, meist von Angehörigen dieser Kaste, von Adeligen, ausgeführt wurden. Mag im Jahre 181 v.Chr. König Philipp von Makedonien den Rilo Dagh auf dem Balkan aus strategischen Erwägungen erstiegen haben, so entsprang die Bergfahrt König Peters III. von Aragonien auf den Canigou ( Pyrenäen ) im Jahre 1285 vermutlich alpinistischen Gründen. Auf Wunsch König Karls VIII. erkletterte ferner 1492, im Jahre der Entdeckung Amerikas, Antoine de Ville, Seigneur de Domp-Jullien de Beaupré, mit Hilfe von Seil und Leitern und in Gemeinschaft mit einigen seiner Leute das eine der sieben Wunder des Dauphiné, den Mont Aiguille. Zuvor hatte 1388 Bonifacio Rotario d' Asti die Rocciamelone ( ca. 3500 m ) in den West- alpen wohl zur Einlösung eines Gelübdes erklommen, und um 1500 soll Kaiser Maximilian einen Eisgipfel in den Stubaier Alpen erreicht haben. Man kann das Mittelalter nicht verlassen, ohne Petrarcas und Dantes zu gedenken, die beide die Berge aufgesucht haben; jener 1336, um mit symbolischer Tat in der Besteigung des Mont Ventoux die Seele zu erheben, dieser ( 1311 ) wohl aus Freude an einer Gebirgsreise, die ihn selbst im Winter auf einen höheren Apenninengipfel führte.
Petrarca hat in Form eines Briefes seine Besteigung beschrieben und schildert, wie er nach dem Genuss der Fernsicht, die er wie ein moderner Mensch auskostet, seinen Geist in « Augustins Bekenntnisse » versenkt und sein Blick gerade auf jene Stelle fällt, wo der Kir-chenvater die Menschen tadelt, die in der Betrachtung der Natur, der Berge und des Meeres ihr Ergötzen finden und ihre Seele vernachlässigen. Die Lektüre hinterliess Petrarca einen fast eben so tiefen Eindruck wie die Erstersteigung des Ventoux! Wahrhaftig eine merkwürdige Wendung in der Seele des « Vaters des Alpinismus »! Mittelalterliche Askese und beginnende Neuzeit liefern sich ein Treffen in der Brust des Dichters.
Mit Leonardo da Vinci treten wir in die Neuzeit ein. Seine Besteigung des « Monboso » im Gebiet des Monte Rosa wird wohl immer dem alpinen Historiker Rätsel aufgeben, da ein Berg dieses Namens heute nicht bekannt und man nur auf Vermutungen angewiesen ist.
Bedeutend besser ist man über die alpinistische Tätigkeit eines anderen Mannes orientiert, der seines Standes Arzt war und zugleich einer der bedeutendsten Wegbereiter des Alpinismus: Conrad Gessner ( 1516-1565 ).
Weniger allerdings seiner Alpenreisen wegen als auf Grund seiner seelischen Einstellung zum Problem Berg und Bergsteigen kann er noch heute, 400 Jahre später, als wegleitend gelten. Als echtem Humanisten konnte ihm kein Wissensgebiet unerschlossen bleiben, und sein allen Dingen offener Geist vermochte sich den Fragen, die ihm das heimatliche Gebirge stellte, nicht zu entziehen. Aber es sind nicht so sehr nur das wissenschaftliche Interesse und die wissenschaftliche Ausbeute, die ihn zu einem Erschliesser der Alpen stempeln, als die ethisch ideellen Motive, die bei seinen Alpenbesuchen zutage treten und denen er in einem Brief an seinen Glarner Freund Jakob Avienus beredten Ausdruck verleiht und dabei auch nicht mit derbem Tadel spart denen gegenüber, die keinen Sinn für Natur und Berge haben:
« Den hoch berühmten Herrn Jakob Vogel grüsst Conrad Gessner, der Arzt. Ich habe mir vorgenommen, sehr gelehrter Vogel, fortan, solange mir Gott das Leben gibt, jährlich mehrere, oder wenigstens einen Berg zu besteigen, wenn die Pflanzen in Blüte sind, teils um diese kennenzulernen, teils um den Körper auf eine ehrenwerte Weise zu üben und den Geist zu ergötzen. Denn welche Lust ist es und, nicht wahr, welches Vergnügen für den ergriffenen Geist, die gewaltige Masse der Gebirge wie ein Schauspiel zu bewundern und das Haupt gleichsam in die Wolken zu erheben. Ich weiss nicht, wie es zugeht, dass durch diese unbegreiflichen Höhen das Gemüt erschüttert und hingerissen wird zur Betrachtung des erhabenen Baumeisters. Die stumpfen Geistes sind, wundern sich über nichts, sie brüten in ihren Stuben und sehen nicht das grosse Schauspiel des Weltalls; in ihren Winkel verkrochen wie die Siebenschläfer im Winter, denken sie nicht daran, dass das menschliche Geschlecht auf der Welt ist, damit es aus ihren Wundern etwas Höheres, ja das höchste Wesen selbst begreife. So weit geht ihr Stumpfsinn, dass sie gleich den Säuen immer in den Boden hineinsehen und niemals mit erhobenem Antlitz den Himmel schauen, niemals ihre Augen aufheben zu den Sternen. Mögen sie sich wälzen im Schlamm, mögen sie kriechen, verblendet vom Gewinn und knechtischer Streberei. Die nach Weisheit streben, werden fortfahren, mit den Augen des Leibes und der Seele die Erscheinungen dieses irdischen Paradieses zu betrachten, unter welchen nicht die geringsten die hohen und steilen Firste der Berge sind, ihre unersteiglichen Wände, die mit ihren wilden Flanken zum Himmel aufstreben, die rauhen Felsen und die schattigen Wälder... » Und an einer anderen Stelle sagt er in bezug auf das Bergsteigen ( « Descriptio montis-fracti » ): « Welch anderes Vergnügen könnte man, im Bereich der Natur wenigstens, finden, das ehrenwerter, grösser und so über alles erhaben wäre? » Und doch war es Gessner nicht möglich, öfters sich diese Erholung zu gönnen. Als armer Eltern Kind 1516 geboren, war er bis wenige Jahre vor seinem in mittleren Jahren erfolgten Tod von Armut und Not bedrängt, und seine zahlreichen Werke musste er in ununterbrochener Nachtarbeit seinem schwachen Körper abringen. So schreibt er einmal an Antistes Bullinger 1558: « Seit zwanzig Jahren wurde mir das Glück nie zu Theil von ununterbrochenen und angestrengten nächtlichen Arbeiten auch nur einmal ausruhen zu können. » Ungeheuer war seine Schaffenskraft, und sein Geist betätigte sich auf fast allen Gebieten. Nicht nur gab er als hervorragender Kenner der griechischen Sprache Werke alter Schriftsteller und Wörterbücher heraus, noch nicht dreissigjährig veröffentlichte er seine berühmte « Bibliotheca universalis », l.Teil, ein alphabetisches Schriftstellerlexikon, eine Riesenarbeit. Seine Arbeiten auf naturwissenschaftlichem Gebiet tragen ihm den Namen « Plinius der Deutschen » ein. Weltberühmt ist seine « Historia animalium » ( 1551 ), von der Cuvier 200 Jahre später noch in den lobendsten Tönen spricht. Eine grosse Pflanzenkunde konnte er allerdings nicht mehr vollenden, hingegen erschien in seinem Todesjahr noch eine Schrift über Steine und Fossilien. Von seinen umfassenden Sprachkenntnissen zeugt ein Werk der vergleichenden Sprachwissenschaft, « Mithridates » genannt, mit dem Vaterunser in 22 Sprachen.
