Wo der Kuckuck schreit
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Wo der Kuckuck schreit

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Willy Auf der Maur, Seewen SZ

Nein, ich werde mich nicht für die SAC-Klet-terwoche in den südlichen Dolomiten anmelden! Man will ja zelten. Und ich mag nicht nach anstrengender Tour auf allen vieren ins Zelt hineinkriechen, will nicht abendelang zusammengekauert auf dem Boden hocken, mag nicht aus winzigen Spirituskochern Reste frugaler Eintopfgerichte herauskratzen. Darüber bin ich hinweg!

Ja, wenn man in einer netten Pension logieren würde! Wo's am Abend Berge von Pasta- sciutta und tellergrosse Koteletten gäbe, womöglich noch von einer glutäugigen Signorina aufgetragen, und süffigen, milden Landwein!

Zwei Monate sind seit meinem « unabänderlichen » Entschluss vergangen. Und nun, am Pfingstsonntag 1971, befinden sich die Mythen-mannen auf dem Weg in die blaue Ferne. Sieh mal: Grossväterchen ist auch dabei! Er hat sich noch einmal aufgerappelt - den Dolomiten zuliebe! Aufgeräumt sitzt er neben Andreas, seinem Chauffeur, und erzählt ungebeten aus seinem reichen Berg-Erleben. Von den Erfahrungen, die er vor zehn Jahren in den Brenta-Dolo-miten gesammelt habe und wie wundervoll damals das harte, entbehrungsreiche Bergvagabundenleben gewesen sei!

Ich sollte zu meinen Dolomitenklettereien kommen, ohne die bittere Pille primitivster Erdnähe schlucken zu müssen. Zu meiner grenzenlosen Überraschung zaubern unsere beiden Ausrüstungsmagier Roger und Paul im Corpas-sa-Tal nämlich zwei prächtige Wohnzelte mit Klarsichtscheiben aus dem Boden. Man kann sich darin frei und menschenwürdig bewegen, sitzt auf Feldstühlen und hat « gäbige » kleine Klapptische vor sich.

Nicht nur die Liliputanerzelte, auch die Eintopfgerichte darf ich wieder dort versorgen, wo sie meine pessimistische Phantasie hergenommen hat. Denn wir haben einen Metzgermeister und Hobby-Koch bei uns, der schon wenige Minuten nach unserer Ankunft eifrig mit grossen Kasserollen und zischenden Benzinvergasern zu hantieren beginnt. Heute soll es Erbs-mit-Speck-Suppe, Berge von Pastasciutta, tellergrosse Koteletten, Fruchtsalat und... für den ärgsten Durst süffigen Landwein geben!

« Du glaubsch nid, wiä froh ich bi, dass ich darf choche - weisch, ich muess immer öppis z'tue ha — susch isch es mier eifach z'langwielig », gesteht mir Beni. Er gefällt mir, dieser Beni! Ich gucke ihm bei seinem fröhlichen Hantieren wohlgefällig zu, die Hände tief in den Hosensäcken vergraben. Ist es nicht herrlich, wenn sich zwei Kameraden so wundervoll ergänzen?

Das Lagerleben entpuppt sich als grosse Bereicherung unserer Dolomitentage. Nicht nur sind wir die Sorge los, vielleicht an noch verschlossenen Hüttentüren rütteln zu müssen, sondern wir kommen gleich in den Genuss sämtlicher Sinneseindrücke, welche die Natur ihren Liebhabern grosszügig verschenkt. Beispiele: Vogelgezwitscher, Waldesduft, Bachgemurmel und... Kuckucksrufe. Richtig: Kuckucksrufe! Einmal hier « kuckuck - kuckuck », einmal dort « kuckuck - kuckuck! », einmal vorn, einmal hinten, einmal rechts, einmal links « kuckuck -kuckuck! » Von morgens früh bis abends spät « kuckuck — kuckuck! » Und einmal sogar mitten in der Nacht; aber diesmal gesanglich recht unvollkommen!

