Wir sind ein Stück Natur
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Wir sind ein Stück Natur

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Werner Schnieper, Basel

Eine reiche Heimat ist uns geschenkt - reich nicht an Bodenschätzen, wohl aber an Schönheiten der Natur und Denkmälern aus dem Kultur-und Geistesleben. Dieser Heimat mit ihren landschaftlichen Schönheiten, aber auch dem Gesicht und dem Charakter unserer Städte und Dörfer droht heute mehr denn je Gefahr. Die rasche Entwicklung unserer Bevölkerung mit ihren wachsenden Ansprüchen an Wohnraum und Ver-kehrsfläche, insbesondere aber die fortschreitende Industrialisierung führen zu einer tiefgreifenden und später kaum mehr korrigierbaren Wandlung des Landschaftsbildes. Diese vollzieht sich zwar nicht in dramatischem Amoklauf der Zerstörung, doch vermag sie im Laufe weniger Jahrzehnte - ein kurzer Zeitraum für ein bald sieben Jahrhunderte altes Staatswesen - Veränderungen des Ausdrucks und der Eigenart unserer Heimat zu bewirken, über die vermutlich schon die uns folgende Generation den Kopf schütteln wird.

Die eigentliche Schönheit einer Landschaft liegt in ihrer naturgegebenen Ursprünglichkeit, die sich allerdings nicht um jeden Preis erhalten lässt. Jede noch so sorgfältig geplante und durchgeführte Technisierung bedeutet einen Eingriff in die Natur und entkleidet sie damit wenigstens teilweise ihres Reizes. Dieser Gefahr sind wir uns wohl bewusst. Die Diskussion um Fragen des Heimatschutzes wogt seit Jahren hin und her, aber nie wird sich ein gültiges Rezept finden lassen, das den Ansprüchen und Wünschen aller Kreise unseres Volkes entspricht. Auch ein passionierter Heimatschützler wird sich der Einsicht nicht verschliessen können, dass ein Volk von sechs Millionen Einwohnern in einem Land mit einer nur teilweise nutzbaren Fläche von etwas über 41 000 Quadratkilometern Ansprüche wirtschaftlicher, verkehrstechnischer und privater Art anzumelden hat, die keine Rückkehr ins Zeitalter der Postkutsche gestatten.

Jede Generation schafft und gestaltet sich ihren Lebensraum. Im Verlauf der Nachkriegszeit haben sich im Zeichen des konjunkturellen Aufstieges unsere Lebensansprüche ausserordentlich gesteigert. Das Volkseinkommen hat sich mehr als verdoppelt, die Arbeitszeit wurde verkürzt, und die Freizeit ist wie die Arbeit zum Lebenselement geworden. Das Auto gehört zum Besitz jeder zweiten Schweizer Familie, und selbst das Ferienhaus ist keineswegs mehr das Vorrecht einer Gruppe von Privilegierten. So stossen wir in landschaftlich reizvollen Gegenden oft geradezu auf « Feriendörfer », die nach Plazierung und Bauart nicht dazu beitragen, das Landschaftsbild erfreulich zu gestalten.

Die wirtschaftlichen Ansprüche erheischen sodann den Bau von Kraftwerken, neuen Verkehrswegen, Wohnbauten, Spitälern, Altersheimen, Schulen usw. Mit Siebenmeilenstiefeln eilt die Zeit und mit ihr die technische Entwicklung. Wir wollen und müssen mitmarschieren, denn ein Volk, das auf den Fortschritt verzichtet, gibt sich selbst auf. Heimatschutz kann also nicht die konsequente Bewahrung von Althergebrachtem bedeuten. Mit der wachsenden Zahl von Menschen wächst auch die Notwendigkeit der Schaffung ausreichender Erholungsräume. Mehr als ein Drittel unserer Bevölkerung wohnt heute in Städten von über io ooo Einwohnern, deren gesundheitliches und seelisches Wohlbefinden von angemessenen Zonen der Erholung in unmittelbarer Nähe der Wohnstätte abhängig ist.