Selbstverständlich vernachlässigte er auch seinen Arztberuf nicht. Stets war er bemüht, neue Heilmittel zu finden oder alte wieder ans Licht zu ziehen. Ihm verdankt man die Wiedereinführung der Tollkirsche in den Arzneischatz. Heilmittel erprobte er an sich selbst, wie er auch auf einer Badereise nach Bormio in Begleitung des Basler Arztes Johann Bauhin im oberen Veltlin verschiedene Bündner Heilbäder ausprobierte, zum Zweck, ein Werk über die Heilbäder der Schweiz zu vervollständigen ( 1561 ). Von Interesse ist hier aber vor allem seine Besteigung des Pilatus im Jahre 1555. Dieser stolze Voralpengipfel war im ausgehenden Mittelalter von einer Sage umsponnen, die bis auf den heutigen Tag in seinem Namen fortlebt. Der bekannte römische Landpfleger, der Christus den Juden überantwortet hatte, bereitete in einem römischen Gefängnis seinem Leben ein Ende. Die Leiche wurde in den Tiber geworfen, nach der Sage spülte sie aber der Fluss wieder heraus, ebenso später nach ihrer Überfuhrung nach Gallien die Rhone und der Genfer See, wobei heftige Stürme auftraten. Schliesslich wurde sie nach Helvetien gebracht und in einen kleinen See zu Fussen des Mons fractus, des heutigen Pilatus, geworfen. Aber auch in diesem Gewässer litt es den bösen Geist nicht, er setzte sich auf einen Félsblock auf dem Gipfel des Gnepfsteins am Pilatus und verheerte die Gegend mit fürchterlichen Gewittern, bis ihn ein fahrender Student aus Salamanca in den See bannte. Seither war es um diesen See nicht recht geheuer, und wer sich ihm mit lauter Stimme naht oder gar einen Stein in ihn wirft oder den Namen Pilatus ruft, der beschwört damit auch bei klarstem Himmel ein furchtbares Unwetter herauf. So stark war der Glaube an diese Legende, dass der Rat von Luzern im 16. Jahrhundert zur Zeit Gessners das Betreten jenes Gebietes nur « gesetzten » Personen gestattete und nur in Begleitung eines Luzerner Führers. Auch unser Gessner musste sich dieser Vorschrift fügen. Doch galt sein Interesse mehr dem Berg als dieser Sage, unähnlich darin dem St. Galler Reformator und Arzt Vadian ( der schon 1518 den Pilatus besteigen wollte, aber in erster Linie in der Absicht, den berühmten Tümpel zu besichtigen, bei dessen Anblick er aber schleunigst umkehrte ). Doch lassen wir noch einmal Gessner zu Wort kommen:
« Etwa eine halbe Stunde von Luzern fängt man an, den Berg zu besteigen ( es soll auch noch ein kürzerer, aber steiler Weg seyn ). Dann geht es aufwärts durch Wälder, Thäler, Wiesen und Hügel. Nach dem Marsche von etwa einer Stunde sieht man die Ruinen eines zerstörten Schlosses, welches einst ein Engländer vom Adel soll bewohnt haben. Dann kommt man in das Eijenthal [Eigenthal], in welchem zahlreiche Kühe weiden, viele Hütten, Ställe und Heuboden der Hirten zerstreut sind. Sie bewohnen aber dieses Thal nur in den vier Sommermonathen, wenn es in demselben wirklich einen Sommer gibt. Denn auf den Gipfeln der höchsten Berge herrscht ewiger Winter, etwas tiefer, Frühling, auch in der Mitte des Sommers, denn die Blumen, welche in ebenen Gegenden im Anfang des Frühlings blühen, sieht man dort erst mitten im Sommer oder im Herbst. Früchte erblickt man keine andere als Erd- und Heidelbeeren. Tiefer unten hat auch der Herbst sein Gebiet und bringt einige Obstarten, vorzüglich Kirschen hervor, die aber erst spät reif werden, weil ihnen keine Sommerhitze, nur Frühlingswärme zu Theil wird. Am Fuss des Berges mag die heissere Sonne und die Zurückwerfung ihrer Strahlen auch einen kurzen Sommer bewirken. So können wir also die Hochgebirge der Alpen in vier Regionen eintheilen. Auf der obersten Höhe herrscht ein beständiger Winter, Schnee und Eis und kalte Winde. Dann folgt die Frühlingsgegend, nach einem sehr langen Winter ein sehr kurzer Frühling. Dann die herbstliche Lage, in welcher drey Jahreszeiten vorkommen, Winter, Frühling und etwas vom Herbste; und endlich die unterste Tiefe, wo auch ein kurzer Sommer sich findet, also alle vier Jahreszeiten. Am 20. August fanden wir einige wenige reife Kirschen in der mittlern Region des Berges, höher herauf in der Frühlingsgegend einige Erd- und Brombeeren, mit welchen wir uns gegen den Hunger und Durst erquickten. Wir übernachteten auf dem Heu einer Sennhütte des Eigenthaies bey einem freundlichen und gastfreyen Hirten, der uns herrlich Milchspeisen vorlegte. » Diese Einteilung in klimatologische Zonen, die Gessner vornahm, ist höchst bemerkenswert. Er fährt fort:
« In der Mitte zwischen dem Gipfel des Berges und dem Eigenthal wird der Aufstieg fortan steiler und schwieriger, bis zur höchsten Hütte oder Sennerei, wenn ich den einheimischen Ausdruck brauchen soll. Ein wenig unterhalb zur Rechten entspringt in einer kleinen Erdhöhle verborgen, am Bergeshang eine Quelle, deren klares und eisiges Wasser uns von Mattigkeit, Durst und Hitze wunderbar befreite, als wir aus ihr tranken und darein getauchtes Brot assen; das ist ein solcher Genuss, dass ich nicht weiss, ob ein angenehmerer, epikuräischerer [obschon er äusserst nüchtern und einfach ist] die menschlichen Sinne ergreifen kann. » « Aber ich muss zu der angefangenen Reisebeschreibung zurückkehren. Nach dem wir uns in der obersten Alphütte an ausgezeichneter und sehr fetter Milch erlabt und in ein Alphorn geblasen hatten ( das fast elf Fuss lang, aus zwei mässig geschweiften und ausgehöhlten Stämmen zusammengesetzt und mit Weidenbändern geschickt verbunden war ), bogen wir links ab unter der Führung des Viehhirten aus jener Hütte, und bald stiegen wir dreifüssig, das heisst gestützt auf unsere Stöcke, die sogenannten Alpenstöcke, welche man am untern Ende meist mit einer eisernen Spitze versieht, weglos in einem langen Marsch den sehr steilen Abhang hinauf; zuweilen mussten wir sogar kriechen und uns an Rasenbüscheln anklammern; aber zwischen Felsblöcken und Klüften kamen wir doch endlich beim Gipfel heraus, von welchen wir die Aussicht im grossen ganzen und im Westen besonders das der Herrschaft Luzern unterworfene Entlebuch betrachteten. » So weit Gessner. Die abergläubische Furcht jedoch, die man vor dem Pilatusseelein empfand, wich erst Ende des 16. Jahrhunderts, als ein beherzter Pfarrer aus Luzern mit Rufen und Steinewerfen den bösen Geist provozierte und nichts darauf erfolgte.
Bei klarem Wetter vermag man aus der grossen Rheinebene unterhalb Basels die Firngipfel des Berner Oberlandes über den Höhen des vorgelagerten Juras zu schauen. Besonders die schimmernde Pracht der Jungfraugruppe leuchtet weit ins Flachland hinaus, und diese Berge mag der aus Breisach gebürtige Thomas Schoepf ( gest. 1577 ) zuweilen bewundert haben, wenn er aus der rheinischen Tiefebene nach Süden blickte. Ihm erschien die Jungfrau unerreichbar und makellos in ihrem weissen Kleide, weshalb er später, als er als Stadtarzt in Bern tätig eine Karte des Kantons anfertigte, zu dieser Interpretation des Namens des Berges gelangte. Schoepfs Verdienst liegt darin, dass er ausserdem die Namen einer Reihe von Bergen festlegte, wie Schreckhorn, Wetterhorn, Wildstrubel etc., während der Name Eiger schon 1173 urkundlich nachgewiesen ist. Schoepf starb 1577 an der Pest, ein Jahr bevor sein achtzehnblättriges Kartenwerk herausgebracht wurde.
Ein Vorläufer des Alpendichters Haller ist Jacques Peletier, der um 1570 in den französischen Alpen reiste und seine Erlebnisse in Versen beschrieb. Ebenso begeistert für die Bergwelt und damit in krassem Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, zu seinen Zeitgenossen und auch zu manchen Nachfahren, ist Hippolyt Guarinoni ( 1571-1654 ). In seinem Werk mit dem sonderbaren Titel « Gräuel der Verwüstung menschlichen Geschlechts » ( Ingolstadt 1610 ) preist er Tirol als ein Gebirge voller Gnaden Gottes, wie überhaupt die Berge für ihn ein Palast Gottes auf Erden sind. Begeisterter hätte auch ein Moderner nicht reden können. Guarinoni war fleissig aufs Botanisieren aus wie auch der aus der Ober-Lausitz stammende Joachim Burser, der für Caspar Bauhins Herbarium Pflanzen sammelte und später Professor an der Ritterakademie zu Sora ( Seeland ) wurde ( gest. 1649 ). Auch der berühmte Botaniker und Arzt Carolus Clusius ( Charles de l' Ecluse, 1526-1609 ) bestieg in den Jahren 1573-1588, als er unter den Kaisern Maximilian II. und Rudolf II. Direktor des botanischen Gartens Wien war, zahlreiche Höhen in Niederösterreich und der Steiermark, darunter den Wiener Schneeberg.
Mehr zur praktischen Erschliessung der Alpen in der damaligen Zeit trugen bei Guglielmo Grataroli ( 1510-1568 ), der in seinem Werk « De regimine iter agentium vel equitum vel peditum... » ( Basel 1561 ) Winke für das Reisen im Gebirge und anderswo gab und auch wohl als erster Steigeisen beschrieb, und Johann Jakob Wagner ( 1641-1695 ), Stadtarzt in Zürich, mit seinem « Mercurius helveticus » ( Zürich 1701 ), einem alphabetischen Ortsregister der Schweiz, und seiner « Historia naturalis Helvetiae curiosa » ( Zürich 1680 ).
