3. Die Herrschaft der Urkantone
Die Einfälle der Urschweizer in das Tessintal begannen schon früh und hingen mit der Entwicklung des Passverkehrs über den Gotthard zusammen. Schon 1331 überschritten die Talleute von Urseren und die Waldstätte, unterstützt von Zürich, den Gotthard, um sich den südlichen Zugang zu diesem Passe zu sichern. Nachdem sie für den Verkehr auf dem damals schon lebhaft begangenen Gotthard-saumweg bis nach Biasca hinab geordnete Verhältnisse hergestellt hatten, verliessen sie die Leventina wieder. Das waren aber, wie es sich bald ergab, nur un-genügendeMassnahmen. Ohne eine dauernde Besitzergreifung der Leventina konnte dort der schweizerische Einfluss auf die Länge nicht aufrechterhalten werden.
Das Offenhalten des Gotthardpasses nach Süden und Norden war für die Waldstätte eine Lebensfrage. In ihren engen Bergtälern hätte sich die junge Eidgenossenschaft auf die Länge nicht behaupten können. Sie brauchte Zugänge zu den fruchtbaren Niederungen und Gelegenheit zum Austausch der Landesprodukte. Auch konnte sie es nicht darauf ankommen lassen, nur nach der einen Seite einen solchen Zugang zu besitzen, sondern sie musste nach Nord und Süd Jahrbuch des Schweizer Alpenclub 57. Jahrg. offene Türen haben. Durch den Sieg von Sempach ( 1386 ) wurde der Zugang nach Norden in der Hauptsache sichergestellt, und die Waldstätte richteten nun ihre Blicke nach dem Süden. Mit einer unbeirrlichen Politik und nie erlahmenden Tatkraft verfolgten sie ihr Ziel. Die oft entgegengesetzte Politik der andern Kantone vermochte sie weder zu schwächen noch abzulenken. Rückschläge und Enttäuschungen erlitten die Waldstätte auf ihren ennetbirgischen Zügen viele, aber sie waren stets rasch überwunden.
Der Sieg von Sempach hatte die Unternehmungslust gefördert, aber die Zeiten waren für ennetbirgische Kriegszüge nicht günstig, denn die Leventina stand nur noch dem Scheine nach unter dem schwachen Domkapitel von Mailand. Herr der Talschaft war jetzt der Pachtinhaber des Podestates, der mächtige Herzog von Mailand, Gian Galeazzo Visconti. Schon 1351 war es den Visconti gelungen, die Leventina in ihre Gewalt zu bringen. In diesem Vorgehen sowie darin, dass sich die Visconti mit dem Hause Österreich verschwägerten, lag die bestimmte Absicht, den Eidgenossen die beiden Zugänge zum Gotthard zu verlegen, um damit schliesslich diesen selbst in die Hand zu bekommen. Die grosse Bedeutung des Gotthardpasses für den Verkehr und für Machtpolitik wurde also auch von dieser Seite schon früh erkannt. Die Eidgenossen kamen in eine unerträgliche Lage, die sich durch den Sieg von Sempach zwar bedeutend verbesserte, die aber nur dann vollkommen befriedigend sein konnte, wenn es gelang, auch nach Süden eine offene Türe zu schaffen.
Die Gelegenheit dazu bot sich, als 1402 Gian Galeazzo Visconti starb und dessen kräftiger Regierung die schwache Regentschaft seiner Witwe, der Herzogin Caterina, folgte.Von allen Seiten bedroht, kam unter ihr das ganze Herzogtum Mailand ins Wanken. Uri und Obwalden besetzten die Leventina bis hinab zum Bache von Moleno, der alten Südgrenze dieser Talschaft. Um die Eroberung auf-zurunden, legten die beiden Länder zugleich noch Hand auf Biasca, Osogna, Cresciano und Claro, also auch auf das linksufrige Gebiet der Riviera, das damals längst nicht mehr zur Leventina gehörte. So wurde die ganze Riviera der Leventina einverleibt, und diese huldigte am 19. August 1403 Uri und Obwalden.
Aber weiter unten im Tessintale sperrte immer noch das feste Bellinzona den Austritt in die Ebene der Lombardei. Die Erwerbung dieser Stadt war daher das. nächste Ziel, und als sich hierzu Gelegenheit bot, griffen Uri und Obwalden rasch zu. Bellinzona war in die Gewalt der Freiherren von Sax ( de Sacco ) zu Misox gelangt, die sich unter dem Vorwand, der verstorbene Herzog Gian Galeazzo schulde ihnen noch Sold für geleistete Kriegsdienste, dieser mailändischen Stadt bemächtigt hatten. Diese Freiherren von Sax waren 1407 von Uri und Unterwaiden ins Landrecht aufgenommen worden in der Absicht, die tessinischen Eroberungen damit zu festigen. Bellinzona wurde bei dieser Gelegenheit als eine für die Landleute von Uri und Obwalden offene Stadt erklärt. Im Jahre 1419 bewogen die beiden Länder die Freiherren, ihnen Stadt und Herrschaft Bellinzona käuflich abzutreten, was dieselben wohl im Hinblick auf den unsichern Besitz gerne taten. Denn inzwischen war die Macht des Herzogtums Mailand wieder erstarkt, und die Gefahr, dass sich dasselbe wieder der entrissenen Stadt bemächtigen würde, lag nahe. Kaum war der Kauf abgeschlossen, so richtete denn auch der Herzog Philipp Maria Visconti an die beiden Länder das Begehren, ihm die Stadt zurück-zuverkaufen. Dieses Ansinnen wurde selbstredend abgelehnt. Hierauf brachte der Herzog die schwach besetzte Stadt durch einen Handstreich in seine Gewalt ( 4. April 1422 ). Damit fiel ihm auch die ganze Herrschaft Bellinzona, die bis auf den Monte Ceneri reichte, wieder zu. Er begnügte sich aber damit nicht, sondern er nahm den beiden Ländern auch noch die Riviera und Leventina bis fast zu oberst wieder ab. Auch der dem Freiherrn Hans von Sax gehörenden Val Blenio sowie der zu den übrigen eidgenössischen Orten ( mit Ausnahme von Bern und Schwyz ) übergegangenen Talschaften Val Verzasca, Val Maggia und Val d' Ossola bemächtigte sich der Herzog.
Biasca war wieder mailändisch geworden. Um so schlimmer war es daher für den Flecken, als schon bald nach dem Falle von Bellinzona Urner und Obwaldner die Leventina und Riviera durchstreiften und sich, wenn auch erfolglos, wieder Bellinzonas zu bemächtigen suchten. Offenbar hat Biasca in jenen Zeiten gelitten, denn der Herzog befreite es, wohl als Entgelt hierfür, für 10 Jahre von allen besondern Abgaben. Um die Treue des wichtigen Ortes zu stärken, schenkte er ihm zudem die Freiheit, sich selbst zu regieren und einen eigenen Richter ( console ) wählen zu dürfen. Aus all dem geht hervor, dass der Herzog auf die Leventina wenig Vertrauen setzte, dagegen damit rechnete, bei einem neuen Einfalle wenigstens hinter dem Brenno Widerstand leisten zu können. Es kam aber nicht dazu. Der nächste Einfall der Eidgenossen erfolgte so überraschend, dass das Vorgelände der Festung Bellinzona kampflos in deren Gewalt fiel. Die herzoglichen Truppen erwarteten den Angriff hinter den sichern Mauern Bellinzonas, an denen sich denn auch diesmal, wie immer, der Anprall brach. Biasca aber als offener Flecken lag der Willkür der Eidgenossen preisgegeben, bei den damaligen barbarischen Kriegsgebräuchen ein hartes Los. Vielleicht noch schlimmer mag es den Biaskesen ergangen sein, als die Eidgenossen bald darauf, in der Schlacht bei Arbedo ( 30. Juni 1422 ) von einer grossen Übermacht besiegt, wieder heimwärts zogen. Wem es in solchen Tagen nicht gelang, die bewegliche Habe in die versteckte Val Pontirone oder in die schwer zugänglichen Maiensässen des Monte di Biasca hinauf zu retten, ging ihrer verlustig.