Kamerad Louis hat sich nämlich am Vorabend mit dem « Gugger » einen kleinen, harmlosen Scherz erlaubt. Er ist im Wald herumgeschlichen und hat ihn mit seinen Imitationsru-fen aus stets wechselnder Position zum Narren gehalten. Und was anfänglich noch ein gemütliches, gegenseitiges Antwortgeben schien, wurde nach und nach zu einem raschen, aufgeregten, sogar hitzigen Wechselgesang. Ja, schliesslich hatte der echte Kuckuck sogar versucht, unsern Louis richtiggehend niederzu-guggern. Dann ist es halt passiert: der arme Kerl ( der Gugger natürlich ) wurde heiser, und seither bringt er nur noch den ersten Laut seines Rufes zum Schnabel hinaus: « kuck...kuck... !».

Doch wir sind ja nicht einzig und allein in die Dolomiten gekommen, um das Lagerleben zu geniessen und um den Kuckuck in den Wahnsinn zu treiben. Uns haben die Berge hinge-lockt: ihre eindrucksvollen, gelbroten Wände, die unzähligen bizarren Nadeln und Türme!

Bergführer Franz Anderrüthi, mehrjähriger Seilgefährte meiner alpinen Säuglingszeit, führt uns zuerst einmal an den Fuss eines 250 Meter hohen Eckpfeilers des Civetta-Massivs, zur Torre Venezia. Venezia heisst auf deutsch Venedig, und diese Stadt hat bekanntlich etwas mit Wasser zu tun. Es heisst also auf der Hut sein, besonders da die himmlischen Kulissenschieber heute unheimlich fleissig sind.

Dies ist der Grund, warum wir nur gerade unsere jungen, wetterharten Kameraden Walter und Andreas an die Westwand delegieren, auf die Castiglione-Route, die als Genusskletterei bekanntgeworden ist. Wir andern neun Kameraden wenden uns einträchtig dem Normalweg zu. Da die Führerbeschreibung auch für diese Route interessante und schöne Kletterei in gutem Fels verspricht, können wir uns gut damit abfinden.

Nachdem wir in westalpiner Art ein Stück weit durch eine Schneerinne in die Höhe gestiegen sind, erlebt Tourenchef Roger in der gebänderten Ostflanke des gewaltigen Turms seine erste Enttäuschung. « Das isch ja ei Güsel-hufe! », jammert er mit bekümmerter Miene und schaut dabei ausgerechnet mich an, als ob ich ihm jemals etwas anderes versprochen hätte. « Humorist, hast du sie denn nicht gesehen, im Aufstieg, die riesigen Schutthalden am Fuss des Turms? Glaubst du wohl, man habe all diese Steine vom Tal hinaufgetragen? » Wenn Rogers Klage zum Teil auch ihre Berechtigung haben mag, so gibt es doch einen grossen Trost: Mir scheint, dass es in den Dolomiten nur gerade zwei Sorten Steine gibt, nämlich Maxiblöcke und Ministeinchen. Von den erstem wird wohl so alle Jahrhunderte einmal einer aus der Wand fallen - wenn 's gerade niemand sieht -, gerade wie etwa an einem alten Haus von Zeit zu Zeit über Nacht ein Stück Verputz herunterfällt. Und die zweiten, die Ministeinchen, welche in rauhen Mengen auf den Bändern herumliegen und fürs Leben gern von Steinschlaghelm zu Steinschlaghelm hüpfen, diese richten bestimmt keinen grossen Schaden an.

Unser treubesorgter Franz führt uns nach kurzer Solo-Erkundigungsfahrt um verschiedene Ecken durch die ganze Ostflanke der Torre Venezia an die Mündung einer gewaltigen, rinnenartigen Verschneidung. Ha, endlich geht 's richtig los! Nun soll Zahltag für die vielen ermüdenden Strassenkilometer sein. Nun wollen wir einmal die sprichwörtliche Griffigkeit des Dolomits mit eigenen Augen und Fingern erleben. Es muss herrlich sein, die Hände in tiefe Henkelgriffe zu versenken und, aus dem verschwenderischen Angebot schönster Tritte die idealsten herauspickend, den Körper mit sanftem Druck in die Höhe zu schieben. Eine genussvolle Klettertour in den heimatlichen Bergen bietet ja schon allerhand. In den Dolomiten aber muss das Klettern noch viel abenteuerlicher und erregender sein!