Der Gründer der 1. Zürcher Medizinschule, Johann von Muralt ( 1646-1733 ), Stadtarzt in Zürich, hatte auf zahlreichen zu botanischen Zwecken unternommenen Alpenreisen Gelegenheit, sich in die Natur der Berge zu vertiefen, kam aber zu der irrigen Ansicht, dass die Schneeberge bis in den Kern aus Eis beständen. Immerhin ist er der erste, der sich mit den Gletschern befasste.
Wenn man somit aus dem 17. und dem frühen 18. Jahrhundert auch eine Reihe von Ärzten als Vorläufer des Alpinismus nennen kann, so darf das nicht täuschen, dass jene Zeit, die Epoche eines Ludwigs XIV., dem Gebirge durchaus abhold war - mit einigen Ausnahmen, darunter wieder ein grosser Gelehrter.
Mit Conrad Gessner hat der 150 Jahre später lebende Johann Jakob Scheuchzer ( 1672-1733 ) die Universalität seines Gelehrtentums gemeinsam. Auch er, der in Utrecht 1694 den medizinischen Doktorhut erlangt hatte, zeichnete sich auf manchen Gebieten der Wissenschaft aus. Nicht nur, dass seine Vorarbeiten zu einer vaterländischen Geschichte 30 handgeschriebene Foliobände ausmachen; seine Hauptleistung liegt auf dem Gebiet der physikalischen Geographie, auf der geographischen Erforschung der Schweizer Alpen.
Wenn auch Scheuchzer nicht in dem Masse mit ökonomischen Sorgen wie Gessner geplagt war, so hatte er nichtsdestoweniger mit der Feindlichkeit der Umgebung zu kämpfen. Man kann sich vorstellen, was ein Naturforscher jener Zeit zu gewärtigen hatte, wenn man bedenkt, dass in dem damaligen engherzig-protestantischen Zürich Swammerdams Entdeckung der Samentierchen als unzüchtige Lehre gebrandmarkt und noch 1721 das kopernikanische System abgelehnt wurde! Dabei war Scheuchzer nichts weniger als aufgeklärt, werden doch in seinen Schriften neben exakten physikalischen Beobachtungen im gleichen Atemzuge allerlei Spukgeschichten, fliegende Drachen und dergleichen erwähnt. Seine Geisteshaltung ist ein seltsames Gemisch von rationalistischem Denken und überlieferten Anschauungen. Übel vermerkt wurde es einst auch von seinen Mitbürgern, dass er eines Tages seinem zahmen weissen Raben, der ihm entflogen war, aufs Dach nachkletterte, ohne Schuhe, wobei er beinahe einen gefährlichen Sturz getan hätte. Wie Gessner kam er erst spät zu einträglichen Posten, er wurde in seinem Todesjahr 1733 noch Ober-stadtarzt, Archiater, nachdem eine Professur für Naturwissenschaften in Leiden nicht ihm, sondern Boerhaave zugefallen war ( 1709 ) und er 1712 den ehrenvollen Ruf, als Leibarzt bei Peter dem Grossen zu amten, aus Heimatliebe ausgeschlagen hatte.
Seine Alpenreisen, neun grössere an der Zahl, die in die Jahre 1702-1711 fallen, wurden immerhin von der Regierung der Stadt Zürich finanziell unterstützt. Seine zahlreichen Beobachtungen physikalisch-geographischer, geologischer, botanischer und namentlich meteorologischer Art legte er im « Urosiphoites Helveticus » nieder, ferner in einem 1705 begonnenen Wochenblatt, aus dem später die « Naturgeschichte des Schweizerlandes » wurde; ein Kapitel daraus heisst z.B.: « Von den wässerigen und windichten Luft-Geschichten des Schweizerlandes ». Scheuchzer war wohl der erste, der systematisch mit Thermometer und Barometer Messungen auf seinen Reisen anstellte und die Höhe aller durchwanderten Orte und Pässe durch Vergleich mit dem entsprechenden notierten Barometerstand in Zürich bestimmte. Auf seine Veranlassung hin wurden auf dem Gotthardhospiz auch eine Zeitlang Wetterbeobachtungen notiert. Originell aber ohne Erfolg waren seine naturwissenschaftlichen Fragebogen, die er an Leute aller Stände, an Gelehrte, Pfarrer, Jäger, Bauern, Hirten ausschickte, um wissenschaftliches Material über die Alpen zu sammeln. Von grosser Bedeutung war seine 1713 herausgebrachte Schweizerkarte. Scheuchzer begründete auch die Paläontologie; die Versteinerungen sind für ihn Überreste der Sintflut, und einen Riesensalamander deutete er als menschliches Skelett, ein für die damalige Zeit verzeihlicher Irrtum, der den Verdiensten dieses Universalgenies keinen Abbruch tun mag.
Wenn er auf die Ehren an einem fernen Kaiserhof verzichtet hat und lieber in der Nähe seiner heimatlichen Berge blieb, so wird diese seine Einstellung noch deutlicher und verständlicher durch seinen Ausspruch: « Ich kann sagen, dass ich mehr Vergnügen und Befriedigung in diesen wilden und einsamen Gegenden gefunden habe als zu Fussen von Aristoteles, Epikur und Descartes. ,Etiam hie dei sunt ', sagt ein altes Wort und es hat Recht denn auf den Bergen fasst man sozusagen mit der Hand die Allmacht die vollkommene Güte und die Weisheit Gottes; die Alpen sind wie ein Museum der Naturwunder! » Man wundert sich nicht, diese Worte aus dem Munde eines zugleich frommen und gelehrten Mannes zu vernehmen, des Verfassers der « Physica sacra », jenes reich illustrierten Pracht- Werkes, durch das Scheuchzer die damaligen Naturkenntnisse in der Bibel verankern wollte. Mit dem oben zitierten Wort kontrastiert seltsam Scheuchzers Erklärungsversuch des berühmten Schweizerheimwehs, das besonders auch die Schweizersöldner wie eine gefahrliche Krankheit heimsucht. Er führt folgendes aus: « Wir Schweizer bewohnen, wie oben erwiesen, den obersten Gipfel von Europa, athmen desswegen in uns eine reine dünne, subtile Luft, welche wir auch selbst durch unsere Land-Speisen, und Getränke, so eben dieselbige Luft enthalten, in uns essen, und trincken; gewehnen unsere Leiber also, sonderlich, wenn wir bergichte hohe Orte inn haben, dass sie nicht starck getrückt werden, und bey gleich starcker Gegendrückung der innern, in unsern Äderlein sich aufhaltenden Luft, der Creisslauff des Geblüts, und Einfluss der Geistern ohne Hinderung, zu der Menschen Gesundheit ihren ordentlichen Fortgang haben. Kommen wir in andre, fremde niedrige Länder, so steht über uns eine höhere Luft, welche ihre schwerere Drückkraft auf unsere Leiber um so viel leichter ausübet, weil die innere Luft, welche wir mit uns gebracht, wegen ihrer grössern Dünnung nicht genug widerstehen kan; wie z. Ex. eines Holländers schwerere inwendige Luft mit gleichen Kräften der äussern, auch schweren, und dicken Dunst- und Luftkugel entgegen stehet. Ist dem also, so verwundere sich niemand, wenn eine Holländische oder Frantzösische Luft unsere Hautzäserlein, äusserste Blut- und Spann-Äderlein so zusammendrücket, dass der Lauff des Geblüts und der Geister gehemmt, jenes gegen das Herz, diese aber gegen das Hirn zurück gehalten oder getrieben werden, also der CreisslauflF aller Säften nicht zwar völlig still zu stehen, wol aber gemacher zu gehen veranlaset wird. Wer ein solches leidet, und nicht genügsame Kräfte hat, solcher Gewalt zu widerstehen, der spüret eine Bangigkeit des Hertzens, geht traurig einher, zeiget in seinen Worten und Wercken ein grosses Verlangen nach dem Vaterland an; schiäffet wenig und unruhig, seufzet oft bey sich selbst, nimmt ab an Kräften; verrichtet seine Sachen ohne Lust und Ordnung, muss sich endlich an einem hitzigen, oder kalten Fieber legen, und stürbet mehrmalen dahin, wenn man ihm nicht Hoffnung macht nacher Hauss zu kommen, oder auch würcklich auf die Heimreise befördert. » Als Therapie dieser Krankheit gibt Scheuchzer an, den Söldnern auf einem Turm oder einem Hügel Quartier anzuweisen, oder die Patienten nach Hause reisen zu lassen, oder wenigstens die Heimreise- in Aussicht zu stellen, oder dann als drastisches Mittel verschreibt er Medikamente, die eine zusammengepresste Luft enthalten, also Salpeter und die aus ihm verfertigten Heilmittel und wenn nötig Schiesspulver! Damit dürfte Scheuchzer die moderne Chocktherapie in der Psychiatrie vorweggenommen haben! Dass die Bewohner des Tieflandes, wenn sie in die Berge reisen, nicht in analoger Weise unter dem Wechsel des Luftdruckes leiden, also dem Heimweh verfallen, erklärt Scheuchzer damit, dass die Luft am Meer schwer, dick und unrein sei und dass die Veränderung daher nur in günstigem Sinne vor sich gehe. Mit dieser Meinung gibt Scheuchzer aber nur ungewollt eine Replik auf George ( 2 ) Dethardings ( 1671-1747 ) Werk « Von der gesunden Luft zu Rostock » 1705, der das Heimweh der Schweizer von « ihrer langen Gewohnheit an eine unreine, innert den Bergen eingeschlossenen Luft » herleitet und die Schweizer mit den Wiedehopfen vergleicht, die den übelriechenden Mist gewohnt, anderswo nicht leicht gedeihen!