Vergeblich versuchten nach dem unglücklichen Ausgang der Schlacht von Arbedo vorerst die Innerschweizer, vor allem Uri, die Eidgenossen zu einem Rachezug mitzureissen. Die Verluste waren so gross gewesen, dass es einige Jahre ging, bis ein solcher Zug zustande kam. Derselbe verlief dann insofern resultatlos, als er an der Moesa sein Ende nahm. Es kam zu keinem Treffen und auch eine bleibende Besetzung des Gebietes unterblieb ( 1425 ). Sicherlich wird aber Biasca diesen Rachezug hart verspürt haben, und der im Jahre darauf zwischen dem Herzog und den Eidgenossen abgeschlossene Frieden wird ihm sehr willkommen gewesen sein.
Der dadurch geschaffene Zustand mag dem Herzog schon insofern erwünscht gewesen sein, als er nun unumschränktes Recht in den Tessintälern gewonnen hatte und das Domkapitel von einer Mitregentschaft grundsätzlich ausgeschaltet worden war.
Im Jahre 1434 erfreute sich Biasca mit den andern Gemeinden der linksufrigen Riviera neuer Gunst des Herzogs, indem es von der Steuerlast Bellinzonas befreit wurde. Im selben Jahre wurden auch seine Statuten bestätigt. Es ist dies eine Sammlung von Vorschriften bzw. Satzungen für das öffentliche Leben, auch für die Alpwirtschaft und das Saumwesen. Es gewähren dieselben interessante Einblicke in die damaligen Verhältnisse.
Aber schon 1439 überschritten die Urner, die gefürchteten « Suyceri », wie sie die Mailänder mit den andern Eidgenossen zusammen nannten, den Gotthard neuerdings. Die treu gebliebenen Liviner schlössen sich ihnen mit Freuden an, ebenso folgten Bewohner der Val Blenio dem Zuge. Es gelang auch diesmal nicht, Bellinzona einzunehmen; so schwierig war die Lage des Herzogtums, welche die Urner zu dem Zuge ermuntert hatte, denn doch nicht. Aber wenigstens kehrten die Urner diesmal nicht ohne Erfolg über den Gotthard zurück. Der Herzog musste ihnen den grössten Teil der Leventina, ungefähr jenes Gebiet, das man heute noch mit diesem Namen bezeichnet, verpfänden. Damit erfüllte sich ein Wunsch der dortigen Bevölkerung, die Uri schon von früher her zugetan war. Iragna und Lodrino, überhaupt die ganze rechtsufrige Riviera, wurden von der Leventina endgültig abgetrennt und blieben mailändisch, wie denn auch das ganze heutige Riviera genannte Gebiet zum erstenmal als zu einer Talschaft zusammengeschlossen erscheint.
Biasca wurde in diesem Feldzuge wieder so stark mitgenommen, dass der Herzog im folgenden Jahre den Schaden durch neue Gunstbezeugungen zu mildern suchte. Aber die Lage des Fleckens blieb, nachdem der Brenno neuerdings wieder Grenze geworden war, eine sehr gefährliche. Der im Jahre 1441 zwischen dem Herzog und den Eidgenossen geschlossene Frieden stellte die Ruhe nur offiziell wieder her. Das schlechte Einvernehmen zwischen den Leventinern und den treu mailändisch gesinnten Biaskesen blieb bestehen.
Als im Jahre 1447 im Herzogtum Mailand Wirren ausbrachen und sich die Stadt Mailand als ambrosianische Republik erklärte, machte sich das Uri wiederum zunutze. Mehrmals überschritten seine Krieger, unterstützt von den Talleuten von Urseren und der Leventina, den Brenno und kämpften als Verbündete auf der Seite der ambrosianischen Republik gegen den Condottiere Francesco Sforza, der sich zum Herzog von Mailand hatte ausrufen lassen. Diese Feldzüge endigten mit dem Siege Sforzas ( 1449, Castiglione bei Varese ), und Uri ging ohne Land-gewinn aus diesem Unternehmen hervor, doch blieb ihm die Leventina. Wahrscheinlich hatte es der Herzog für klug befunden, diesen gefährlichen Nachbar nicht noch besonders zu demütigen, wiewohl er hierzu Anlass gehabt hätte, denn das dem Herzog treueBiasca wurde in diesem Feldzuge von denürnern undLivinern verbrannt. Die Einwohnerschaft, die sich offenbar zur Wehr gestellt hatte, wurde zum grössten Teil niedergemacht und die Übriggebliebenen zersprengt. Die Einwohnerzahl sank dadurch auf 100 herab.
Francesco Sforza suchte wiederum, Biascas Wunden zu heilen und seine treue Gesinnung zu stärken. Er bestätigte am 25. März 1456 der Gemeinde ihre Unabhängigkeit von Bellinzona.
Unmittelbar darauf schloss der Herzog mit Uri Frieden und suchte sich, nachdem er nun das Herzogtum Mailand in seine Gewalt gebracht hatte, die Eidgenossen als Freunde zu gewinnen.
Trotz diesem freundschaftlichen Verhältnis muss das Einvernehmen hier an der Grenze kein gutes gewesen sein. Gerade zur Zeit, als der Herzog von Mailand bei den Eidgenossen um den Abschluss eines Bündnisses nachsuchte, kam es am Brenno zwischen Livinern und Bürgern von Biasca zu einem heftigen Streite ( Fastnacht 1465 ). Der Podestà von Biasca, Giovanni Muggiasca, wurde dabei mit sechs seiner Mitbürger schwer verletzt. Der Herzog verlangte bei den Urnern Biasca und Val Pontirone.9#3 Bestrafung der Schuldigen. Aber sogar nach einem halben Jahre waren diese noch nicht ermittelt. Man beeilte sich nicht, vielleicht weil Muggiasca selber ein gewalttätiger Mann war und es den Livinern bekannt sein musste, dass er vor wenigen Jahren einen seiner Mitbürger im Streite erschlagen hatte 9 ).
Mehrfach scheinen die Liviner Streifzüge in das herzogliche Gebiet unternommen zu haben, in die Val Blenio, aber auch in die Riviera. So wurde im Frühling 1467 das nahe Iragna von Livinern unter Anführung von Hans zum Brunnen aus Uri ausgeplündert. War schon so in Zeiten, die offiziell als friedliche bezeichnet wurden, das Verhältnis ein gespanntes, so verschlechterte sich das nun noch immer mehr. Von Mailand aus gab man sich Mühe, sich inzwischen Biasca treuzuhalten. Das blieb auch so, als nach dem Tode des Herzogs Francesco Sforza 1467 seine Witwe, Bianca Maria, die Regierung übernahm. Die Herzogin bestätigte 1467 die Privilegien Biascas.
