Zwei Bündner Bergfahrten
Mit 2 Skizzen und 4 Bildern.Von Eugen Wenzel.
Piz Platta-Nordgrat.
« Nur wenige Gipfel in den Alpen können sich mit ihm an Kühnheit des Baues und Vollendung der Formen messen, und kaum einer dürfte ihn übertreffen. » Ludwig Purtscheller.
Als wir im Juli 1938 seinen Nachbargipfel, den Piz Forbisch, erkletterten und über den tiefen Einschnitt der Val Gronda die gewaltigen Felswände der Nordost- und Nordwestflanke eingehend studieren konnten, ZWEI BÜNDNER BERGFAHRTEN.
da reifte langsam der Plan in uns, dem Riesen von dieser Seite einen Anstieg abzutrotzen. Der gegebene Weg schien uns der direkte Nordgrat zu sein, derselbe Grat, von dem der Clubführer sagt, dass er ungangbar sei. Obschon wir die auffallende Steilheit des etwa 400 Meter hohen Mittelstücks, das überdies aus grünem Schiefer, einem zum Teil sehr brüchigen Gestein, aufgebaut ist, in Betracht zogen, so war doch die elegante und direkte Linie da, die es wert war, den Versuch zu wagen.
Der erste Anlauf erlag einem sintflutartigen Regen. Heute, eine Woche später, ist alles anders. Schon im Anstieg durch die Val Faller tragen PIZ PLATTA 3397« m VON NORDEN 1. couloir mit Oberhang 2. gratumgehung 3. SENKRECHTE WANDSTUFE 4. VERSCHNEIDUNG wir die Gewissheit mit, einen guten Tag vor uns zu haben. Am hohen Bergwall der Errkette treiben von der Abendsonne hellrosa beleuchtete Nebelfetzen, aus denen grellgelbe Wolkenballen langsam ins Blaue steigen. Die verschwenderische Lichtfülle dieses Sommerabends steht in wundervollem Farbenzusammenspiel mit dem tiefblauen Oberhalbsteinerhimmel und den mannigfaltigen Grünstufungen des Waldes. Da, wo die letzten Tannen den Weg säumen, werden wir wieder des herrlich aufgebauten Berges gewahr, ein Bild von gewaltiger Wucht und Schönheit. Wenige Minuten später führt uns das Strässchen zur Alp Tga, wo wir in der Skihütte « Rothus » Unterkunft nehmen.
Muss ich erzählen, wie seltsam es dem Stadtmenschen zumute ist, wenn er um 3 Uhr morgens die Hütte verlässt. Die eigenartige Ruhe, die auch hier über dem weiten Boden der Alp Faller liegt, teilt sich dem Herzen des Wanderers mit, und es ist ein beglückendes Sichfinden von Mensch und Natur, Eindrücke, die man so oft vermisst und nun mit offenen Sinnen begierig aufzunehmen bestrebt ist. Aus den halboffenen Türen der Alp Igl Plang dringt warmer Stallgeruch, und im Vorbeigehen hören wir das seltsam drückende Seufzen der wiederkauenden Tiere. Aber nur ein paar Schritte weiter bleibt nur noch das gleichmässige Rauschen der Bäche, und während wir uns den Weg zur Höhe suchen, haben wir uns ganz in den schönen Morgen gefunden.
Bis auf die Alpterrasse von Scalotta folgen wir den Kuhtreien, um dann über weniger steile Grashänge durch die Mulde gegen Punkt 2462 zu steuern. Fast gleichzeitig mit dem jungen Tag erreichen wir den Rasenkamm, der in direkter Linie zum Einstieg in den Nordgrat des Piz Piatta leitet. Im obersten Teil wird aus dem Rasenrücken ein Schuttgrat, und wir sind froh, bald darauf bei den untersten Felsen unseres Grates diesem unliebsamen Stück entronnen zu sein. Der Nordgrat richtet sich ganz unvermittelt empor, und jetzt, aus der Froschperspektive, zeigt er sich in ganz besonders abschreckender Art. Der lang vorher festgelegte Weg scheint aber auch von hier aus gesehen möglich zu sein. Gleich am Anfang ist eine kurze, aber ziemlich glatte Stufe zu überwinden, und dann stehen wir auf dem abfallenden Schneeband, welches nur schwach ansteigend die ganze Nordostflanke des Berges durchzieht und auf dem Ostgrat ausmündet. Wir hacken uns links ansteigend über das Band hinauf und steigen in eine Rinne ein, die den untersten Gratabsatz umgeht und weiter oben wieder auf der Kante ausmündet. Die Felsen sind glatt und nass. Nach einer guten Seillänge verengt sich die Rinne zum überhängenden Kamin. Ein eingeklemmter Block bildet ein ernstes Hindernis, das wir nach langem Überlegen erst unter Zuhilfenahme eines Hakens überlisten können. Weiter oben wird die Rinne wieder breiter, ist aber von losem Kleinzeug erfüllt, das vom Vorausgehenden liebevoll behandelt sein will.