Scheuchzer aber rühmt und verteidigt Berge und Bergreisen wie ein begeisterter Bergsteiger unserer Zeit. Den Einwand der allzugrossen Mühsal von Bergbesteigungen lässt er unter Berufung auf Aristoteles nicht gelten, sondern behauptet im Gegenteil, dass die Anstrengung mehr Lust bringe, womit er die modernen Sportphysiologen vorwegnimmt, die von einer durch die Anstrengung und Ermüdung beim Klettern sich einstellenden Euphorie sprechen. Scheuchzer erklärt die weniger fühlbare Ermüdung so:
« Die eigentliche Ursach dieser Begebenheit besteht kurtz darinn: Weil bey abwechselnder Auf- und Absteugung alle Glieder des Leibs in Bewegung kommen, aber nicht zugleich, sondern also, dass, wenn die einten Mäuslein arbeiten, andere so kurtz zuvor sich abgemattet haben, ruhen können und in der Zeit, da diese an Dantz müssen, jene hergegen durch die Ruhe sich wiederum erholen. Nebst dem ist in Betrachtung zu ziehen, dass durch fortgesetzte Bewegung aller Leibs-Zäsern der Lauff des Geblüts, und der Geistern Einfluss, mercklich befördert wird, welches nicht wenig zur Gesundheit der fremden Reisenden bey-trägt, sowohl als denen Einwohnern selbst, deren starcke, ansehnliche und gesunde Leiber der gantzen Welt bekannt sind. » Dagegen scheint der in den Bergen auftretende besonders grosse Appetit für Scheuchzer nicht etwas Harmloses gewesen zu sein, so wenig wie für seine Zeitgenossen, die sich vor dem « kalten Berghunger » fürchteten; wenigstens ermahnt Scheuchzer den Reisenden gerade in den Bergen zu massigem Leben.
Es kann hier nicht auf die unzähligen Beobachtungen Scheuchzers eingegangen werden, die irgendwie den Alpinisten interessieren oder mit der Erschliessung der Alpen zusammenhängen. Nur so viel, dass Scheuchzer auch schon wusste, dass man mit einem Pistolenschuss « prophylaktisch » Lawinen loslösen kann, ein Verfahren, das man in ähnlicher Weise auch heutzutage befolgt.
Den Pilatus hat Scheuchzer dreimal bestiegen; jener Voralpengipfel scheint in der Frühzeit des Alpinismus eine faszinierende Wirkung auf die Anwohner im weiten Umkreis ausgeübt zu haben und auch späterhin die Forscher angezogen zu haben. Wir denken vor allem an den Luzerner Stadtarzt und Geometer Moritz Anton Kappeier ( 1685-1769 ). Sein Hauptwerk « Pilati montis historia », Basel 1767, ist auf Schweizerboden die erste grössere Monographie eines einzelnen Berges. Er beschreibt dieses Wahrzeichen seiner Vaterstadt in jeglicher Hinsicht: Name, Sage, topographische und atmosphärische Verhältnisse, Botanik, Zoologie und Geologie werden abgehandelt. Bemerkenswert ist, dass Kappeier den marinen Ursprung der Gesteine des Pilatus erkannt hat und ihm auch die verwickelte Tektonik nicht entgangen ist. Ein Meisterstück ist seine topographische Karte des Pilatusgebietes, die die photogrammetrische Methode vorweggenommen haben soll; auch als Kristallograph hat er grosse Verdienste.
Mit Scheuchzer stand er in regem freundschaftlichen und wissenschaftlichen Verkehr, was weniger der Fall war hinsichtlich seines Kollegen Karl Nikolaus Lang ( 1670-1741 ). Vom rein alpinistischen Standpunkt aus sind nur dessen wiederholte Besteigungen des Pilatus zu erwähnen, des Rigi und in jüngeren Jahren des Vesuvs, als er anlässlich des spanischen Erbfolgekrieges in kaiserlichen Diensten als Feldarzt und Ingenieur stand.
Was sich bis dahin den Alpen genähert hatte, waren aber immer nur einzelne Erscheinungen gewesen; der Masse der Gebildeten waren die Berge durchaus fremd; ist doch zu bedenken, dass das 18. Jahrhundert sich lieber in den manierierten Gärten des ausgehenden Barock und des Rokoko gefiel, dass Schäferidyllen in einem hergerichteten, mehr oder weniger bukolischen Gelände dem Geschmack der Zeit entsprachen und dass alles Heroisch-Herbe jener Zeit fern lag. Literarisch, wenigstens im deutschen Sprachgebiet, gab es viel Schwulst, und so ist es denn kein Wunder, dass ein dichterisches Werk, das die Einfachheit der ländlichen Sitten und die ungekünstelte Natur des Gebirges pries, ein ungeheures Aufsehen erregte. Es handelt sich um das Gedicht « Die Alpen » des grossen Mediziners und Naturforschers Albrecht von Haller ( 1708-1777 ). Wie bedeutend der Erfolg dieses erstmals 1732 zusammen mit anderen Gedichten erschienenen Werkes war, lässt sich daraus ersehen, dass es in der Folge 22 deutsche Ausgaben erlebte, acht französische Übersetzungen und je eine englische, italienische und lateinische. Ein begeisterter polnischer Prinz wusste nichts Besseres zu tun, als Haller als Anerkennung ein polnisches Generalmajorsdiplom zu verleihen! -Die Dichtung war die Frucht seiner ersten Alpenreise, die der junge Mediziner zusammen mit dem Zürcher Arzt Johannes Gessner, einem entfernten Nachfahren des schon erwähnten Conrad Gessner, und einem älteren Basler Freund von Basel aus unternahm. Sie führte zunächst dem Jura entlang nach Genf und von da ins Wallis. Charakteristisch für Hallers Empfinden der alpinen Landschaft gegenüber ist seine Schilderung vom Anblick des Genfer Sees mit den dahinter sich erhebenden Bergen: « Ce mélange de l' affreux et de l' agréable, de culture et de la nature la plus sauvage a un charme, auquel il est impossible de résister. » Im Wallis traf Haller eine grosse Hitze an, der er einen ungünstigen Einfluss auf die Intelligenz der Kinder zuschrieb, weshalb denn auch manche Walliser ihre Kinder im Sommer nach Leuk schicken sollen. Auf dieser Reise soll auch eine kleine Begebenheit vorgefallen sein, die für das empfindsame 18. Jahrhundert bezeichnend ist. Als im Verlaufe der anstrengenden Reise Gessner erschöpft im Freien einschlief und Gefahr lief, sich zu erkälten, soll Haller sich seiner Kleider entledigt haben, um den Freund mit diesen vor der Kälte zu schützen und ihn zugleich nicht zu wecken. Eine ähnliche Version dieser Anekdote wird auch aus Hallers Knabenzeit erzählt.
Die Reise führte des weiteren über die Gemmi, Interlaken, Meiringen, Jochpass, Engelberg, Luzern, wo Haller die oben genannten Ärzte Lang und Kappeier aufsuchte, und von da nach Zürich, wo er Scheuchzer seine Aufwartung machte. Bei Scheuchzer besichtigte er auch den berühmten Fund aus den Oeninger-Schichten, jenen schon erwähnten Riesensalamander, den der grosse Zürcher Naturforscher als « homo diluvii testis » bezeichnete. Haller beschreibt ihn in seinem an den Arzt Fr. Sal. Scholl gerichteten Reisebrief: « Mais ce qui est plus rare que les plantes et les poissons, c' est un homme entier écrasé entre les planches d' ardoise par le déluge universel, dont an reconnaît aisément la tête et les vertèbres. » Eine geheimnisvolle Nachwirkung hatten Hallers « Alpen » insofern, als seine Enkelin, Sophie von Haller, den dänischen Dichter Jens Baggesen ( 1764-1826 ) ehelichte, der in seinem Epos « Parthenais » eine Alpendichtung schuf, die das Lauterbrunnental und die Jungfrau verherrlicht. Das Epos, das der Dichter selbst als Seitenstück zu « Hermann und Dorothea » und Vossens « Louise » bezeichnet, erschien 1803. Die darin geschilderte Besteigung des Eigers hat ihren Vorwurf in der Erklimmung des Lucendro ( 2900 m ), im Gotthardmassiv, anlässlich Baggesens Schweizer Reise, auf der er übrigens auch in einem Sturm auf dem Thuner See seine künftige Gattin kennen lernte.