Zehn Jahre später tat das auch Bona Sforza.
Die Mailänder sahen es mit Freuden, als die Zwistigkeiten zwischen den Eidgenossen und dem mächtigen Herzog Karl dem Kühnen von Burgund einem kriegerischen Ausgange entgegenreiften. Sie schlössen sich dem in seiner gewaltigen militärischen Macht als unüberwindlich geltenden Herzog an. Sie dachten, dass nun die Gelegenheit gekommen sei, die Macht der Eidgenossen, ihrer ewigen Bedränger, gründlich zu brechen. Der Abschluss des Bündnisses zwischen Kart dem Kühnen und Mailand wurde daher in den mailändischen Tessintälern mit. Festlichkeiten gefeiert. Das fassten die Eidgenossen, die mit dem Herzogtum Mailand in einem Freundschaftsbunde standen, als eine Herausforderung auf-Als ihnen dann noch gar in den Reihen der Burgunder mailändische Truppen gegenübertraten, fiel die Anregung der Urkantone zu einem ennetbirgischen Vergeltungszuge nach dem glücklichen Verlauf des Burgunderkrieges auf empfänglichen Boden. Mailand erkannte die drohende Gefahr bald und bot nun alles auf, sie abzuwenden. Versprechungen und Geldgeschenke an einflussreiche Eidgenossen vermochten noch im letzten Augenblicke die allgemeine Empörung zu dämpfen.
Als aber die Erfüllung der Versprechungen auf sich warten liess ( es handelte sich um die offizielle Abtretung der Leventina an Uri, glaubte sich dieses geprellt, griff zu den Waffen und überschritt den Gotthard. Ohne die Ankunft der Urner abzuwarten, scheinen die Liviner, die mit ihren südlichen Nachbarn wegen Alprechten und Kastanienwaldungen im Streite lagen, die Feindseligkeiten eröffnet zu haben. Sie drangen bis Biasca vor. Ihnen folgten bald die Urner nach. Der Zeitpunkt war für einen Feldzug schlecht gewählt; der Winter stand vor der Türe.
Mitte November ( 1478 ) erschienen die Urner, verstärkt durch die Liviner, am Brenno. Ohne Widerstand zu finden, überschritten sie den Fluss. Erst machten sie Miene, sich der Val Blenio zuwenden zu wollen, kamen aber hiervon ab und bezogen bei Ponte draussen ein Lager. Die grossen Nussbäume, die damals dort standen und deren Äste bis auf den Boden reichten, wurden in Ermangelung von Zelten als Obdach benützt, denn die wenigen Häuser der Umgebung genügten nicht. Biasca, das wahrscheinlich damals durch einige schwache Mauern und Türme oder Wälle geschützt war, beobachtete die Bewegungen des gefürchteten Feindes mit Schrecken, und der Podestà Battista Tatto10 ), zu schwach, um Widerstand leisten zu können, meldete vorläufig über die Vorgänge bei den Eidgenossen fleissig nach Bellinzona.
Mit Misstrauen wird Tatto auch einen Teil der Bürgerschaft beobachtet haben, denn darunter gab es Anhänger der Eidgenossen. Vor allem war der Priester Giacomo de Gana ( siehe Kapitel 4 ) verdächtig, über den der Podestà schon vor einem Jahre Klage geführt und seine Verweisung aus der Gemeinde verlangt hatte. Dieser Priester de Gana hatte, nach all den Klagen, die der Podestà über ihn erhoben, allerdings mehr die Eigenschaften eines verwilderten Soldaten als die eines Gottesmannes. Doch mag die Aufzählung aller seiner Missetaten vielleicht nur dazu gedient haben, den politisch unbequemen Mann zu entfernen, was aber nicht gelang. Vielleicht weil de Gana Bürger von Biasca war.
Vielleicht hatten die Liviner die Urner von einem Eindringen in die Val Blenio mit der Begründung abgehalten, dass sich die dortigen Bewohner dem Zuge anschliessen würden. Letzteres geschah denn auch. Mit Freudengeschrei wurde die Ankunft der Talleute von Blenio im Lager der Urner begrüsst, wie Tatto nach Bellinzona meldete.
Biasca, aus dem die meisten Einwohner sich flüchteten, fiel ohne Widerstand und wurde zum grössten Teil niedergebrannt. Den Zurückgebliebenen gelang es, sich mit einer Brandschatzung von 100 rheinischen Gulden und zwei Rindern ihre Heimstätten zu retten.
Unter Führung des Bleniesen Giovanni Vivenzio, eines rührigen Parteigängers der Urner, drangen diese sogar in die Val Pontirone ein. Ohne darauf aufmerksam gemacht worden zu sein, wäre es ihnen kaum eingefallen, in jener Bergwildnis ein Dorf zu suchen. Auch hätten sie bei der schwierigen Zugänglichkeit, die damals noch viel schlimmer war als heute, den Weg ohne kundige Führung dorthin kaum gefunden. Während die Urner und Bleniesen dort plünderten, wurden sie von den Bauern überfallen. Acht Urner wurden erschlagen. Aus Rache wurde dann das Dörfchen niedergebrannt.
Vom Berghange ob Iragna beobachtete ein mailändischer Posten die Bewegungen des Feindes bei Pollegio und Biasca. Er stellte fest, dass zunächst erst etwa 600 Mann beisammen waren. Diese rückten nun bald vor, plünderten die Dörfer der Riviera aus und steckten sie in Brand. An der Moesa warteten sie die Ankunft ihrer Bundesgenossen ab. Die eidgenössische Streitmacht wuchs schliesslich auf 8000 Mann an.
Die Eidgenossen schlössen nun Bellinzona von allen Seiten ein. An eine Erstürmung der starken Feste wagten sie sich dagegen nicht, wie denn ja der Belagerungskrieg nie ihre starke Seite gewesen ist. Sie behaupteten, ohne Artillerie, die sie zwar jetzt aus der Burgunderbeute besassen, aber über den Gotthard nicht nachziehen konnten, nichts ausrichten zu können.
Abteilungen, die zur Sicherung durch die Val Morobbia auf den Joriopass und auf den Monte Ceneri vordrangen, verbreiteten durch die damals übliche, grausame Kriegführung grossen Schrecken. In Lugano schwebte man, einen Einfall der Eidgenossen befürchtend, in grosser Angst.
Der Herzog von Mailand war von dem plötzlichen Einfall der Eidgenossen, den er in so später Jahreszeit nicht erwartet hatte, völlig überrascht. Er Hess in aller Eile Truppen sammeln und brachte schliesslich ein Heer von 10,000 Mann zusammen. Als aber dieses vor Bellinzona eintraf, waren die Eidgenossen schon von dort abgezogen. Der Hauptgrund dieses Rückzuges lag jedenfalls darin, dass die Führer der Eidgenossen den Kampf mit dem anrückenden mailändischen Heer nicht mehr aufzunehmen wagten. Durch die lange, untätige Belagerung war die Disziplin im eidgenössischen Heer bedenklich gelockert worden. Der Mangel an Proviant und Brennholz bei der eingetretenen Kälte hatte diesen Übelstand noch gefördert. Zudem drohten die Schneeverhältnisse am Gotthard immer schlimmer zu werden. Es entstand die Gefahr, ohne Proviant, von der Heimat abgeschnitten, mit unzuverlässigen Truppen einem übermächtigen Feinde die Spitze bieten zu müssen. Das war wohl ein Hauptgrund dieses Rückzuges. Ob gar noch mailändisches Gold im Spiele war, wie die über den Rückzug erbitterten Innerschweizer behaupteten, ist nicht erwiesen, aber bei den damaligen traurigen Zuständen nicht ausgeschlossen. In Giornico blieben zur Bewachung der Leventina 600 Mann, meistens Liviner, zurück, mit einer auf Pollegio vorgeschobenen Feldwache.