Was, zum Kuckuck, ist aber eigentlich mit unsern sechs Kameraden los, die bereits dreissig, vierzig, fünfzig Meter über uns im Geklüft hängen? Täusche ich mich, oder wird da nicht zeitweise ganz regelwidrig herumgescharrt und — gemurkst? Nein, ich habe klar gesehen! Es wird da oben, auf dem Dolomiten-Genuss-kletter-Parkett der Torre Venezia, unglaublich eckig getanzt, und der Grund dafür ist im Fehlen der gefragten Henkelgriffe zu suchen. Wohlverstanden, es gibt Griffe und Tritte, sogar in rauhen Mengen, aber sie sind klein, schrecklich klein.

Dies wäre also Rogers zweite Enttäuschung, und diesmal die meinige dazu!

Man hätte sie sich eigentlich ersparen können, hätte nur den Worten des bekannten Urner Granitspezialisten - seinen Namen will ich schonen-derweise verschweigen - Glauben schenken müssen. Der Mann soll 's schon Vorjahren an den Zinnen geklagt haben, und heute widerhallt das geflügelte Wort also auch an den erbarmungslosen Wänden der Torre Venezia: « Säg du, da chasch dich ja nienä heebä! » Das Wehgeschrei ist angestimmt und lässt sich nicht mehr zurücknehmen, obschon mir scheinen will, dass es uns nach den ersten Seillängen bereits ein bisschen besser rollt. Wer weiss, vielleicht ginge es noch bedeutend besser, wenn es uns ge- länge, unsere Klischeevorstellungen über Bord zu werfen: wenn wir beispielsweise darauf verzichteten, nach grossen Griffen Ausschau zu halten, und uns dafür an die kleinen hielten!

Doch dies ist rascher gedacht als getan, und deshalb versteht es die Schlüsselstelle, ein senkrechtes Wändchen im vierten Schwierigkeitsgrad, uns nochmals so richtig Respekt einzujagen. « Klettern heisst spreizen! » doziert Paul, wie er mich da oben pusten und vergeblich in einem Riss nach Griffen angeln sieht. Der hat gut reden, hinten am Seil! Völlig unzufrieden mit meiner Leistung, treffe ich nach Minuten auf dem Gip-felringband ein.

Leider bietet der restliche Aufstieg keine Möglichkeit mehr, das gekränkte Gemüt wieder aufzurichten. Er besteht nämlich aus lauter feinem Schutt. Das hätten wir der stolzen Torre Venezia aus der Froschperspektive nie zugetraut!

Der erlittenen Demütigung zum Trotz vermag sich auf dem höchsten Punkt angesichts der gewaltigen Tiefe, welche wir über die Ränder mehr ahnen als sehen, so etwas wie Gipfelglück in mein Herz einzuschleichen. An eine beschauliche Gipfelrast ist indessen nicht zu denken. Franz ist uns unterhalb des Gipfels, auf dem Ringband, schon wieder im Abstieg begegnet. Er will in Eile die Abseilstellen vorbereiten, denn es sieht seit einer halben Stunde wieder einmal bedrohlich aus über der Cima della Busazza.

Wir andern sind auch nicht besonders auf « Venedigs » Naturschätze erpicht. Wir beeilen uns, gucken aber pflichtbewusst noch rasch in die Westwand hinab. Aha, da kommen sie ja eben, unsere beiden Auserwählten. Sie wissen uns allerhand zu erzählen. Von kalten Fingern, frei zu erkletternden, ausgebauchten Wandstellen und von einem irrsinnig ausgesetzten 8o-Meter-Riss. Vergleichsweise sei unser Geissstockriss am Mythen, an welchem wir sämtliche Risse der Alpen zu bewerten pflegen, ein Tummelplatz für Kleinkinder.

Nichts kann uns daran hindern, nun unsererseits etwas aufzuschneiden und unsere abenteuer- 1Die Torre Venezia mit der Vazzolerhütte Photo Willy Auf der Maur, Seewen 2 Männer unter Dolomitenwänden: Rückblick zum Campanile Photo Willy Auf der Maur, Seewen 3Das Lagerleben - Bereicherung unserer Dolomitentage. Im Val Montanaia Photo Walter Betschart, Schwyz liehe Kletterei, insbesondere die Schlüsselstelle, mit dramatischem Unterton zu schildern. Wie sie dann auf der .Abseilfahrt unsern heutigen « Vierer » sehen, ernten wir allerdings nur ein mitleidiges, schiefes Lächeln: « E so isch es bi üs änne die ganz Zit obsi gange - nid nur zäh, zwölf Meter wit - sondern drissg bis vierzg, mängisch ohni e Zwü-schehagge! » Schrecklich sind sie, diese Dolomiten, hart und unbarmherzig!