Auch die Gratkante entpuppt sich als sehr lose aufgebautes Gefüge, mit einer Verwitterung, die man dem Berg gar nicht zugetraut hätte. Nachdem ein Stück weit die Kante verfolgt werden kann, drängt uns ein neuer Steilaufschwung auf die rechte Seite des Grates. Wir benützen diesen unfreiwilligen Abstecher, um die gewaltige Mauer der Nordwestflanke zu betrachten, deren ungangbare Plattenpanzer in nahezu senkrechter Folge zur Tiefe stürzen. Bei der Ausmündung eines mit der Einstiegsrinne parallel verlaufenden Couloirs betreten wir wieder den Grat und sehen uns nun am Fuss einer senkrechten Stufe, die wohl das Hauptstück der ganzen Besteigung zu werden verspricht.
Über eine lockere Felspartie kommen wir auf ein Bändchen, von welchem die Wand fast im Überhang emporstrebt. Nicht weit von der Kante ist die etwa 15 Meter hohe Stufe von einem Schrägriss durchzogen, den wir sofort ins Auge fassen. Vielleicht packen wir die Stelle ein wenig zu ungestüm an. Der Rucksack bleibt als ein den menschlichen Gleichgewichtsübungen nicht wohlgesinnter Geselle zurück, aber selbst so ist hier gute Arbeit zu leisten.
Etwa in halber Höhe des Wändchens ist eine gut griffige Platte zu überklettern, welche von unten gesehen fest mit dem Berg verwachsen zu sein schien. Ein schneller Blick hinter die Kulissen überzeugt mich vom Gegenteil. Da die Nagelschuhe ohnehin keinen festen Halt haben und ich mich also an der fragwürdigen Platte halten muss, denke ich sekundenlang an Rückzug. Der Rückblick zwischen den Beinen hindurch in die Tiefe lässt mich jedoch anders entschliessen, und mit der grösstmöglichen Druckverteilung ziehe ich mich am Schrägbändchen weiter hinauf. Aber auch während den folgenden Klimmzügen bedaure ich, die Kletterschuhe unbenutzt zurück gelassen zu haben. Auf einem kleinen unsicheren Stand soll ich nun meine Gefährtin nachnehmen. Es blieb mir nichts übrig, als weiter oben im festen Fels einen Haken zu schlagen, an welchem ich mich nun selbst sichern kann. Beim Heraufholen meines Rucksackes gibt es Gelegenheit, sich über die Bos-haftigkeit der leblosen Dinge zu ärgern. Mit verbissener Genauigkeit bohrt sich der aus dem Sack hervorstehende Pickel immer wieder in den gleichen Riss, und erst nach wiederholtem Nachlassen gelingt es mir, ihn über den Überhang hinaufzuziehen. Wenige Minuten später erscheint prustend auch meine Seilgefährtin, die ihren Rucksack gleich selbst mit herauf gebracht hat.
Das folgende Wandstück, dessen Überwindung uns von unten ein Rätsel war, macht uns jetzt kein Kopfzerbrechen mehr. Durch die Nordostseite des letzten Gratturms zieht eine Yerschneidung empor, durch welche wir uns auf eine Kanzel hinaufarbeiten, um dann über lose aufliegende Blöcke nach links in ein Couloir zu queren, das seinerseits unvermittelt in das grosse, den Gipfel wie eine Halsbinde umschlingende Schuttband leitet. Noch einen Blick in die Nordwestflanke, und dann steuern wir über das Schuttband links haltend an den Felskamm, der den Ost- und Nordgrat vereinigend zum Gipfel führt. In anregender Kletterei verfolgen wir diesen Sporn und erreichen nach einer schwachen halben Stunde die Gratschulter am Fuss des Gipfelskopfes. Über einen Firnhang tritt heute zum erstenmal auch der Pickel in Aktion, und dann klettern wir über lose aufeinander getürmte Blöcke gerade zum Gipfel empor. Nach 8 Stunden seit unserm Aufbruch von der Alp Tga schwingen wir uns über die gegenwärtig harmlose Wächte zum Steinmann.