Den Mailändern war somit der Entsatz der Feste Bellinzona gelungen, und das mailändische Gebiet war von dem Feinde befreit. Damit begnügte sich aber der Herzog nicht. Die Nachrichten von den Verwüstungen, die der Einfall gebracht hatte, und die Empörung über die Liviner, die dabei immer Gefolgschaft geleistet hatten, bewogen ihn trotz dem Abraten seiner Truppenführer zu einem Rachezug in die Leventina. Die bestimmten Meldungen über die geringe Zahl der zurückgebliebenen Feinde liessen den Herzog an einem glücklichen Ausgang dieses Unternehmens nicht zweifeln.
Biasca und Iragna und die vielen talabwärts gelegenen Dörfer wurden von mailändischen Truppen besetzt. Die Unterkunft wird, da alles ausgeplündert, vieles niedergebrannt war, schlecht genug gewesen sein. Dazu herrschte Kälte, auch lag hoher Schnee; es hatte zwei, drei Tage geschneit. Am 28. Dezember, dem « Unschuldigen Kindleinstage », dessen Andenken darauf noch lange fortlebte, brachen die Mailänder in zwei Kolonnen auf. Die eine überschritt bei Ponte den Brenno, die andere rückte am rechten Tessinufer vor. Man hatte beabsichtigt, eine dritte Kolonne von der Val Blenio aus über den Monte di Sobrio dem Feinde in den Rücken zu dirigieren. Dies unterblieb des hohen Schnees wegen. Pollegio trafen die Mailänder verlassen; die eidgenössische Feldwache, die man zu überraschen gedachte, hatte sich, durch ihre Posten rechtzeitig gewarnt, auf Giornico zurückgezogen. Auch in Personico und Bodio stiessen die vorrückenden Mailänder nirgends auf Widerstand. Langsam bewegten sich die langen Kolonnen durch den Schnee talaufwärts. Die brennenden Häuser verkündeten den Eidgenossen und Livinern schon aus der Ferne den Anmarsch des mailändischen Heeres. Als die Spitze die Talebene südöstlich Giornico erreicht hatte, wurde sie von den Eidgenossen plötzlich mit Ungestüm angegriffen. Das geschah so schnell und wuchtig, dass der Widerstand der Spitze sofort gebrochen und diese auf die Hauptmacht zurückgeworfen wurde. Da offenbar wenig Ordnung in den Kolonnen herrschte und zudem der Raum zur Entwicklung gering war, riss die flüchtende Spitze die Hauptmacht mit, und schliesslich flüchtete das ganze grosse, 10,000 Mann starke mailändische Heer das Tal hinab, verfolgt von den scharf nachdrängenden Eidgenossen und Livinern. Diese wüteten fürchterlich unter den Flüchtigen. Nur wenige Gefangene, solche, von denen man sich ein hohes Lösegeld versprach, wurden gemacht. Bis hier zur Brennobrücke hinab erstreckte sich die Verfolgung. 1400 Mailänder lagen erschlagen am Wege. Eine beträchtliche Beute fiel dem Sieger in die Hände.
Das ist der Verlauf der Schlacht von Giornico. Es war der offene Kampf einer entschlossenen, gut geführten Schar gegen eine auf ihre Stärke vertrauende und daher sorglose, gewaltige Übermacht. Der Hergang ist in der Schweizer Kriegsgeschichte, 3. Heft, überzeugend und klar geschildert. Die Kriegslist, mit der die Eidgenossen durch Stauen des Tessins die Talebene in ein Eisfeld verwandelten, und das Herabrollen von Felsblöcken und Baumstämmen von den Bergen ist wahrscheinlich Legende. Auf keinen Fall brachte es die Entscheidung. Herr Dr. Eligio Pometta machte mich darauf aufmerksam, dass er die frühere Darstellung der Schlacht, wonach die Liviner durch überraschenden Angriff aus dem Hinterhalt und durch das Herabrollen von Steinen den Sieg errangen, für richtiger halte. Die Eidgenossen hätten nicht gekämpft, und ein Vormarsch der Mailänder Truppen am rechten Tessinufer sei zweifelhaft, des schlechten Weges wegen. Ich neige nun allerdings aus militärischen Gründen eher zu der in der Schweizer Kriegsgeschichte angeführten Darstellung des Anmarsches und kann mir nicht recht vorstellen, wie durch Steinschlag die ganze Kolonne ins Wanken gebracht werden konnte.
« Victoriam helvetiorum » las ich einst auf einem Felsblock des Schlachtfeldes. In Ölfarbe waren diese zwei Worte hingemalt, ein bescheidenes Denkmal für die mutvolle Tat! Aber es bedarf eigentlich nicht mehr, denn als eines der schönsten Blätter schmückt sie unsere Landesgeschichte und bleibt so ewig erhalten.
Der Sieg erweckte grossen Jubel bei den Eidgenossen, hauptsächlich aber unter den Livinern, die sich nun von der Gefahr eines mailändischen Rachezuges befreit fühlten. Der Luzerner Dichter Viol sang:
St. Gotthard soll man prisen er schwebt im Land so fri er thet sin Kraft bewisen den sinen wont er bi.
Wenige Wochen nach dem Siege bemächtigten sich die Urner und Liviner Biascas und der Val Blenio ( Januar 1479 ) zur Freude der besonders in diesem Tale bereits starken eidgenössischen Partei. Dieser Besitz war aber wiederum nur von kurzer Dauer. Schon im September 1479 kam zwischen den Eidgenossen und Mailand ein Friede zustande, nach welchem Uri seine letzten Eroberungen wieder herausgeben musste, während das Livinental nun in aller Form in seinen Besitz überging.
Der Verlust von Biasca und der Val Blenio wurde von Uri stark empfunden, und es hatte sich daher kräftig gegen diese Entscheidung gewehrt. Aber vorläufig war nichts zu erreichen bei der vielfach entgegengesetzten Politik der andern Kantone. Diese Enttäuschung hielt das zähe Urnervolk nicht davon ab, seinen Blick weiterhin nach dem Süden zu richten. Das Ziel war Bellinzona, der Schlüssel des Tessintales. Die Riviera wurde nur als Verbindungsland bewertet. Nur Biasca, dessen Besitz die Beherrschung des südlichen Lukmanierzuganges garantierte, erschien für Uri von grösserer Wichtigkeit.
Biasca lebte in der bangen Erwartung, dass der Brenno, der vorläufig wieder zur Grenze geworden war, trotz dem abgeschlossenen Frieden von den unruhigen Nachbarn bald wieder überschritten würde. Aus dieser Befürchtung wurde die Erstellung von militärischen Anlagen geplant. Giovanni da Lodi und Antonio da Premenugo, zwei mailändische Ingenieure, weilten 1481 zu diesem Zwecke in Biasca. Über das Ergebnis ihrer Studien ist nichts bekannt. Die vielen Vorteile, welche die Liviner genossen, während die noch mailändischen Gemeinden der Tessintäler von dem geldbedürftigen Herzog stark zu Steuern herangezogen wurden, brachten eine Missstimmung unter diese mailändischen Untertanen. Dadurch wuchs die Zahl der Anhänger Uris bzw. der Eidgenossen, deren Macht und Ansehen seit der Schlichtung des Zwiespaltes am Stanser Verkommnis ( 1481 ) wieder hergestellt und gewachsen war.