Zwei Tage später kampieren wir auf einer Märchenwiese im Val Cimoliana. Ziel: der Ca-panile di Val Montanaia.

Wir freuen uns riesig auf diese Tour, obwohl wir hier grössere Schwierigkeiten zu erwarten haben als an der Torre Venezia. Wir fühlen uns aber auch nervlich und körperlich entsprechend besser. Die grosse Stille der Dolomiten und die Landweine haben ihre Wirkung nicht verfehlt!

Der Aufstieg zum Fuss des Campanile ist mühsam. Er führt durch ein jähes, von Steilwänden eingefasstes Schutt-Tal. Vorsorglich haben wir uns am Vorabend mit dicken Stöcken eingedeckt. « Zum Ufstütze! » haben wir uns dabei gegenseitig, ohne mit der Wimper zu zucken, versichert. Vielleicht hat die Sache aber einen tiefern Grund. Franz Anderrüthi hat uns nämlich schon am ersten Abend schonend beigebracht, dass es in den Dolomiten Giftschlangen gebe. Er habe aber Serum mitgebracht, und somit wüsste ein jeder von uns, was er im Falle eines Falles zu tun hätte.

Giftschlangen? Ich konnte es fast nicht glauben, denn ich habe schon in allzu vielen Berggegenden geweilt, wo es laut Literatur solche Tierchen geben sollte. Gesehen habe ich aber nie eines!

Inzwischen haben wir jedoch erfahren, dass unser Bergführer nicht gelogen hat. In den Dolomiten gibt es tatsächlich Schlangen. Kamerad Louis hat nämlich den Vipernbestand am Fuss der Torre Venezia schon am ersten Tag um ein gefährlich zischendes Exemplar vermindert. Und in der Stadt Belluno ist an unübersehbarer Stelle der Einkaufsbummelstrasse ein grosses Schlangen-Warnungsplakat angebracht. Seither halten wir der Wärme zum Trotz die Socken schön säuberlich hochgestülpt.

Kamerad Paul weiss uns zu erzählen, dass man Schlangen am besten mit heftigem Getrampel verscheuchen könne. Im Militärdienst, im Tessin, hätten sie Befehl gehabt, vor Betreten eines Gebüsches jeweils die Gewehrkolben auf den Boden zu schlagen. Vielleicht kann man mit Stöcken eine ähnliche Wirkung erzielen - und wenn nicht, so sind sie zumindest feine Mordwaffen.

Knappe zwei Stunden trampeln wir über Geröll hinauf, bis unser Campanile über einer letzten Steilstufe aus den Legföhren herauswächst. Er bietet einen faszinierenden Eindruck, dieser zweihundert Meter hohe, senkrechte Turm mit seiner urkomischen Gestalt, welche an einen geköpften Riesen erinnert. Tief beeindruckt, lassen wir unsere Blicke über die abweisenden Wände wandern. Aufstiegsmöglichkeiten lassen sich mehrere erahnen. Aber diese Steilheit! Wir vergessen darob schier die Schlangen. Reptilien kann man schliesslich totschlagen - aber Wände?

Wenig später stehen wir im Schattenwurf unseres Turmes, die Hände bereits am Fels, den Kopf im Nacken. Es gibt zwar nicht viel zu sehen. Unter senkrechten Wänden gibt es nie viel zu sehen. Höchstens etwa ein Stück Himmel, einen Hosenboden, schwarze Gummisohlen. Warum starrt man bloss immer in die Höhe, anstatt die wenigen Quadratmeter Fels, die man wie ein Brett vor den Augen hat, etwas näher zu betrachten? Ich tue dies ausnahmsweise, und dabei fällt mir wiederum auf, wie verschieden doch dieser Dolomit von unserm heimatlichen Kalkfels ist.