Bis 1736, d.h. bis zu seiner Berufung an die neu gegründete Universität Göttingen, unternahm Haller alljährlich zu botanischen Zwecken Fussreisen in die Alpen. Der Niederschlag seiner botanischen Studien findet sich in der « Enumera tio plantarum Helvetiae indigenarum », Göttingen 1742, woraus dann 1768 die grosse mehrbändige « Historia stirpium Helvetiae indigenarum inchoata » entstand. Eingeleitet wird sie von einer Übersicht über die Schweiz, in der er sich unter anderem gegen die Ansicht wendet, die der in Neuenburg und Bern tätige Arzt Wolfgang Christen ( gest. 1745 ) vertrat, wonach die Alpen von einem zusammenhängenden Eismeer bedeckt seien, das von der Adula bis an den Sanetsch, d.h. durch den grössten Teil der Schweizer Alpen, reiche.
Einen grossen, ja überragenden Anteil an Hallers Pflanzengeschichte hat sein Freund und Zeitgenosse, der Zürcher Arzt und nachmalige Chorherr Johannes Gessner ( 1709-1790 ), ein Schüler Scheuchzers. Gessner hatte Haller in grossherziger Weise seine für eine eigene Publikation bestimmten Manuskripte einer Pflanzengeschichte überlassen, so dass Graf d' Albon sagen konnte, Haller verdanke fast seinen ganzen Ruhm Gessner ( D' Albon, « Discours politiques, historiques et critiques », Neuchâtel 1779 ).
Auf verschiedenen, zum Teil mit seinen Schülern unternommenen Alpenreisen brachte Gessner das Material für seine umfangreichen Sammlungen von Pflanzen und Steinen zusammen, zählte doch sein Herbarium schon 1726 3000 Pflanzen! Bleibende Verdienste erwarb sich Gessner auch mit der Gründung einer Naturforschenden Gesellschaft in Zürich.
Wenig bekannt ist in der Geschichte des Alpinismus, dass er, wie der Vorrede zu Hallers Pflanzengeschichte zu entnehmen ist, 1735 von Leuk aus, wo er zur Kur weilte, einen vergletscherten Berg ( wahrscheinlich das Torrenthorn ) bestieg, eine höchst beachtenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass er dazu noch rekonvaleszent war!
Mehr noch aber als Haller trug Jean-Jacques Rousseau dazu bei, die Alpennatur einem grösseren Publikum nahezubringen. Seinem Roman in Briefform « La Nouvelle Héloïse » war die grösste Wirkung beschieden, seine begeisterten und begeisternden Schilderungen der Grossartigkeit und Erhabenheit der Bergwelt, in der alle niederen und irdischen Gefühle zurückblieben, gaben den Anstoss zu den nun Mode werdenden Schweizer Reisen und zu Besuchen des Chamonix-Tales zu Füssen des Mont Blanc. Das 18. Jahrhundert brachte die ästhetische Würdigung der Alpen, verbunden mit einem nun erneut einsetzenden wissenschaftlichen Forscherdrang, der sich immer mehr geophysikalische, geologische und topographische Probleme zum Ziele setzt. Exponent dieser alpinen Forschung ist der Genfer Gelehrte und Schüler Hallers Horace-Bénédict de Saussure ( 1740-1799 ). Mit ihm und der Bezwingung des Mont Blanc beginnt die eigentliche Geschichte des Alpinismus, wenn auch die sportliche Komponente in dieser Bewegung noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fehlt. Vermutlich war es erst das Zeitalter zunehmender Industrialisierung, die als Gegengewicht, als Kompensation, die kämpferische Note in den Alpinismus brachte.Vorerst stand das wissenschaftliche Interesse obenan, als der junge Saussure 1760 eine Belohnung für die Ersteigung des Mont Blanc aussetzte.
Es vergingen aber volle fünfzehn Jahre, bis die ersten Besteigungsversuche in Gang kamen. Schon 1741 freilich waren die schon erwähnten Engländer William Windham und Dr. Pococke mit fünf Dienern ins Tal von Chamonix vorgedrungen; die abenteuerliche Expedition hatte sich aber damit begnügt, mit dem Montanvert eine Höhe von 1900 m zu erreichen und die « Mer de glace » zu besichtigen.
Einer der eifrigsten Berggänger und Mont-Blanc-Bewerber war der Dorfarzt von Chamonix, Michel-Gabriel Paccard ( 1757-1827 ), an dem sich in der Geschichte des Alpinismus auch das Schicksal des verkannten Genies oder des um seinen Ruhm betrogenen Entdeckers erfüllen sollte. Er hatte in Turin und Paris studiert und beschäftigte sich neben seiner Praxis mit barometrischen Messungen, botanischen und geologischen Studien. Auch war er korrespondierendes Mitglied der Akademie Turin. Vor allem aber studierte er die Zugangswege zum Mont Blanc und bildete sich zu einem tüchtigen Bergsteiger aus. Im August 1786 sollte die Stunde schlagen, wurden seine Versuche mit einem vollen Erfolge gekrönt. In Begleitung des Kristallsuchers Jacques Balmat, den er als Träger angeworben hatte, machte er sich am 7. August 1786 auf, übernachtete auf 2300 m Höhe und erreichte am folgenden Tag nicht ohne Schwierigkeiten mit Balmat, der immer wieder umkehren wollte, trotz weichem Neuschnee und vielen Spalten gegen 6 Uhr abends den Gipfel auf der von ihm selbst geplanten Anstiegsroute.
Nur der unermüdlichen Energie des Doktors und seinem alpinistischen Können ist es zu danken, dass die Besteigung gelang. In der Nacht stiegen die beiden wieder ab und erreichten am dritten Tag um 8 Uhr morgens das heimatliche Dorf.
Leider fehlte es nicht an einem hämischen Neider; einem Kirchenvorsänger von Genf, Marc-Théodore Bourrit, der sich als alpiner Vedutenmaler einen Namen machte, gelang es, Paccard in einem Pamphlet derart zu verunglimpfen, dass er völlig um die Frucht seines Erfolges kam, und Balmat gab sich nur zu willig her, das Verdienst der Erstbesteigung für sich zu buchen. Auch fand Paccard nicht die nötige Unterstützung und Verteidigung bei Saussure, der übrigens über den wirklichen Hergang genau orientiert war, sich aber von Rücksichten auf Bourrit leiten liess, und so kam es, dass Balmat und Saussure, der im folgenden Jahr seine berühmte Besteigung ausführte, ihre Denkmäler erhielten, Paccard aber schliesslich ganz in Vergessenheit geriet und erst in jüngster Zeit wieder durch die Forschungen Carl Eggers an den ihm gebührenden Platz in der Geschichte des Alpinismus gerückt wurde. Denn Paccard hatte nichts über seine Besteigung veröffentlicht; in seinem Tagebuch, das im Besitz des Alpine Club ist, befinden sich nur ein paar Zeitangaben, da er beabsichtigte, eine Broschüre herauszugeben, zu deren Publikation aber die nötige Subskription nicht zustande kam; auch wollte er vielleicht aus Bescheidenheit nicht mit Saussure auf wissenschaftlichem Gebiet mit einer Abhandlung rivalisieren. Als einzige Antwort auf die perfiden Verleumdungen Bourrits rückte er eine anonyme Verteidigung in das « Journal de Lausanne » ein und liess sich von Balmat einen amtlich beglaubigten Bericht über den wahren Sachverhalt der Besteigung unterschreiben.
Das konnte aber leider nicht verhindern, dass im Urteil der Welt Balmat und Saussure die Helden des Mont Blanc wurden!
Saussures weitere Forschertätigkeit erstreckte sich in der Folge auch auf die Walliser Alpen, insbesondere auf das Gebiet des Monte Rosa.
In einem gewissen Sinne das ostalpine Gegenstück von Saussure war Belsazar Hacquet ( 1748-1815 ). Wie Saussure widmete Hacquet lange Jahre seines Lebens der wissenschaftlichen Erforschung der Berge, hier namentlich der Julischen und der Karnischen Alpen; wie Saussure den Mont Blanc umwarb, um schliesslich doch nicht als erster seinen Gipfel zu betreten, so Hacquet den König der Julischen Alpen, den Triglav, den er schliesslich bestieg, aber auch nur als zweiter, da sein Schüler, der Chirurg Willonitzer, ihm zuvorgekommen war. Auch war für die Ersteigung beider Gipfel ein Geldpreis ausgesetzt. Von adeliger Abstammung, aber wahrscheinlich unehelicher Herkunft, führte er ein bewegtes Leben als Feldchirurg in den verschiedensten Heeren, bis er 1766 Bergarzt in Idria ( Krain ) wurde auf Veranlassung des berühmten in Wien tätigen Arztes Gerhard van Swieten. 1773 erhielt er den Lehrstuhl für Anatomie, Physiologie, Chirurgie und Hebammenkunde in Laibach. Während der vielen Jahre, die er sich in den Ostalpen aufhielt, benützte er die Ferien zu ausgedehnten Alpenwanderungen, deren botanische, geologische, staatswissenschaftliche Ergebnisse er in zahlreichen Werken niederlegte. In jenen abgelegenen Gebieten waren Reisen zu wissenschaftlichen Zwecken noch oft mit Lebensgefahr verbunden, und einmal drohte es ihm sogar, als Ketzer angeklagt zu werden.