Vielleicht hatte sich auch in Biasca eine Schwenkung zugunsten der Eidgenossen vollzogen, und der Kirchenbann, mit dem die Domherren von Mailand, die offiziellen Herren Biascas, 1484 die Bürger belegten, war eine Strafe dafür. Ebenso mag dem im selben Jahre zwischen Biasca und Iragna von neuem ausgebrochenen, heftigen Streit eine ähnliche Ursache zugrunde gelegen haben n ).
Es heisst zwar, dass ein Wehr, womit sich Biasca vor dem Überfluten des Tessins schützen wollte, die Bewohner von Iragna in Bewegung gebracht habe. Diese behaupteten, durch die Wuhr werde ihre Gemeinde gefährdet. Dem Herzog kam dieser Streit sehr ungelegen. Er forderte die Gemeinden angesichts ihrer Lage als Grenzorte dringend auf, sich zu vertragen.
Ungewollt half in Biasca ein mailändischer Beamter die eidgenössische Sache mächtig fördern. Das war der Console Giovanni Pitighetto, ein tapferer und kühner Soldat, der seiner Regierung in den Kämpfen gegen die Schweizer wertvolle Dienste geleistet hatte. Wohl aus diesem Grunde war er hierher auf den exponierten Posten berufen worden. Aber er erwies sich als ein gewalttätiger und für friedliche Verhältnisse ungeeigneter Beamter, der den Bürgern Biascas viel Ungemach bereitete. Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass insgeheim eidgenössische Umtriebe Pitighetto entgegenarbeiteten und ihn zu Fall zu bringen suchten. Schliesslich wurde Pitighetto ( 1491 ) auf Vorstellung der Bürgerschaft, die eine grosse Anklage-schrift gegen ihn aufgestellt hatte, abberufen.
Während der Einfluss und die Zuneigung zu den Eidgenossen in der Val Blenio und der Riviera wuchs, bemühte sich Mailand neuerdings, Biasca durch nochmalige Bestätigung seiner Freiheiten an sich zu ketten, aber es half nichts mehr. Die Stimmung hatte sich nun auch in Biasca, wie in allen Gemeinden ringsum, stark von Mailand abzuwenden begonnen. Man war der immerwährenden Angriffe von Norden, vor denen Mailand nicht zu schützen vermochte, müde geworden. Da die Leventina damals unter allen Talschaften die grössten Freiheiten und Vorteile genoss, so beneidete man sie um ihre Zugehörigkeit zu Uri. Mit Ärger sahen die mailändischen Beamten in der Val Blenio, wie den Urner Boten ein so freundlicher Empfang bereitet wurde wie nie einem der ihrigen ( 1496 ).
Im Jahre 1496 ging unter dieser Stimmung bereits eine Gemeinde der Riviera, Lodrino, von sich aus zu Uri über. Auch hier wie bei der ähnlichen Bewegung in Biasca wurde eine kirchliche Strafe über die Einwohner verhängt. Dieselben wurden von den Domherren von Mailand, denen der Form nach die Hoheitsrechte zukamen, exkommuniziert und aus der Kirche von Moleno, wohin sie gehörig waren, ausgestossen. Darin, dass es der Herzog unterliess, gegen die Leute von Lodrino mit weltlichen Strafen vorzugehen, lag wahrscheinlich die Vorsicht, alles zu vermeiden, das dazu führen könnte, sich mit den Eidgenossen in Händel zu verwickeln. Diese waren zudem nicht seine einzigen Feinde in der Gegend. Denn dazu zählte auch noch der Herr des Misoxertales, Gian Giacomo Trivulzio, ein Todfeind des Herzogs, der denselben nachträglich aus dem Herzogtum vertreiben half. Trivulzio, dem auch die Val Calanca gehörte, benutzte den Passo di Giumella, um durch die Val Pontirone und durch die urnerische Leventina mit den Eidgenossen in Verbindung zu treten. Der mailändische Beamte, der die Wichtigkeit dieser Verbindung erkannte und hierüber von Bellinzona aus dem Herzog meldete, bezeichnete den Pass als « un certo passo chiamato el pontirono ».
So verging auch die Friedenszeit in steter Unruhe. Eine grosse Teuerung lastete zudem ( 1494—1499 ) schwer auf der Gegend und steigerte den Missmut. Im Jahre 1499, im Mai, scheint Biasca wiederum urnerisch gewesen zu sein, denn in jener Zeit trafen sich dort die Vögte der Leventina und der Val Blenio und liessen die Einwohner neuerdings Treue schwören. Anlass hierzu sollen mailändische Truppensammlungen bei Bellinzona gegeben haben, worüber die urnerischen Vögte bestürzt gewesen sein sollen. Dieser Vorgang liegt offenbar im Zusammenhang mit dem Abschluss des Bündnisses zwischen Ludwig XII. von Frankreich und den Eidgenossen ( März 1499 ). An dem darauffolgenden Angriff auf das Herzogtum Mailand beteiligten sich unter Führung des vorgenannten Gian Giacomo Trivulzio 5000 Schweizer Söldner, ungeachtet des Krieges, den das eigene Land gegen Kaiser Maximilian führte ( Schwabenkrieg ).
In der Folge brachen schlimme Zeiten über die Lombardei herein. Der Herzog verlor sein Land an den König von Frankreich. In Mailand residierte als dessen Generalstatthalter Gian Giacomo Trivulzio. Doch nahm die Herrschaft ein rasches Ende, als im Frühling des folgenden Jahres Ludovico il Moro sich sein Herzogtum mit Hilfe der Schweizer Söldner zurückeroberte. Diese hatten sich wegen schlechter Behandlung und Bezahlung von Trivulzio abgewendet. Es waren die Zeiten des zügellosen Söldnerwesens, dessen glänzenden Waffentaten unauslöschliche Schandflecke gegenüberstehen.
Auch Bellinzona war in französischen Besitz übergegangen ( September 1499 ). Da sich die französische Besatzung durch Gewalttaten verhasst machte, wurde sie im Januar 1500 von der empörten Bürgerschaft verjagt. Die Stadt erklärte sich für den geflüchteten Herzog, dem es mit Hilfe der Schweizer Söldner bald darauf gelang, sein Land zurückzuerobern. Seine Herrschaft dauerte indessen nur kurze Zeit. Am 10. April 1500, durch den Verrat von Novara, verlor der unglückliche Herzog sein Land für immer und wurde Gefangener des Königs von Frankreich.
Die Nachricht von der Niederlage und der Gefangennahme des Herzogs wird sich rasch verbreitet haben und sogar den Schweizer Söldnern vorausgeeilt sein, die einige Tage nach der Schlacht von Novara auf dem Heimmarsche Bellinzona betraten. Die Söldner waren wegen Soldansprüchen unzufrieden mit den Franzosen. Und in Bellinzona bangte man vor der Rückkehr der letztern, die man erst vor einigen Monaten aus der Stadt und den Schlössern verjagt hatte. Unter diesen Eindrücken mag bei den Bürgern Bellinzonas der Gedanke erwacht sein, Anlehnung an die Urkantone zu suchen. Eine Verbindung mit denselben bot noch den grossen Vorteil, dass sie die fortwährende Bedrohung von Norden her endgültig beseitigte. Wahrscheinlich wäre Bellinzona, das eine kurze Zeit ganz frei war, dies am liebsten geblieben.