Bei uns scheinen die Wände von einem riesigen Käsemesser von der übrigen Felsmasse abgetrennt worden zu sein. Zurück blieben glatte Schnittflächen, die im Verlauf der Jahrhun- 4Am Campanile di Val Montanaia. Fester Fels in den Steilwänden, feiner Schutt auf den Bändern Photo Walter Betschart, Schwyz 5Die ¢o Meter hohe Gusela di Vescovà - Wahrzeichen der Schiara-Gruppe Photo Walter Betschart, Schwyz derte durch oberflächliche Spannungen und durch die Verwitterung einiges Relief erhielten. Ganz anders in den Dolomiten. Hier wurde offensichtlich mit einer Zackenschere gearbeitet. Die Felsoberfläche ist entsprechend rauh. Vielerorts besteht sie gar aus lauter Plättchen, die wie Stacheln waagrecht aus der Masse herausragen. Ein reichliches Angebot an Griffchen und Trittchen, fast ein zu reiches!

Unsere Blicke wühlen sich durch den Überfluss, sehen da und dort, ja überall eine Durchstiegsmöglichkeit. Doch skeptisch, wie wir von Natur aus gegen jegliche Art unabgestützter Felsgebilde sind, trägt dies heute nicht viel zu unserer Beruhigung bei. Das Zeug könnte ja abbrechen, oder man könnte etwas von der Route abkommen und sich plötzlich in ungemütlicher Lage befinden.

Da ist es beruhigend, den Führer vorn zu wissen. Franz ist schon vor einiger Zeit über der ersten Steilstufe unsern Blicken entschwunden. Vier weitere Kameraden hat der Berg verschluckt. Nur noch Peter, der Seilzweite der vordem Seilschaft, klebt jetzt vor mir am Fels. Diesen Kameraden ja nie aus den Augen zu verlieren ist nun meine ganze Sorge. Also los, Peter nach! Prachtsgriffe in den ersten Metern. Aha, dies gibt 's also doch! Dann in feingriffiger Kletterei einem Riss entgegen, der mich an den Einstiegsriss am Adlerspitzli erinnert. Fünfzehn Meter über dem Einstieg findet sich ein erster Felshaken. Der Karabiner schnappt ein — beruhigendes Gefühl. Weiter geht 's, senkrecht, aufs erste Bändchen. Darüber eine Rinne. Andres sucht dort oben krampfhaft nach einem Haken - vergeblich. Wenn er, der abgebrühte Torre-Venezia-Bezwinger, sich an dieser Stelle einen Haken wünscht, wie wird es dann mir ergehen? Ich bin beunruhigt. Unnötigerweise, denn just an der richtigen Stelle hat die Natur ein Fels-zäpfchen stehenlassen, über das ich einen Mastwurf stülpen kann. Heisses Glücksgefühl in den nächsten feingriffigen, aber sichern Metern. 5 Wundervoll ist es am Campanile!

« Das isch scho gäch - das sind mier üs eifach nid gwöhnt », höre ich hinter mir einen Kameraden sagen. Eine etwas leichtfertige Behauptung! Wir turnen daheim auch in Steilwänden umher - bei dieser Steilheit allerdings nur an Hakenleitern. Hier aber geht es in freier Kletterei aufwärts. Und die Griffe, die wir unter den Fingern spüren, sind auch nicht übertrieben gross. Aber fest sind sie; was man auch anfasst, hält. Da kann man sich nur fragen, woher eigentlich all der Güsel auf den Bändern und am Fuss des Turms und die endlosen Geröll-schlangen stammen. Hab'ich vielleicht Roger doch unrecht getan; hat man das Geröll eventuell doch vom Tal heraufgetragen?