Und nun ist uns leicht ums Herz. Eine Bergfahrt, die uns seit Wochen beschäftigte und erst nach wiederholten Anläufen glückte, hat ihren Abschluss gefunden. Es ist verwunderlich, dass dieser Nordgrat auf den Piz Piatta nie angegangen wurde, und seine Erschliessung beweist aufs neue, dass auch der Bergsteiger von heute noch dankbare, lösenswerte Probleme finden kann, wenn er sie sucht. Aber selbst wenn einmal alle Grate und Wände unserer Berge begangen sein sollten, so wird deren Wiederbegehung jedem aufrichtigen Bergfreund immer wieder Ereignis sein. Und das grosse « Problem » einer zukünftigen Bergsteigergeneration wird niemals in stets gesteigerten und abwegigen Bergfahrten zu suchen sein, es wird sich vielmehr in jedem jungen Bergsteigerherzen immer wieder aufs neue erheben, das Problem einer vernünftigen und bescheidenen Einstellung zum Berg. Wenn wir die richtige Die Alpen — 1939 — Les Alpes.17
Lösung dieses vielleicht wichtigsten bergsteigerischen Gegenwartsproblems bei uns selbst gefunden haben, dann werden wir mit nie erlahmender Freude in die Berge ziehen können. Am Nordgrat des Piz Piatta ist immer Gelegenheit dazu da.
Tinzenhorn -Westwand.
Als sich im Herbst 1938 das Wetter nach unerfreulichen Sommerwochen eines Bessern besann, war plötzlich die Lust zum Klettern über uns gekommen. Im Vordergrund stand die Tinzenhornwestwand, von welcher wir wussten, dass sie seit Jahren darauf wartete, von uns durchklettert zu werden. Es bedurfte also keiner langen Vorbereitung. An einem Septembertag fuhren wir nach Filisur hinauf.
Unter einem sternenbesäten Himmel wanderten wir auf vertrautem Strässchen durch Val Spadlatscha hinan, wobei wir uns schon jetzt während des nächtlichen Anstieges mit Hinweisen auf die zu erwartenden Herbst-stimmungen die Zeit kürzten. Auf halbem Wege begegneten wir heimkehrenden Jägern, für deren leere Hände und lastfreie Schulter wir kein Mitleid empfanden. Wie wir es vermutet hatten, war niemand auf der Elahütte. Um so schöner wurde die stille Bergnacht.
Hatte sich um 5 Uhr früh noch ein funkelndes Sternenmeer über den Stöcken des Tinzenhorns und des Piz d' Eia ausgebreitet, fanden wir dasselbe eine Stunde später beim Verlassen der Hütte mit einem Föhnschleier überzogen. Der rasche Szenenwechsel überfiel uns unvermutet und vermochte anfänglich so auf unsere Stimmung zu drücken, dass wir uns verdrossen durch die Geröllhalden des Gravaratschas-Tälchens mühten. Kaum waren wir dem schwühlen Talkessel entronnen, sprang uns auf der Fuorcla da Gravaratschas auch schon ein frisches Lüftchen an und trieb uns sofort auf der andern Seite gegen Aint ils Laiets hinab. Von der Grathöhe aus hatten wir im Westen blauen Himmel erspäht und waren zuversichtlicher geworden. Über die charakteristischen Schrägbänder wurden wir, ohne es zu wollen, nordwärts abgelenkt, gelangten aber ziemlich rasch in die Geröllhalde, deren Durchquerung an den Einstieg das Mass dieses mühevollen Weges voll machte. Nachdem ein aus der Wand hervortretender Sporn umgangen war, befanden wir uns ungefähr senkrecht unter dem Gipfel.
Wir hatten uns jene markante, vom höchsten Punkt herabziehende Wandrippe als Anstiegsroute gewählt, aber wie wir über das unterste Bollwerk dorthin gelangen sollten, war noch unklar. Der ganze unterste Drittel der Tinzenhornwestwand bildet eine Steilstufe, die, wie übrigens der ganze Berg, von Schrägbändern durchzogen wird. Es musste nicht schwer sein, vermittelst dieser Bänder in die Höhe zu kommen. Richtunggebend blieben drei die untere Wandhälfte fast gleichmässig aufteilende breite Geröllbänder, von welchen immer wieder ein freier Blick gewährleistet war.