Die Urkantone griffen lebhaft zu, als ihnen plötzlich das ungeahnte Glück lachte, ohne Schwertstreich in den Besitz des heiss ersehnten « Bellenz », des Schlüssels des Tessintales, zu gelangen. Uri, Schwyz, später auch Nidwaiden, nahmen Bellinzona in ihren Schutz auf, und als Ludwig XII. das Bündnis anfocht und Bellinzona selbst beanspruchte, erklärten die Urkantone, « so wenig wie ihr Vaterland, wie Weib und Kind, so wenig und noch viel weniger wollten sie Bellinzona verlassen ».
So wurde Bellinzona schweizerisch. Vor ihm war es schon das Verbindungsland Riviera und Biasca ( 1495 ) geworden. Die offizielle Abtretung von Seiten Ludwigs XII. erfolgte drei Jahre später mit dem Vertrage von Arona am 11. April 1503 12 ).
Als sich die Bürger von Bellinzona unter den Schutz der drei Orte stellten, setzten sie voraus, dass ihr Verhältnis gegenüber den selbstgewählten Schutz-orten zum mindesten ein so freiheitliches werden würde wie bei den Talleuten der Leventina gegenüber Uri. Die Leventiner erfreuten sich damals bedeutender Freiheiten und lagen in keinem drückenden Abhängigkeitsverhältnis. Anfänglich muss die Stellung Bellinzonas tatsächlich eine ähnliche gewesen sein. Aber mit der Zeit wurde Bellinzona, das sich doch freiwillig unter schweizerischen Schutz gestellt hatte, als Eroberung betrachtet, und je mehr sich die aristokratischen Regierungsformen entwickelten, um so mehr wurde die Stadt in ein Abhängigkeitsverhältnis gedrängt. So erging es der Riviera und damit Biasca, sie sanken zu eigentlichem Untertanenland hinab.
Biasca gelangte also unter die Herrschaft der Urkantone Uri, Schwyz und Nidwaiden ( der « dritthalb Orte » ) und wurde der Landvogtei Rifferen einverleibt, nachdem man, wie es scheint, längere Zeit darüber unschlüssig gewesen war, ob man aus Biasca nicht eine eigene Landvogtei machen wollte. Dies wohl aus dem Grunde, dass Biasca eine Sonderstellung einnahm und weder zur Leventina noch zur Val Blenio oder Riviera gehörte. Sitz des Landvogtes war Osogna, wo die betreffenden Gebäulichkeiten sich, wenn auch in teilweise stark veränderter Gestalt, bis auf den heutigen Tag erhalten haben, und seltsamerweise ist das kleine Osogna auch bis in die Gegenwart hinein offizieller Hauptort der Riviera geblieben. Wie ich vermute, stammt dieser Vorrang einzig von der Herrschaft der Landvögte her, denn ich vermag mir nicht vorzustellen und habe auch nirgends eine Notiz entdeckt, die darauf hindeuten würde, dass Osogna eine dominierende Stellung eingenommen hätte, bevor es schweizerisch war. Als die « dritthalb Orte » die Regierung über die Riviera antraten, wird der Landvogt höchst wahrscheinlich im Anfang in Biasca, dem natürlichen Hauptorte der Riviera, residiert haben. 1506 ist von einer Landvogtei Biasca und Umgebung die Rede. Es ist denkbar, dass unter Umgebung die ganze Riviera gemeint war, wenn die Urkantone zwei Jahre später nicht immer noch über den Sitz des Gerichtsortes der Riviera beraten hätten. Dieser Unbestimmtheit und deren Provisorium machten die Schreckens-tage von 1513 ( Bergsturz ) ein Ende. Biasca kam so herunter, dass es als eigene Landvogtei ganz ausser Betracht fiel, und als Landvogteisitz der Riviera war es zu gefährdet. Dieser wurde in das nahe Osogna verlegt. Dort einmal niedergelassen, verblieben die Landvögte, und zwar bis 1798, dem Ende ihrer Herrlichkeit, also drei Jahrhunderte lang. Ein solcher Zeitraum reicht schon aus, um einer Ortschaft ein traditionelles Vorrecht zu verschaffen.
Die Verfassung, welche die Landschaft Riviera erhielt, war, wie schon betont und wie im nachstehenden noch genauer beschrieben ist, eine sehr freiheitliche. Deutlich erkennt man an ihr die Zeit ihrer Entstehung, den Übergang zur Eidgenossenschaft. Kaum würde sich dieser je so glatt vollzogen haben, wenn den Leuten der Riviera, Val Blenio und vor allem den Bürgern Bellinzonas nicht derart freiheitliche Rechte zugesichert worden wären. Aber mit der Zeit sank dann allmählich diese Verfassung zur leeren Form herab und eigentlicher Regent wurde der Landvogt. Von den Urkantonen hätte man am ehesten Verständnis für die Eigenart des benachbarten Tessiner Volkes erwarten dürfen, das mit ihnen durch vielfachen Verkehr, Handelsbeziehungen und auch noch durch die gemeinsame Religion ziemlich eng verbunden war. Ein gewisses Verständnis mag im allgemeinen vorhanden gewesen sein, aber anderseits waren gerade bei den demokratischen Kantonen die Missbräuche zur Erlangung von Landvogteisitzen am grössten. Die Vögte hatten bei der Bewerbung bedeutende Summen zu bezahlen, wobei sich die Bewerber zu überbieten trachteten. Die Auslagen für das « Praktizieren » suchte der Landvogt während seiner Regierung wieder einzubringen. Da die Einnahmen bei loyaler Regierung gering waren ( der Landvogt der Riviera besass nicht eine einzige direkte Einnahme ), so lag die Versuchung nahe, sich auf unlau-terem Wege hierfür Entgelt zu verschaffen. Es ist hierüber schon viel geschrieben worden. Bonstetten, Schinz, Franscini, Pometta und Weiss haben die heute fast unglaublich erscheinenden Rechtszustände, die in den ennetbirgischen Landvogteien herrschten, einlässlich geschildert. Wie es im speziellen um die Landvogtei « Riviera » stand, ist mir nicht genauer bekannt. Die Notizen, die ich hierüber fand, sind dürftig. Zu besonders harten Bedrückungen oder Ausbeutungen der Untertanen scheint es aber nie gekommen zu sein. Die Regierung war wahrscheinlich eher mild. Schwere Steuern gab es nicht, und die damals üblichen, obrigkeitlichen Beschränkungen des Handels und der Industrie lasteten kaum schwerer als in der deutschen Schweiz. Die engherzigen, bibelfesten Bürger Zürichs legten beispielsweise ihrer Landschaft wahrscheinlich noch lästigere Beschränkungen auf, als sie hier vorkamen, um sich das Monopol der Seidenindustrie zu sichern 13 ).