Die Legföhrenfelder weichen zurück, werden zum tiefgrünen, feingewobenen Teppich. Wieder einmal hole ich die vordere Seilschaft am Ende eines Bändchens ein. Sie ist eben mit dem Cozzi-Riss beschäftigt. Dank seiner scharfen Berandung und einigen Haken bereitet er mir keine besondere Mühe. Aber Peter eilt mir an der etwas zeitraubenden Stelle doch davon, und so sehe ich mich wieder einmal mutterseelenallein in der Wand. Über gutgestuften Fels komme ich rasch der nächsten Felsstufe näher. Von meinem Vorgänger keine Spur. Er kann doch nicht schon über die ausgebauchte Wand hinweg sein«Peter, wo bisch du? » - « Da — hiä! » tönt 's undeutlich aus dem Weltraum. Es bedürfte eines Radargerätes, um Peter zu orten. « Wooo? » - « Hiä, da änne - muesch am Bandii nache! » Tatsächlich, an der linken, senkrechten Wandbegrenzung ist der Ansatz eines Bandes zu erkennen. Neugierig ziehe ich die farbigen Seilstränge hinter mir her, erreiche das Eck, recke vorsichtig den Kopf auf die andere Seite. Mir droht der Atem zu stocken, denn was ich sehe, ist Luft, nichts als Luft. Bei näherem Hinsehen gewahre ich allerdings ein Bändchen oder eher eine Schichtleiste. Aber da kann man nicht drauf stehen, weil darüber der Fels ausgebaucht ist. Und wenig unterhalb der Leiste bricht die Wandflucht überhängend ab. Aber dort, am Saum des Abbruchs, findet sich noch eine handbreite Leiste. Dort setze ich denn auch bald vorsichtig meinen Fuss auf. Die obere Leiste ist nun genau auf Brusthöhe. Wie ich erleichtert feststelle, ist sie ziemlich rauh. Es wäre also keine Hexerei, den beiden Schichträndern zu folgen — wenn man den hundertfünfzig Meter tiefen Abgrund vergessen könnte, der sich mit seinem ganzen Volumen wie ein schweres Gewicht an meine Beine zu hängen droht.

Fast zentimeterweise schiebe ich meinen Körper den beiden Leisten entlang, erreiche einen einsamen, stark abstehenden Haken — den einzigen in dieser zwölf Meter langen Querung -, gewahre bei konzentriertem Schauen und Empfinden schemenhaft die Kameraden. Sie halten den strategisch wichtigsten Punkt dieses grauenhaften Turms besetzt. Peter hockt am Ende des Quergangs, unverrückbar in einem Loch verkeilt, den Blick in die weite Ferne gerichtet. Andres, sein Seilführer, hingegen klebt, mit langen Beinen weit verspreizt, über der sich nach oben verengenden Kluft und angelt in beinahe aufreizender Ruhe im Überhang nach einem Fortbewegungshaken. Ich aber habe nun das zweifelhafte Vergnügen, da draussen zu stehen, bis es in der Nische Luft gibt.

« Me hätt solle chöne diä Gsichter fotografiere, det am hellblaue Eggeli! » lacht Louis später. «'S hellblau Eggeli! » Louis hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Einen bessern Namen für diesen luftigsten aller luftigen Quergänge gibt es nicht!

Die Querung und die Überwindung der nächsten Felsstufe bedeuten das Ende der grössten Schwierigkeiten. Bald erreichen wir ein Ringband, über welchem sich der zerschrundete Gipfel aufbaut. Komisch, dass jeder Dolomitenturm sein Ringband haben muss und dass wir auch auf diesem Band wieder feinen Schutt in grosser Menge antreffen. In den Wänden auffallend fester Fels und auf den Bändern Kies. Geradezu verdächtig! Sollten diese verflixten Bänder viel- leicht nicht nur Ablagerungsplatz sein, sondern all die Steine selber gebären?

Ja, es muss so sein! Wenn die Dolomiten schon horizontal geschichtet sind, so müssen sie sich auch wieder waagrecht abbauen. Für mich besteht also gar kein Zweifel mehr, dass die Dolomiten von oben her « faulen », vom Gipfel und von diesen scheinheiligen Ringbändern her!

Die letzten vierzig Meter Kletterei auf der massig steilen, wunderschönen Südostkante sind nur noch ein « Ausplampen ». Das Rennen ist gelaufen, auch wenn dem Abstieg noch einige Fragezeichen anhaften. Froh drücken wir einander die Hand. « Hesch au abe gluogt, im Quergang? » Auch auf dieser Dolomitenzinne können wir nicht lange rasten. Die Kameraden haben bereits die erste Abseilstelle eingerichtet und warten sehnsüchtig auf weiteres Seilmaterial. Also los, in Gottes Namen, hinein in die unbequemste aller alpinen Übungen. Paul schwärmt fürdieDülfer-Me-thode. Er wird wohl Hosenfabrik-Aktionär sein.