Der Bedrohung der Natur, für die nicht die Technik, sondern immer nur wir Menschen verantwortlich sind, muss auch vom Menschen aus begegnet werden. Wir zeigen die Neigung, mehr zu staunen über das, was von Menschenhand geschaffen ist, als über jenes, was es ohne unser Zutun an Wundern der Natur gibt. In unserem Denken haben wir uns wohl über die Natur erhoben, wir vermochten sie zum guten Teil in unsere Botmässigkeit zu zwingen; dessenungeachtet bleiben aber die Urkräfte der Natur unsere eigentliche Lebenssubstanz. Aus diesen Kräften schöpfen die meisten Menschen ihre Lebensfreude und ihren Lebensmut.

Diese aus der Natur uns zuströmenden Kräfte gilt es zu erhalten. Wir sind aber auf dem besten Weg, diese unschätzbaren, mit keinem Vermögen aufwiegbaren Werte fortlaufend zu mindern oder gar zu zerstören, in bedenklicher Ignoranz um die Notwendigkeit unserer Beziehung zur Natur. Wir geben uns zufrieden mit einer Ersatz-und Scheinwelt technischen Charakters, um unser Dasein « lebenswert » zu gestalten und uns « die Zeit zu vertreiben ». Unsere Seele aber verarmt infolge der Mangelwirtschaft an aufbauenden und belebenden Natureindrücken. Die Abhängigkeit von natürlichen Dingen wie Duft, Ton, Farbe, Form, geistige Beschäftigung mit dem Sternenhimmel, mit den Jahreszeiten, mit allem, was in Flora und Fauna lebt und ist, gehören mit zu unserem Dasein und Lebensgefühl.

Diese Überlegungen dürfen uns wohl zur Einsicht führen, dass Heimatschutz mehr als eine ästhetische Liebhaberangelegenheit darstellt. Die Schönheit und Ursprünglichkeit einer Landschaft will nicht nur geschaut, sondern erlebt sein, und zwar wenn möglich nicht bloss im Verlauf der Ferienzeit, sondern auch in der Landschaft unseres Alltags. Mit einem Freilichtmuseum wird dem Sehen nachgeholfen; das Erleben aber fordert mehr als einen Museumsbesuch, so wie jeder echte Tierfreund sich nicht damit begnügt, den Reichtum der Schöpfung an Lebewesen im Zoo zu besichtigen. Wir müssen deshalb nach gangbaren Methoden suchen, die durch den Heimat-und Naturschutz anvisierten Ziele mit den wirt-schaftlich-technischen Notwendigkeiten in sinnvoller Weise zu koordinieren.

Dabei ist von der Tatsache auszugehen, dass Geschehenes zumeist nicht rückgängig zu machen ist; umso notwendiger ist es, vorauszuplanen, indem wir heute schon an das Jahr 2000 denken. Wir dürfen dabei nicht bloss Heimat und Lebensraum der Menschen von heute einbeziehen, sondern müssen weiter vortasten. Vorbilder für ein kühnes Vorausplanen finden sich in allen Zeiten der Geschichte unseres Volkes. Das Problem ist nicht neu, nur die Voraussetzungen zu einer gültigen Lösung wandeln sich. Die sich zeigenden Aufgaben gewinnen an Gewicht - anderseits verfügen wir heute aber auch über einigermassen zuverlässige Kriterien für die Zukunftsbeurteilung. Das Jahr 2000 wird vermutlich unserem Land eine Bevölkerung von rund io Millionen bringen. Ein erspriessliches und für den einzelnen erträgliches Zusammenleben wird sich nur dann sichern lassen, wenn wir uns heute schon um die Schweiz der Jahrtausendwende kümmern.

In dieser Zielrichtung erscheint vor allem wesentlich, dass die sinnvolle Nutzung des verfügbaren Bodens vorbereitet wird. Gleichzeitig mit der Planung von Industrie-, Wohn- und sozialen Bauten, Verkehrswegen usw. ist vor allem auch für eine angemessene Sicherung von Grünzonen und Erholungsflächen zu sorgen. Die Kurort-und Feriengebiete, die Wälder und Wanderwege dürfen nicht wähl- und bedenkenlos der Technisierung geopfert werden. Durch Schaffung von industriellen und privaten Bauzonen und ihre säuberliche Abgrenzung ist eine wilde Überbauung des noch freien Geländes zu vermeiden. Im Hinblick auf die heutigen raschen Verkehrsverbindungen besteht keine Notwendigkeit dafür, dass Unternehmer ihre Fabriken in die unmittelbare Nähe des Wohnraums der gesuchten Arbeitskräfte verlegen. Durch die Verwirklichung einer sinngerechten Planung wird das molochar-tige Ausdehnen der Städte vermieden, deren Randgebiete heute ein ausgesprochen unschönes und zugleich unwirtschaftliches Bild ergeben: Wohnhäuser wechseln in bunter, aber wenig ansprechender Weise mit Industrie- und Gewerbe-betrieben, Geschäften, Schulen und Kirchen. Hochhäuser wachsen inmitten kleinerer Bauten oder in freier Landschaft aus dem Boden und lassen jeden Zusammenhang mit Umgebung und Landschaft vermissen. Es fehlt die Harmonie einer organisch gewachsenen Siedelung, wie sie die ältere Stadt und ihre Quartiere, vor allem aber unsere Dörfer teilweise heute noch aufweisen.