Die wenigen Angaben über die einzelnen Landvögte der Riviera lauten sogar günstig. Der Landvogt Ulrich Mettler weigerte sich ( 1575 ), die Inquisition von sich aus ins Land zu rufen. Schlecht mag auch jener Karl Franz Bessler aus Uri nicht regiert haben, den bei seinem Abzüge ( 1791 ) der « Consiglio della Riviera » mit einem Sonett ehrte.
In der Riviera lag der Mangel der Regierung in der Hauptsache am System selbst. Mochten sich auch die Untertanen damit abgefunden haben und es ohne Anstoss von aussen noch lange ertragen haben, es hätte das Land durch seine Erstarrung im Alten und Hergebrachten doch immer tiefer in den sittlichen und materiellen Verfall hineingeführt. Schade ist es, dass es dem Tessiner Volk nicht gelang, sich wie seine nördlichen Nachbarn politisch freizumachen, um als vollwertiges Glied der Eidgenossenschaft beizutreten. Die Leidenszeit unter den Landvögten wäre ihm dadurch erspart geblieben.
Der Landvogt der Riviera hatte Anspruch auf zwei Drittel der Bussen, daneben hatte er freie Wohnung und das Recht, sich in den Bergen, wo es ihm beliebte, für seinen Bedarf Holz schlagen zu lassen. Bisweilen machte die Land- schaft dem Vogte nach Ablauf der Regierungszeit noch ein Geldgeschenk, ohne aber hierzu verpflichtet zu sein. Es war das eine alte Sitte, die noch aus der mailändischen Regierungszeit stammte. In andern Vogteien erhielt auch die « Frau Landvögtin » ein Geschenk. In der Riviera wissen wir hierüber nur von einem Falle, der aber mit einer unglaublichen Scheusslichkeit verbunden ist ( siehe Seite 131 ). Zehnten und Zölle konnten vom Landvogt keine erhoben werden. Der unter den mailändischen Domherren in Biasca erhobene Zoll war längst nach Bellinzona verlegt worden.
Alljährlich am Bartholomäustage versammelte sich das Volk der Landvogtei in Osogna zu einer Landsgemeinde, wahrscheinlich auf dem typischen Dorfplatze, an dem das Amtsgebäude und das Wohnhaus des Landvogtes stehen. Der neue « Landfogto » musste sich der Gemeinde vorstellen und ihr die alten Freiheiten zusichern. Erst nachdem das geschehen, wurde ihm als Repräsentanten der regierenden Kantone von der Landsgemeinde gehuldigt. Aus ihrer Mitte wählte sich diese dann den Seckelmeister und den Landschreiber ( Landscriba oder Sriba ). Diesem war es erlaubt, sich einen Dolmetscher ( Interprete ) zu halten, wenn er der deutschen Sprache nicht mächtig war. Der Landvogt wählte sich aus seinen Untertanen einen Statthalter ( Luogotenente ), der ihn während seiner Abwesenheit vertrat. Mit diesem und den drei Geschworenen ( so nennt sie Schinz, gemeint sind offenbar die Mitrichter ), die ebenfalls aus den Untertanen hervorgingen, bildete der Landvogt den Rat ( Consiglio ).
Grosse Bedeutung kam letzterem nicht zu, denn tatsächlich regierte der Landvogt wie ein Fürst, und es kam ganz auf seine Persönlichkeit an, ob der Rat überhaupt etwas zu sagen hatte oder nicht.
Die Gerichtsbarkeit stand fast ganz unter dem Landvogt und dem Rat, und zwar schwere Vergehen und Verbrechen, die « Malefizgerichtsbarkeit », sowohl wie die niedere Kriminalgerichtsbarkeit und das Zivilgerichtswesen. Die Orte hatten zwar in zweifelhaften Fällen zu entscheiden, ob dieselben unter das Malefiz-gericht gehörten. Tatsächlich wusste aber der Landvogt den Fall gewöhnlich so zu drehen, dass er für ihn am meisten Geld abwarf.
In gewissen Fällen war eine Appellation an das Syndikat und schliesslich noch an die regierenden Orte möglich. Das Syndikat waren die Gesandten der dritthalb Orte, die alljährlich am Bartholomäustage die Geschäfte der Landvögte prüften. Die Appellation war aber mit so grossen Kosten und Umständlichkeiten verbunden, dass sie nur dem Bemittelten möglich war.
Das Gerichtswesen war somit die eigentliche Einnahmequelle des Landvogts. Fast alle Verbrechen liessen sich mit Geld sühnen. Beleidigungen, die uns heute lächerlich anmuten, wurden mit unverhältnismässig hohen Geldbussen bestraft. So findet sich z.B. in den Akten:
« Pedro Paparello de Pontirone per haver ditto al figliolo de Johanolo del Spagnolo figliolo d' una stria = Lire 15. » Für damalige Verhältnisse eine unerhört hohe Summe. Wer kein Geld hatte, den traf dann allerdings eine der damals überall üblichen, sehr grausamen Leibesstrafen. Es ist zwar zu bemerken, dass dieselben mit der Zeit erheblich an Schärfe verloren und eine Tendenz zur Milderung unverkennbar ist.
Der schwere Verbrecher suchte sich nach seiner Tat schleunigst aus dem eidgenössischen Gebiete zu flüchten. Die gebirgige Gegend und die Freistätte gewährenden Kirchen und Klöster erleichterten das sehr. Der Flüchtling wurde von seinem Landvogt geächtet ( bandito ) und war fortan vogelfrei. Niemand durfte ihm Speise und Obdach geben. Die Sehnsucht nach Familie und Heimat trieb aber manchen wieder heim. Nur auf Schleichwegen war ihm dies möglich. Wurde er ergriffen, so harrte seiner eine harte Strafe. Der also Geächtete konnte in seiner Heimat nie mehr auf ehrliche Weise seinen Unterhalt verdienen. Er wurde daher dort oft zum Wegelagerer, also zu dem, was wir in der deutschen Sprache unter Bandit verstehen. Die Bezeichnung stammt ja übrigens direkt vom Worte « bandito » und bezieht sich auf derartige Verhältnisse, wie sie in andern Ländern italienischer Zunge noch länger andauerten als im Tessin. Derart vogelfrei wurde wohl mancher heissblütige, im Herzen aber ehrliche Tessiner, der sich im Jähzorn oder in der Eifersucht zu unüberlegter Tat hatte hinreissen lassen. Ein weitaus besseres Los hatte der Verbrecher, wenn er Geld und gar einflussreiche Verwandte hatte. Er suchte dann vom Ausland her mit dem Landvogte zu verhandeln, um sich für liberiert erklären zu lassen. Liberiert war er, wenn das Syndikat seine Schuld als gesühnt erklärt hatte, was aber erst nach Bezahlung einer erheblichen Geldsumme geschah. Um diese Erklärung zu erreichen, musste sich der Geächtete einen Freipass ( « salvo condotto » ) erwerben. Der kostete selbstverständlich auch wieder nicht wenig Geld. Mit dem Freipass konnte er zu den regierenden Orten reisen und dort wiederum mit Geld um Stimmen für seine Liberation werben. Dann galt es, sich noch mit den Verwandten des Opfers auszusöhnen, das war aber kaum die Hauptsache. Am nächsten Syndikat gab der Geächtete die gewonnenen Stimmen an. Genügten sie und waren die Herren Syndikatoren auch noch gehörig beschenkt, so wurde der Übeltäter liberiert.