Eine Stunde später fährt Beni in einer Staubwolke zu Tal. Nicht um uns ein Heldenmahl zu bereiten, sondern um seinen Schlafsack, den er frühmorgens zuversichtlich aufs Zeltdach geschmissen hat, vor dem drohenden Gewitterregen in Sicherheit zu bringen. Wir andern aber trampeln in unserm lächerlichen Kriegsschmuck beim Bivacco Giuliano Perugini in den Enzianen umher, den Blick gebannt auf den Campanile di Val Montanaia, diesen asymmetrischen, komischen Steinhaufen, gerichtet. Roger schüttelt den Kopf und presst ein vielsagendes « Heiterecheib » zwischen den Lippen hervor. Faszinierende Dolomiten!

Auch dem perfektesten Dolomitenkenner würde eine Zacke aus der Krone seiner Vollkommenheit fallen, wüsste er nicht, was eine « via ferrata » ist. Das grossartige Land der Dolomiten ist von diesen Einrichtungen nämlich förmlich übersät. Sie sind es, welche den hüttenbesitzenden CAI-Sektionen die Dividenden bringen.

« Viaferrata » kann man mit « Eisenweg » über- setzen. Im deutschsprachigen Ostalpenraum würde man etwa von einem « gesicherten » oder, etwas komisch, von einem « versicherten Steig » sprechen. Dass wir Eidgenossen weder gleichwertige Anlagen noch einen eigenen Namen hiefür haben, beweist, wie unerschlossen unsere Bergwelt noch ist.

Die Eisenwege dienen also der Touristik. Wanderer begehen sie oft, um das Gruseln zu lernen, und wenn sich ausnahmsweise Kletterer auf eine Via ferrata verirren, dann hoffen sie hier ihre Überlegenheit demonstrieren und auskosten zu können.

Sie führen kreuz und quer durch hohe und höchste Felswände. Die unsrige an der Schiara ( sprich Sgiara ) beispielsweise, die Via ferrata Zacchi, überwindet zusammen mit ihrer natürlichen Fortsetzung, der Via ferrata Berti, nicht weniger als achthundert Meter Höhendifferenz.

Gesichert sind diese Weganlagen mit Eisen-stiften,bügeln, Drahtseilen und tipptopp verankerten Eisenleitern, welche nicht selten senkrecht, hie und da auf kurzer Strecke sogar leicht überhängend zur Höhe führen.

« Erfreut man sich Damenbegleitung, ist die Mitnahme eines kurzen Seils zur gelegentlichen Sicherung angebracht! » lesen wir im Kletterführer. Da haben wir 's einmal schwarz auf weiss: Das starke Geschlecht ist schwindelfrei -das schwache ist es nicht! Und uns wackere SAC-Mannen lässt unser Bergführer bei den ersten Sprossen der Via ferrata Zacchi wie auf einer Klettertour dritten Grades anseilen! Als ob wir nicht am Campanile den Beweis absoluter Schwindelfreiheit erbracht hätten. Aber vielleicht wissen Führer um die Auswirkungen eines lustigen Hüttenabends besser Bescheid als wir gewöhnlichen Bergsteiger!

Die Schiara ist ein typischer Dolomitenberg, ein breitgebauter Irrgarten von Schluchten, Rinnen, Vorbauten und Bändern. Einmal eingestiegen, verschwinden hier die Bergsteiger wie Ameisen in der Borkenrinde von Akazien und sind den ganzen Tag nicht mehr zu sehen. Dem freundlichen Hüttenwart der Alpinihütte mag es deshalb wohl kaum einfallen, die Svizzeri bei ihren ersten eisernen Kletterversuchen zu beobachten.

Der Gang durch die Südwand der Schiara wird uns zum eindrucksvollen Naturerlebnis, gerade eben der stets wechselnden Szenerie wegen. Mit jedem Durchschlupf, nach jeder Wegbiegung treten neue Perspektiven in unser Gesichtsfeld. Einmal ist es der Tiefblick, welcher zu fesseln vermag, ein andermal die aufstrebende Wand, ein drittes Mal der Formenreichtum der nahen Umgebung.

An das neue Element, das Eisen, gewöhnen wir uns rasch. Mit stillem Vergnügen haken wir uns an den Bügeln ein, lassen hie und da sogar einen Karabiner einschnappen und gucken zwischen den Beinen in die beträchtliche, aber nie erschreckende Tiefe.

Die Schiara ist ihrer grossartigen Aussicht wegen bekannt. Durch den Einschnitt des Val d' Ardo erblicken wir das Häusermeer der oberitalienischen Stadt Belluno. Bei klarem Herbstwetter soll der Blick sogar in die venezianische Ebene und bis zur Adria reichen.