Von Bedeutung sind Hacquets Untersuchungen des Karstphänomens und die geologische Erkenntnis, dass die Alpen im wesentlichen aus drei Zonen aufgebaut sind, einem kristallinen Zentralkamm, der im Norden und im Süden von Kalkgebirgen flankiert wird. An der rein alpinistischen Erschliessung der Alpen ist Hacquet, abgesehen von seinen Triglav-besteigungen und anderen Bergfahrten, auch damit beteiligt, dass er dank seiner Beziehungen Anlass zu den Grossglockner-Expeditionen des Fürstbischofes Franz Altgraf von Salm-Reifferscheid, des grossen Förderers des Alpinismus, gab.
Der Grossglockner, der höchste Berg des heutigen Österreich, war 1800 gefallen, und schon in den folgenden Jahren wurden die Besteigungen wiederholt; dabei ist der Wiener Arzt Joseph August Schultes zu nennen, der ein vierbändiges Werk über seine in Begleitung der beiden Grafen Apponyi unternommene Bergfahrt hinterlassen hat. Schultes gab auch als Frucht seiner zahlreichen Besteigungen des Wiener Schneeberges einen « Schnee-bergführer » heraus.
Die grossartige Aussicht vom Grossglockner brachte den Pharmazeuten in Linz, Franz Keil ( 1822-1876 ), auf den Gedanken, Reliefkarten der Alpen herzustellen. So bildete er die Glocknergruppe und die Kreuzkofelgruppe nach. Die auf seinen Bergfahrten ausgestandenen Strapazen führten bei Keil zu einem Rückenmarksleiden, dem er 1876 in Marburg ( Steiermark ) erlag.
Die Mode, Schweizer Reisen zu unternehmen, und der wachsende Geschmack am Hochgebirge liessen auch die ersten Reiseführer entstehen. Berühmt ist ein mehrmals aufgelegtes Reisewerk des aus Deutschland gebürtigen Arztes Johann Gottfried Ebel ( 1764-1830 ), « Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweiz zu bereisen », ein Vorläufer des « Baedecker » oder des « Grieben », das in alphabetischer Reihenfolge alles Wissenswerte ( Geschichte, Botanik, Geologie ) über Lokalitäten in der Schweiz mitteilt. Bezeichnend für den damaligen Stand des Alpinismus ist allerdings, dass ein heute so bekannter Ort wie Zermatt noch nicht eigens als Stichwort angeführt ist. Obwohl Ebel nicht als eigentlicher Bergsteiger hervortrat, gehört er doch voll und ganz in den Rahmen der hier behandelten Ärzte-Pioniere des Alpinismus, veranlasste ihn doch seine Liebe zu den Bergen, den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz, in Zürich, zu verbringen und seine besten Kräfte in den Dienst seiner Wahlheimat zu stellen. Abgesehen von seiner medizinischen und politischen Tätigkeit - er war von 1796-1801 Attaché à la Légation de Francfort in Paris, in welcher Eigenschaft er seinen Schweizerfreunden äusserst wichtige Informationen zukommen liess - widmete er sich der Erforschung und touristischen Erschliessung der Alpen. So befasste er sich eingehend mit der Geologie, der Geognosie, wie man damals sagte, in seinem Werk « Über den Bau der Erde in den Alpengebirgen », Zürich 1808. Ebel geht in diesem Werk nicht nur auf die Verhältnisse in den Schweizer Alpen ein, sondern berührt auch interessante Fragen des gesamten Baues der Erdrinde. Ebel war es auch, der die Anfertigung verschiedener Panoramen ( vom Mailänder Dom, vom Weissenstein ) und den Bau einer Unterkunft auf dem Rigi veranlasste. Der Mediziner verrät sich, wenn er in seinem Reiseführer von der Gesundheit der Fussreisen im Gebirge spricht, von ihrer günstigen Wirkung bei Schwäche im Unterleib, Verstopfung, Hypochondrie etc.
Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gab es noch eine Reihe von Ärzten, die ihr Scherflein zur Erschliessung der Alpen beitrugen, teils als Reiseschriftsteller, teils als Mineralogen und Geognosten wie Gottlieb Konrad Christian Storr ( 1749-1821 ), Wilhelm Gottfried Ploncque ( 1744-1814 ), der Spanier Don Carlos de Gimbernat und der Genfer Arzt Louis Jurine ( 1751-1819 ), auf den die Gesteinsbezeichnung Protogin zurückgeht, u.a.
Nachdem einmal der Mont Blanc erobert war und sich die Besteigungen wiederholten, wandte sich das Interesse auch den anderen Riesen der Westalpen zu, voran dem gewaltigen Gebirgsstock des Monte Rosa. Die Bevölkerung der Täler von Gressoney und von Alagna im Süden des Berges wetteiferte zwar schon seit 1778, wer zuerst seinen Fuss auf einen der zahlreichen Gipfel setzen könnte. Der Arzt Pietro Giordani war es dann, der am 23. Juli 1801 einen östlichen Vorgipfel der Vincent-Pyramide und damit eine Höhe von über 4000 m erreichte. Er beschrieb seine Eindrücke in einem Brief, den er auf der eisigen Höhe, einen Steinblock als Schreibtisch vor sich, verfasste. Aus diesem an einen Freund gerichteten Schreiben geht Giordanis sorgfältiges Bestreben nach wissenschaftlichem Beobachten hervor. 1817 machte sich dann der spätere Dorpater Professor der Physiologie, Pathologie und Physik, Friedrich Wilhelm von Parrot ( 1792-1841 ), an den Monte Rosa heran, ohne jedoch namhaften Erfolg zu haben. Hingegen zeichnete sich der als Mediziner wie als Physiker und Geograph gleich hervorragende und durch seine Veröffentlichungen auf diesen Gebieten bekannte Parrot durch eine geglückte Besteigung des Ararat in Armenien und des Kasbek im Kaukasus aus. Seine wissenschaftlichen Beobachtungen am Monte Rosa sind im Journal für Chemie und Physik unter dem Titel « Über die Schneegrenze auf der mittaglichen Seite des Rosagebirges und barometrische Messungen » niedergelegt. Nach ihm heisst eine Spitze des Monte Rosa Parrotspitze. Die höchste Spitze, genannt nach General Dufour, wurde indessen erst 1855 erreicht.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrscht durchaus die wissenschaftliche Erschliessung der Alpen vor. Wenn auch bei manchen der älteren Bergsteiger etwas mitklingt von der Freude an der Bergwelt und dem Genuss des ungebundenen Wanderlebens, so scheute man sich doch noch lange, Berge um ihrer selbst willen zu besteigen, und bis über die Mitte des Jahrhunderts nahmen die meisten Alpinisten « anstandshalber » irgendwelche Instrumente, Barometer, Thermometer etc. mit, um ihren Unternehmungen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. In der Periode, die uns jetzt beschäftigt, war jedoch die wissenschaftliche Forschertätigkeit durchaus dominierend.
An der weiteren botanischen Erschliessung der Alpen, insbesondere der Ostschweiz, waren vor allem die beiden Mediziner Zollikofer und Hegetschweiler beteiligt. Caspar Tobias Zollikofer ( 1774-1843 ) erforschte geographisch und botanisch das Säntisgebiet und brachte von seinen zahlreichen Exkursionen eine reiche Ausbeute nach Hause, die heute eine Zierde des Naturgeschichtlichen Museums St. Gallen ist. Berühmt sind seine Pflanzenaquarelle, über 900 an der Zahl, die als Vorstudien zu einem grossen illustrierten Werk über die Schweizer Flora gedacht waren, das indessen nicht zustande kam. Die Frucht seiner Alpen-studien sind die « Rückerinnerungen einer Reise durch die Appenzeller Alpen im Jahre 1803 » ( « Alpina », 2.Jahrgang, 1807 ). Hingegen gelang es dem Zürcher Staatsrat Johann Jakob Hegetschweiler, eine « Flora der Schweiz » zu verfassen, die dann von dem berühmten Naturforscher Oswald Heer herausgegeben und ergänzt wurde.Von Hegetschweiler liegen auch « Reisen in den Gebirgsstock zwischen Glarus und Graubünden in den Jahren 1819, 1820 und 1822 », Zürich 1825, vor.