Ohne nennenswerte Schwierigkeiten kletterten wir über die ersten Stufen empor, wurden auf einem Band links abgedrängt, fanden aber sofort einen leichten Ausstieg auf das erste breite Geröllband. Zu unserer Freude sahen ZWEI BÜNDNER BERGFAHRTEN.
wir uns einer senkrechten Wandstelle gegenüber, die interessantere Arbeit versprach. Ich hatte mich schon die ersten drei Meter hinauf gestemmt, als der Berg ungemütlich steil wurde.Vor allem hinderte mich mein Rucksack, einen weitgriffigen Klimmzug zu wagen, und so stand ich ziemlich ratlos mit verkrampften Zehen an der Wand. Zu allem Überfluss knallten gerade jetzt unsere Jäger von gestern abend auf ein paar Gemsen. Meine Seil- NORDGRAT WESTGRAT
TINZENHORN
( Corn da Tinizung ) WESTWAND 1. EINSTIEG ca. 2670 M.
3. I. BAND 4. SENKRECHTE STUFE 5. KAMIN 6. II. BAND 7. III. BAND 8. PASS DALS ORGELS gefährtin, die ganz zu vergessen schien, in welch unsicherer Lage ich mich befand, hatte nur noch Augen für die davonhetzenden Tiere. Es blieb auch mir nichts übrig, als schleunigst herunterzuklettern. Mit leichten Sprüngen meisterten die fliehenden Gemsen die Felsen und zeigten uns, dass ohne Gepäck leichter zu steigen ist. Der Rucksack wurde also zurückgelassen. Auf diese Weise erleichtert, ging es viel besser, und bald war auch eine kleine Plattform erreicht. Die folgende Partie war noch ausgesetzter und führte über ein griffarmes Wändchen empor. Das Schlimmste von allem war der ZWEI BÜNDNER BERGFAHRTEN.
Gedanke, keine Sicherung mehr zu haben. Ich hisste vorerst einmal den Sack zu mir herauf und entnahm ihm die zur Not mitgeführten Haken. Passende Ritzen, um einen solchen einzutreiben, waren überall, aber jedesmal, wenn nach dem letzten Schlag die Probe kam, vermochte ich den Haken ohne Kraftanstrengung aus dem losen Gestein zu ziehen. Schon wollte ich die Sache aufgeben, als ich auf dem die Plattform bildenden Vorsprung doch einen Riss entdeckte, der den Haken richtig aufnahm. Ich liess das Seil durch einen Karabiner laufen und war nach ein paar luftigen Klimmzügen der unangenehmen Lage entronnen. Nachdem wir wieder vereinigt waren, nahm uns ein schräg nach rechts hinaufgehendes Kamin auf, aus dem wir dann über ein paar leichtere Stufen auf das zweite grosse Band gelangten.
Wir befanden uns noch immer tiefer als die Fuorcla da Gravaratschas. Die gesuchte Wandrippe lag links über uns und konnte erst nach Überwindung einer zerrissenen Wandpartie erreicht werden. Es stellten sich uns keine grossen Hindernisse entgegen, aber als wir auch das dritte grosse Schrägband erreichten, waren wir, um an unsere Rippe zu gelangen, bereits etwas zu hoch geraten. Der Abstieg auf dem Geröllband vermochte uns nicht zu locken, da ein mächtiger Wasserfall durch die tiefe Felsschlucht stürzte. Wir wandten uns unverzüglich der über uns aufgetürmten Wandflucht zu und kamen rasch vorwärts. Ein Blick auf die Uhr hatte uns nämlich gezeigt, dass wir weiter unten zu viel Zeit verloren hatten. Die Jäger, die seit ihren verfehlten Schüssen unserem Klettern zugeschaut hatten, machten sich nun wieder auf die Beine und bewegten sich wie Ameisen auf dem Geröllboden von Aint ils Laiets.
Unterdessen waren wir in die Schneeregion geraten. Hier oben hatten die Wasserfälle des unteren Wandteils ihren Ursprung. Es lag allerhand Schnee auf den Bändern, der in ein paar Föhntagen nicht wegzubringen war. Zu gleicher Zeit steigend erreichten wir mit ziemlicher Verspätung den Gipfel. Goldene Herbstsonne lag über den Bergen. Ihre Strahlen wärmten uns den Rücken und die ausgestreckten Glieder. Restlose Zufriedenheit hatte sich unser bemächtigt. Der Berg, unser altes, liebes Tinzenhorn, hatte uns gegeben, was wir für heute gewünscht hatten: ein paar Stunden Felsarbeit, einen Aufstieg, der, ohne weltbewegendes Ereignis sein zu wollen, unsere Kletterlust befriedigte, und eine sonnige Gipfelrast, die uns für manchen verregneten Sonntag entschädigte.