An Reizen bietet also die Schiara viel; doch dürfte bei alledem klar sein, dass dieser verhältnismässig leicht besteigbare Berg nicht alleiniges Ziel unseres Ehrgeizes sein kann. Leidenschaft-liche Kletterer wünschen Fels unter den Fingern zu spüren und nicht Eisenbügel. Sie dürsten nach Bewährung, träumen von rassigen, ausgesetzten Kletterstellen.

Glücklicherweise gibt es da am Wegrand noch eine wundervolle, schlanke, vierzig Meter hohe Felsnadel, die Gusela di Vescovo. Sie steht, vom Gipfelaufbau der Schiara durch eine Scharte abgetrennt, auf waagrechter Gratschulter über einem sechshundert Meter hohen Abgrund.

Die Gusela ist das Wahrzeichen der Schiara-Gruppe. Welche Bedeutung ihr zukommen muss, kann man ermessen, wenn man den Kletterführer durchblättert oder in der Alpinihütte weilt. Da strotzt es nur so von photographierten und skizzierten Guselas. Sie nicht zu besteigen käme offenbar einer alpinen Todsünde gleich.

Wir lassen uns heute bestimmt nicht zweimal bitten! Die psychologischen Voraussetzungen für eine « Gusela-Bezwingung » sind überaus günstig, denn die Torre Venezia und der Campanile haben uns, wie bereits dargelegt, etwas gedemütigt. Da können wir uns gar nichts Besseres wünschen als so eine eigenwillige, verehrte, gefürchtete kleine Gusela. Sie wird uns Gelegenheit bieten, unser Selbstbewusstsein aufzupolieren, ohne dass wir uns gleich ins Abenteuer zu stürzen brauchen. Was soll uns dann nach geglückter Besteigung daran hindern, uns doch noch als kleine Comicis zu fühlen!

Fast wird meiner persönlichen Dolomiten-Kletterkarriere im allerletzten Augenblick der Garaus gemacht. Schuld daran ist — wie könnte es anders sein - eine Schlange, die beim Einstieg unverhofft bei einer Felswölbung auftaucht. Ein feuerrotes, schön gezeichnetes Exemplar, zwei, drei — was sag'ich -, vier, fünf Meter lang... und vom Schwanz noch keine Spur! Mehr verwundert als erschrocken, fasziniert und zu jeder Reaktion unfähig, schaue ich ihr zu. Sie kommt direkt auf mich zugeschlängelt, ausgerechnet auf mich, näher und näher. Da, im allerletzten Augenblick, zum Greifen nah, macht sie mit erhobenem Kopf halt.

« Bindid üch dra - mier tüönd üch ufä sichere! » bellt von hoher Warte herab die Stimme der Versuchung.

Uns hinaufsichern lassen, das war 's! Da könnten wir uns mit Lust und Wonne durch das versteinerte Schlaraffenland hindurchwühlen, müssten uns den Weg nicht schrittweise mit peinlich genau abgewogenen Bewegungen ertasten. Aber ob es mir dabei gelingen würde, den Wunsch nach weitern Dolomiten-Abenteuern in die nächsten Jahre hinüberzuretten?

« Mier chömid ungsicheret! » Päng, der heroische Entschluss ist gefasst - endgültig. Fast bedaure ich es in den ersten verflixt feingrimgen Metern. Dann aber kommen die guten Griffe und die Haken, letztere goldrichtig, alle paar Meter einer. Eine wunderbare Kletterei, so richtig zum Geniessen, unverschämt steil, aber sicherer als ein Gang über den Schwyzer Hauptplatz.

Auf zwei Dritteln der Höhe nehme ich Peter nach, dann biege ich ums Eck in den steilen Südabsturz der Nadel und ihres gewaltigen Unterbaus hinaus. Ganz Italien liegt zu meinen Füssen! Und über mir erblicke ich am Rande eines Risses ein halbes Dutzend prächtiger, waagrechter Griffe. Sie werden mich fast mühelos zum Gipfel heben. Da weiss ich es genau: Für mich hat heute morgen der Dolomiten-Gugger nicht zum letztenmal geschrien! Herrliche Dolomiten!

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