Keine Liberation oder nur in seltenen Fällen gab es offenbar bei einer Verschuldung wegen Ketzerei und Hexerei, da war der religiöse Eifer zu gross. Meist waren es übrigens arme Bauersleute, welche eingeklagt wurden, und denen würden die Mittel zur Liberation überhaupt gefehlt haben.
War ein Vermögender eines Verbrechens angeklagt, das unter das Malefiz-gericht fiel, so trachtete der Landvogt danach, den Fall unter die niedere Kriminalgerichtsbarkeit zu bringen. Das gelang oft. Da konnte nun alles mit Geld gesühnt werden. Standen die Aussichten für den Angeklagten schlecht und hatte er Geld, so suchte er mit dem Kläger einen Vergleich zu erzielen. Dieser Vergleich, das « aggiustamento », war auch wieder eine kostspielige Sache. Daran und an der Liberation verdiente der Landvogt am meisten. Beide Machinationen waren von der Tagsatzung wiederholt verboten worden. Sie wurden aber immer wieder und ohne jede Scheu vorgenommen. Die Strafen der niedern Gerichtsbarkeit waren alle Geldstrafen, Gefängnisstrafen gab es hier keine. Diese Geldstrafen waren für den Landvogt eine Einnahmequelle, denn zwei Drittel der Bussen flössen ihm zu.
Im Zivilgerichtswesen urteilte der Landvogt als erste Instanz. Auch hier war der Weg zum Recht nur dem Bemittelten offen. Die Appellation an das Syndikat und die Orte war mit hohen Kosten verbunden. Diese und die grossen Umständlichkeiten hielten zwar die prozesssüchtigen Leute nicht ab, und den Landvögten und zahlreichen « avvocati » war es gar nicht darum zu tun, die Prozesswut einzudämmen.
Der arme Bauer war vor Gericht einer Anklage gegenüber meist wehrlos. Mit dem Betreten des Gerichtssaales schwand für ihn die Hoffnung, Recht zu finden. So begreift man leicht, dass diese Stätte für ihn ein Ort des Schreckens und abergläubischer Furcht wurde. In der Val Maggia glaubte man im Jahre 1770, dass die Hexen in den Gerichtssälen besondere Macht über die Menschen hätten. Man suchte sich mittels Amuletts vor ihren bösen Einflüssen zu schützen. Dieser Aberglaube dürfte wahrscheinlich auch in den andern Tälern des Tessins verbreitet gewesen sein.
Diese Beispiele aus dem Rechtswesen jener Zeiten mögen genügen. Sie ergeben ein düsteres Bild, und weitere Aufzählungen würden es nicht verschönern können.
Mochte nun auch der Landvogt sich auf diesen unlautern Wegen ein Einkommen suchen, in der Riviera schaute dabei für ihn nicht viel heraus. Die Vogtei war zu klein, und das arme, von Wildwassern verwüstete Land hatte wenig Leute, aus denen sich etwas herauspressen Hess. Die Landvogtei « Rifferen » war denn auch nur von untergeordneter Bedeutung, und wenn sie dem Landvogt nicht die sichere Aussicht eröffnet hätte, nach Ablauf der zweijährigen Amtsdauer zum Landvogt der Grafschaft Bellenz vorzurücken, so wäre sie kaum begehrt gewesen. Die Riviera war, wie Schinz sagt, den Eidgenossen nur als Verbindungsland zu den einträglichem südlichen Vogteien von Wert.
Die Folgen der französischen Revolution erlösten das Tessiner Volk aus seiner Knechtschaft. Schon früh machten sich, von der Geistlichkeit angestiftet, im obern Tessin Unabhängigkeitsbestrebungen bemerkbar, die schliesslich im Aufstande der Leventina 1755 ihren Ausdruck fanden. Dieser Befreiungsversuch wurde von den regierenden Kantonen blutig niedergeschlagen und das Volk schwer gedemütigt. Inwieweit vielleicht Biasca von dieser Bewegung berührt wurde, ist mir unbekannt, direkten Anteil hatte es keinen genommen.
Als im Frühling 1798 die französischen Heere in die Schweiz eindrangen und die alte Eidgenossenschaft zusammenbrach, schlug auch den tessinischen Vogteien die Erlösungsstunde. Die Riviera, die Leventina und Val Blenio wurden zuletzt frei. Als sich schon fast überall im Tessin neue Regierungen konstituiert hatten, markteten von Osogna aus die Vertreter der Urkantone, Jauch, Ab Iberg und von Matt mit der Regierung von Bellinzona um Ansprüche, die sie glaubten aufrechterhalten zu müssen. Das war der letzte Akt der Gnädigen Herren und Obern auf Tessiner Boden.
Damit schloss für das Land ein Zeitabschnitt, der wenig Erfreuliches aufzuweisen hat. Der Tessin hat keinen Anlass, von der guten, alten Zeit zu sprechen. Im Vertrauen, das er in die Regierung der Eidgenossen gesetzt hatte, wurde er zu sehr getäuscht, wie aus den vorgehenden Darstellungen zur Genüge hervorgeht. Es hat aber keinen Zweck, wie es etwa vorkommt, all das begangene Unrecht wieder auszugraben und sogar in Tagesfragen hineinzuziehen. Der Tessiner darf sich fragen, ob er denn so viel gewonnen hätte, wenn sein Land bei der Lombardei geblieben wäre. Dort gab es vor der französischen Revolution und sogar noch lange nachher, als sich der Tessin schon der Freiheit erfreute, Unterdrückung genug. Auch in der deutschen Schweiz selbst, in den regierenden Kantonen, waren die Verhältnisse zu den Landvogtszeiten schlimm.
Ein Grund muss da sein, warum die Tessiner im Frühling 1798 eine Vereinigung mit der zisalpinischen Republik ablehnten und fest zur Schweiz standen.
Deutschschweizer haben etwa die Ansicht ausgesprochen, dass es trotz allem erduldeten Ungemach die Liebe zur Schweiz gewesen sei, welche die Tessiner davon abgehalten habe, sich mit ihren Stammesgenossen wieder zu vereinigen. Das wäre zwar eine einfache Erklärung. Ein Tessiner Historiker ist aber dieser Ansicht scharf entgegengetreten. Nach ihm war es nur die Gewohnheit, die den Tessin im schweizerischen Staatenbund verbleiben liess. Das tönt nicht gerade angenehm und erbaulich und macht niemandem recht Freude, weder dem Tessiner noch einem andern Schweizer noch einem Irredentisten. Etwas mehr als stumpfe Gewohnheit wird wenigstens jene Leventiner beseelt haben, die den Urnern im Mai 1799 gegen die Franzosen zu Hilfe zogen und sich dabei über die schmerzliche Erinnerung von 1755 hinwegsetzten. Es wird heute sehr schwer sein, sich in den Gedankengang der Tessiner jener Zeiten zu versetzen. Ich lege mir die Sache ungefähr so aus: Die Schlagworte der zisalpinischen Republik erregten bei einem grossen Teil der tessinischen Revölkerung Misstrauen oder doch Bedenken, besonders in religiöser Hinsicht. Dann hatte der Gedanke, den Tessin nunmehr als freien, ebenbürtigen Kanton neben den alten Kantonen zu sehen, etwas sehr Verlockendes. So konnte das Land sich wirklich selbst regieren. Bei einer Vereinigung mit der zisalpinischen Republik wäre der Tessin von Mailand aus dirigiert worden, und das war offenbar gegen das Freiheitsgefühl der Tessiner.