Wie nicht anders zu erwarten, stand bei der wissenschaftlichen Erschliessung der Alpen aber bald eine der charakteristischsten Erscheinungen im Mittelpunkt des Interesses, die Vergletscherung. Und hier muss in erster Linie der Begründer der Lehre von der eiszeitlichen Vergletscherung, Louis-Jean-Rodolphe Agassiz ( 1807-1873 ), genannt werden, der seine wissenschaftliche Laufbahn auch als Arzt begonnen hatte, um aber bald die Praxis mit zoologischen, namentlich ichthyologischen Untersuchungen, Gletscherforschungen und einer Professur in Neuchâtel zu vertauschen. Bekannt in der älteren Geschichte des Alpinismus ist sein sich in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts durch mehrere Sommer hindurch erstreckender Aufenthalt auf dem Unteraargletscher, wo er zusammen mit dem berühmten Genfer Zoologen und Staatsmann Carl Vogt und mit weiteren Mitarbeitern Gletscherstudien betrieb. Zu diesem Zwecke hatten die Forscher im Schütze eines Blockes auf der Mittelmoräne des Gletschers eine primitive Unterkunft errichtet, die sie scherzweise « Hotel des Neuchâtelois » tauften, und es blieben denn auch nicht Briefe aus dem Ausland aus, die diese Adresse trugen! Agassiz beteiligte sich während dieser Zeit an mehreren Besteigungen, so an solchen auf die Jungfrau ( 1841 ), Wetterhorn ( 1845 ) u.a. Agassiz'spätere Laufbahn spielte sich in Amerika ab, wo er sich dauernd niederliess. Sein Name lebt im Agassizhorn fort, einem Nachbargipfel des Finsteraarhorns, das sein Mitarbeiter Desor nach ihm be- nannt hat. Das « Hotel des Neuchatelois » besteht freilich längst nicht mehr, das Gebiet wird heute durch die Unteraarhütte erschlossen ( früher Pavillon Dollfus ).
Der Erforschung der Gletscher widmete sich auch der Zoologe und Anatom Ludwig Rütimeyer ( 1825-1895 ), der hier erwähnt sei, obwohl er nur während acht Tagen den ärztlichen Beruf ausübte. Wenn er auch als Alpinist nicht hervortrat, so war er doch einer der Gründer der Sektion Basel des SAC und eine Zeitlang auch Präsident der Rhonegletscher-Kommission.
Ein weiterer Gletscherforscher war François-Alphonse Forel ( 1841-1912 ), der während Jahren im Jahrbuch des SAC über die periodischen Schwankungen der Gletscher berichtete. Sein Lieblingsgebiet war indessen die Limnologie. Forel war ferner die Triebfeder für die schweizerische Grönlandexpedition 1912; nach ihm heisst einer der höchsten Berge der Insel Mont Forel.
Auch aus den Ostalpen ist eine Besteigung zu erwähnen, die einem Arzte Anlass zu wissenschaftlicher Forschung und Publikation gab:
Gleich eine ganze Gesellschaft war es, die sich am 3. September 1841 zur Eroberung des Grossvenedigers aufmachte, 40 Mann hoch, darunter der k. k. Bezirksarzt Franz Spitaler von Mittersill, der die Unternehmung zusammen mit Ignaz v. Kürsinger in einem Buch beschrieb, und 26 erreichten als erste die zweithöchste Spitze der Hohen Tauern. Noch war man damals im Ungewissen, ob wirklich der Grossglockner der höchste Berg der Salzburger Alpen sei. Drollig zu lesen ist das dem Werke Kürsingers und Spitalers beigegebene Verzeichnis der Teilnehmer; da gibt es neben dem Bauern Rudbert Plaikner einen Gerichts-dienergehilfen als Trompeter, einen gräflich Khuenburgischen Jäger, einen jubilierten k. k. Revierförster von Bramberg, einen 68jährigen Greis etc. Das Buch ist in andächtiger, feierlicher Stimmung geschrieben, entsprechend dem bedeutenden Ereignis, und gibt alle Einzelheiten der denkwürdigen Bergfahrt wieder, wie eine Anzahl der Teilnehmer zurückbleiben, mit Kurzatmigkeit, « Üblichkeit », Erbrechen, Schneeblindheit, gefrorenen Zehen, Beängstigung in der Brust, brennendem Durst usw. zu kämpfen haben, darunter auch der Trompeter ( als Zeichengeber bei Unglück und Begleiter des Toasts auf der Höhe ), und schliesslich liegen blieben, dass das Gelände wie ein « winterliches Schlachtfeld » aussah, auf dem da und dort ein Kampfgenosse sein Erliegen fand; « denn hier in der Nachhut unterlagen die schwersten Körper, da sie am tiefsten in den Schnee todesmüde einsanken, am ersten; ihnen folgten die Brustschwachen, während die Mageren und schwächlich Aus-sehenden, wenn sie nur gesunde Lungen hatten, noch im Stande waren, den Kampf mit den unsäglichen Beschwerden ferners zu versuchen ». Und so geht die behäbige Beschreibung der heute eher als harmlos zu bewertenden Besteigung weiter. Nach der amüsanten Schilderung all der Fährlichkeiten durch Kürsinger, die übrigens ohne Pickel und Seil, nur mit Stöcken bestanden wurden, gibt Spitaler seine wissenschaftlichen Beobachtungen wieder, so über den Einfluss der verdünnten Luft auf die Atmung, den Kreislauf, die Funktion der Haut und der Nerven, über den stärkeren Lichteinfluss, und endlich des langen und breiten die geophysikalischen Ergebnisse.
Mitte des 19. Jahrhunderts treten die Engländer auf den Plan, und ihnen gebührt unbestreitbar der Ruhm, einen bedeutenden Teil der Westalpen erschlossen zu haben. Die Engländer waren es auch, die die sportliche Nuance in den Alpinismus brachten und für die das Ringen um den Bergsieg im Vordergrund stand. Gleichzeitig schlössen sie sich auch zu einer Vereinigung zusammen, dem berühmten, 1857 gegründeten Alpine Club, der im Gegensatz zu den späteren ähnlichen Vereinen des Kontinents nur die Elite der Bergsteiger erfasst. Ein Verdienst dieser Gemeinschaft war es auch, die wesentlichen alpinen Hilfsmittel, Pickel und Seil, in der heutigen Form ausgebildet zu haben.
Mit den Engländern beginnt die grosse Zeit der Erstersteigungen, die « goldene Zeit », jene Jahre von 1855-1865, wo ein Gipfel nach dem andern fiel - 1861 z.B. der Lyskamm durch den englischen Arzt Francis Sibson ( 1814-1876 ), Arzt und Dozent am St. Mary's Hospital und bekannt durch seine Untersuchungen über Physiologie und Pathologie der Verdauungsorgane - und wo ein Ball, Tucket, Stephen, Kennedy und viele andere ihre grossen Erfolge errangen, allen voran aber Eduard Whymper, einer der berühmtesten Bergsteiger, dem am 14. Juli 1865 nach unzähligen Versuchen in Begleitung von Lord Douglas, Hadow, Hudson und den Führern Michel Croz und Taugwalder Vater und Sohn die Besteigung des Löwen von Zermatt gelang, einen Tag bevor der Piemonteser Carell von Breuil, also von der italienischen Seite aus, den Gipfel erreichte. Der Sieg wurde teuer bezahlt: auf dem Abstieg glitt der bergunkundige Hadow aus und riss, da alle an einem Seil gingen, Croz, Douglas und Hudson in den Abgrund. Das Seil hielt der Beanspruchung nicht stand, und Whymper und die beiden Taugwalder blieben unversehrt. Die Katastrophe erregte grosses Aufsehen, namentlich in England, wo die Flut der Kritik an dem gefährlichen Sport einen Rückschlag für die ganze alpine Bewegung brachte. Der Sturm der Entrüstung in England ging so weit, dass Königin Victoria das Bergsteigen verbieten wollte. Aber das Unglück, mit dem sich der Berg gleichsam für die Profanation rächte, vermochte nicht wirklich die weitere Entwicklung des Alpinismus zu hemmen. Die siegreiche Eroberung der Alpen nahm ihren Fortgang. Unter den späteren Engländern ist auch ein Mediziner zu nennen, Clinton Thomas Dent ( 1850-1912 ), in der Medizin bekannt als Übersetzer von Billroths « Chirurgischer Klinik ». Als alpiner Schriftsteller verfasste er ein mit echt englischem Humor gewürztes Bergbuch « Above the snowline » ( London 1885 ) und lieferte den Hauptanteil zu einer Anleitung zum Bergsteigen ( « Mountaineering », London 1892 ). Dent setzte als erster seinen Fuss auf den Portjengrat und auf die Südlenzspitze, bestieg zum erstenmal das Zinalrothorn von Zermatt aus ( 1872 ) und die Aiguille du Dru nach 16 Versuchen ( 1878 ).