Bundesrat Tschudi hat bereits im Jahre 1965 die Ziele einer Landes-, Regional- und Ortsplanung wie folgt umschrieben:

« Es gehört zu unseren wichtigsten Verpflichtungen, den beschränkt vorhandenen Boden rationell und sparsam auszunützen, genügend Grund für die verschiedenen öffentlichen Aufgaben zur Verfügung zu stellen, die nötigen Erholungsräume zu sichern sowie das kulturelle Erbe früherer Zeiten zu erhalten. » Die Marschrichtung ist also vorgezeichnet, und entsprechende Schritte sind eingeleitet. Es wäre aber verfehlt, Landesplanung, Heimat- und Naturschutz allein als Gemeinschaftsaufgabe von Staat, Kantonen und Gemeinden aufzufassen. Die Mitwirkung des Bundes beschränkt sich grundsätzlich auf die Koordination, während die Planung und Durchführung Sache der Kantone und der Gemeinden ist. Im Rahmen der Gemeinde ist damit auch der Initiative des einzelnen Bürgers genügend Raum geboten, ganz abgesehen von der Verantwortung, die jedem einzelnen im Rahmen der Vertretung der Interessen des Hei-mat- und Naturschutzes zufällt. In einem freiheitlichen Staat lassen sich diese Probleme nicht durch ein Diktat verwirklichen, und die Freiheit des Bürgers, einzelner Gruppen oder Unternehmen kann nur dann beschnitten werden, wenn die Interessen der Gesamtheit einen Eingriff erfordern. Als Schweizer hegen wir auch eine instinktive und berechtigte Abneigung gegen jede Art von « offizieller » Planung. Um so wichtiger ist aber die initiative Mitwirkung jedes einzelnen, denn wo das Verständnis des Volkes fehlt, kämpfen kleine Gruppen auf verlorenem Posten. Die Aufklärungsarbeit für die Ziele des Heimat- und Naturschutzes muss deshalb zum Anliegen des ganzen Volkes werden. Einzelne Gruppen - wir dürfen mit Stolz die Pionierarbeit des SAC in diesem Zusammenhang erwähnen - sind natürlich dazu prädestiniert, ein massgebendes Wort mitzureden.

Die stattliche Mitgliederschaft des Schweizer Alpen-Clubs umfasst nicht allein passionierte Bergsteiger, sondern sie stellt eine grosse Gemeinschaft von Naturfreunden aus allen Schichten der Bevölkerung dar, die sich aus Liebe zur Heimat und ihren Schönheiten zu den Idealen des Clubs bekennen. So sehr seine Mitglieder die Berge lieben, können ihnen diese doch zumeist nur Erholung von den Strapazen des beruflichen Alltags bieten. Die meisten SAC-Mitglieder wohnen und arbeiten in städtischen oder halbstädtischen Verhältnissen. Sie wünschen auch in diesem Bereich frische Luft zu atmen und landschaftliche Schönheiten zu geniessen. Wir dürfen deshalb wohl sagen: Der SAC ist ein Club der Berg- und Naturfreunde. Die Natur lieben, heisst für uns, zu ihrem Schutz überall, nicht nur in den Bergen, zu wirken.

So erkennen wir, dass die Nährquellen von Geist und Seele nicht in der Verstandeswelt zu finden sind. Wohl sind die Fortschritte von Forschung, Technik und Wirtschaft anerkennenswert, aber wir halten uns wachsam gegenüber ihrem überbordenden Einfluss auf unsere Welt.

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