Einen neuen Impuls erhielt der Alpinismus in den 70er Jahren durch die deutschen und österreichischen Bergsteiger, bei denen sich mehr und mehr das führerlose Gehen durchsetzte. Glaubte man bis dahin, bei grossen Unternehmungen der Hilfe der Führer nicht entraten zu können - und dies war vorzüglich die Meinung der englischen Bergsteiger der goldenen Zeit und auch später noch - so wurde in den letzten Dezennien des ^.Jahr-hunderts der Beweis geliefert, dass das Können der Führerlosen der Routine der Führer ebenbürtig, ja in gewisser Hinsicht überlegen ist. Denn in vielen Führerlosen lebte und lebt ein prometheischer Drang, aus eigenen Kräften ein hoch gestecktes Ziel unter Missachtung aller Gefahr zu erreichen, was dem berufsmässigen Bergsteiger selten in gleichem Masse eigen ist. Zugleich verschiebt sich die Zielsetzung, es gilt nicht mehr so sehr, einen grossen Berg zu erobern, als vielmehr Schwierigkeiten zu überwinden, sich im Zweikampf mit den Gewalten der Natur zu messen und sich selbst im Bestehen von Gefahren zu erleben. Es versteht sich von selbst, dass unter diesen Umständen kein Platz mehr für einen Führer vorhanden ist. Zu dieser Entwicklung, die sich zuerst in den Ostalpen anbahnte, trug auch der Umstand bei, dass der deutsche Bergsteiger im allgemeinen weniger mit Glücksgütern gesegnet war und sich deshalb nur schwer einen Führer leisten konnte, während der Engländer, der schon die weite Reise nach dem Kontinent unternahm, auch die Mittel hatte, Führer und Träger zu engagieren.
Als Exponent dieser neuen Richtung im Bergsteigen tritt wieder ein Mediziner auf. Es handelt sich um Emil Zsigmondy ( 1861-1885 ). Geboren als Sohn des ungarischen Arztes und seinerzeit als Zahnarzt in Wien berühmten Adolf Zsigmondy, durchstreifte er schon früh mit seinem Bruder Otto, Zahnarzt ( 1860-1917 ), die gesamten österreichischen Alpen. Mit 18 Jahren gelang ihm die Erstersteigung des schwierigen Feldkopfes in den Zillertaler Alpen, der später Zsigmondyspitze benannt wurde. 1881 gesellte sich zu den beiden Brüdern Ludwig Purtscheller, der in seiner beispiellosen Bergsteigerkarriere 1900 Gipfel betreten sollte. Gemeinsam vollführten die drei nun die grössten Fahrten in den Schweizer Alpen, die Monte-Rosa-Ostwand, die Matterhorntraversierung, das Bietschhorn von Süden und schliesslich 1885 die Traversierung des Grand Pic de la Meije in den französischen Alpen, eines Berges, der seinerzeit fast ebenso umworben war wie das Matterhorn und erst 1877 durch drei Franzosen, die die Eroberung dieser Cime als eine nationale Angelegenheit auf fassten, erreicht wurde, durch Henri Cordier, Henry Duhamel und E. Boileau de Castelnau. An der Meije vollendete sich Zsigmondys Schicksal. Bei einem Versuch, die Südwand des Berges zu durchsteigen, stürzt er ab. Es ist eine eigene Tragik, dass der Mann, der mit seinen jungen Jahren bereits ein auf seinen persönlichen reichen Erfahrungen aufbauendes Buch über die Gefahren der Alpen geschrieben und soeben vollendet hatte, eben diesen Gefahren der Berge erliegen musste. Dabei vereinigte er in sich gerade die Eigenschaften, die den erfolgreichen Alpinisten ausmachen, sorgfältige Planung, Vorsicht, Besonnenheit, aber auch zähe Energie. Begraben wurde er, dessen Tod allen seinen Freunden und Berggefährten einen schwer verwindbaren Schmerz verursacht hatte, auf dem Friedhof des kleinen Ortes St. Christophe im Oisans.
Sein Buch aber war von bleibendem Wert, wie auch die gesammelten Aufsätze über seine Bergfahrten, aus denen ein lebendiges, tiefes Gemüt spricht. Sein früher Tod setzte nicht nur einer glanzvoll begonnenen Laufbahn als Bergsteiger ein Ende, sondern auch der eines seinen Beruf mit Hingebung ausübenden Mediziners, versah er doch schon mit 24 Jahren den Posten eines Operators an der chirurgischen Klinik Prof. Alberts in Wien.
Das im Jahre 1889 aufgetauchte Projekt einer Bahn auf die Jungfrau weckte das Interesse der Physiologen, denn man wollte wissen, ob die plötzliche Luftveränderung, der ein Passagier ausgesetzt ist, nicht der Gesundheit abträglich sei. Nachdem ein Vorschlag des Berner Physiologen Hugo Kronecker ( 1839-1914 ), einige Personen verschiedener Altersstufen mit einem Luftballon in grössere Höhen zu bringen und dann auf Hämoglobingehalt des Blutes, Pulsfrequenz usw. zu untersuchen, der hohen Kosten wegen abgelehnt worden war, entschloss man sich, sieben Versuchspersonen in Tragsesseln auf das leicht zu erreichende Zermatter Breithorn ( 4174 m ) zu tragen.
Andere physiologische Untersuchungen stellte der Turiner Professor für Physiologie Angelo Mosso ( 1846-1910 ), ein Schüler J. Moleschotts, an, der auf dem Col d' Olen ( 2900 m ) am Monte Rosa und auf der Punta Gnifetti ( 4560 m ), einem Gipfel dieses Berges, ein internationales Laboratorium gründete und ein Werk über die « Fisiologia dell' uomo sulle Alpi » ( Mailand 1897 ) herausgab. Seine Forschungen können in das Wissenschaftsgebiet der Höhenforschungen gestellt werden, zu denen neben den genannten physiologischen Untersuchungen auch solche meteorologischer und physikalischer Richtung und die Erforschung der kosmischen Strahlung gehören. Während das Observatorium des französischen Astrophysikers J. Janssen ( 1824-1907 ) zuoberst auf dem Gipfel des Mont Blanc nur eine relativ kurze Lebensdauer aufwies - es bestand von 1893-1909 - sind die Forschungsinstitute von Davos und auf dem Jungfraujoch dauernde Einrichtungen.
Allmählich verengerte sich in den Alpen das Neuland, das noch zu erschliessende Gebiet; die tatendurstige Jugend, die nach neuen Unternehmungen drängte, verlegte sich immer mehr auf spezielle Probleme, auf direkte Anstiege durch Fels- oder Eiswände, zugleich nahm die alpine Technik einen ungeahnten Aufschwung; was man lange für absolut unmög- Die Alpen - 1955 - Les Alpes lieh, ungangbar und unersteiglich gehalten hatte, wurde gemacht, einmal, mehrere Male, ja wird zur Modetour für Bergsteiger strenger Observanz. Zu ihnen gehört der Wiener Chirurg Hans Lorenz ( 1873-1934 ), der zahlreiche neue Fahrten in den Dolomiten unternahm, und Hans Lauper ( gest. 1936 ), Zahnarzt, einer der tüchtigsten schweizerischen Bergsteiger. Gleichzeitig suchte man auch in aussereuropäischen Gebirgen Lorbeeren zu erringen.
Ein Bergsteiger-Arzt, der zur Entwicklung der alpinen Technik beigetragen und sich auch im Karakorum und im Himalaya versucht hat, ist der Schweizer Arzt J. Jacot-Guillar-mod ( 1868-1925 ). Er war es, der mit seinem Beispiel den sogenannten Eckenstein-Steigeisen zur allgemeinen Aufnahme verhalf, indem er ihre Verwendbarkeit mit seinem Anstieg auf den Mönch über den Nollen unter Beweis stellte. Jacot-Guillarmod war ein enthusiastischer, gerader, wenn auch kantiger Charakter, eigenwillig und auch zu optimistisch, was seine beiden Himalaya-Expeditionen beweisen. Er steckte seine Ziele zu hoch, zu hoch für seine Fähigkeiten und auch für sein Organisationstalent. So waren seine Besteigungsversuche in diesem Gebirge, die er als erster Schweizer unternahm, beides Misserfolge, sowohl der Angriff auf den zweithöchsten Berg der Welt, den K 2 im Karakorum im Jahre 1902, als auch der 1903 auf den Kangchendzönga, wobei er einen Gefährten in einer Lawine verlor. Um den SAC machte er sich mit der Herstellung eines Klubhüttenalbums verdient. Seine unruhige Abenteuernatur trieb ihn 57jährig noch nach Afrika hinaus, vermutlich zur Besteigung des Ruwenzori, als ihn sein Schicksal erreichte. Schon nicht mehr bei völliger Gesundheit, änderte er am Viktoriasee seine Reisepläne und starb auf der Heimreise von Mombasa. Sein Grab soll sich in Aden befinden.
Wenn auch in der Gegenwart die Eroberung der Alpen weitgehend abgeschlossen ist, so gibt es doch unter den zeitgenössischen noch lebenden Ärzten eine Anzahl, die in irgendeiner Weise zur weiteren Erschliessung der Alpen, sei es auf dem Gebiet des alpinen Skilaufes, sei es mit der Herausgabe von Klubführern, Routenbeschreibungen und dergleichen beigetragen haben. Sie beweisen, dass das Gebirge auch fernerhin seinen Zauber auf die Jünger Äskulaps ausübt und ihr Interesse findet und dass der Same, den ein Gessner im 16. Jahrhundert gesät hat, auf guten Boden gefallen ist.