«Wild wären die Berge dann nicht mehr»
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«Wild wären die Berge dann nicht mehr» Messkampagne und Naturgefahrenforschung

Seit zehn Jahren liefert ein drahtloses Sensornetzwerk auf dem Hörnligrat am Matterhorn ununterbrochen Messdaten zum Zustand der Felsen und des Permafrosts sowie zum herrschenden Klima. Der Projektleiter Jan Beutel erklärt im Interview, was man mit diesem Datenschatz machen kann.

Sie sammeln einen umfangreichen Datenschatz am Matterhorn, der helfen soll, die Auswirkungen von auftauendem Permafrost besser zu verstehen. Welche Anwendungen könnten davon ausgehen, um Menschen in den Bergen zu schützen?

Primär geht es um Grundlagenforschung. Es gibt noch relativ wenig gesichertes Wissen darüber, was auftauender Permafrost in steilen Felstopografien genau auslöst. Die internationale Wissensgemeinschaft in diesem Bereich ist sehr klein. Entscheidende Fragen werden erst seit wenigen Jahren bearbeitet. Aus dem Labor wissen wir, dass auftauender Permafrost ca. 50% weniger Stabilität hat als gefrorener. Um solche Erkenntnisse vom Labor in die Natur übertragen zu können, ist aber noch sehr viel Arbeit notwendig. Die gewonnenen Messdaten ermöglichen es, bessere Modelle zu entwickeln, mit denen sich Gefahren analysieren und zukünftige Entwicklungen prognostizieren lassen.

Während der Hitzewelle im Juli ist am Matterhorn eine Sicherungsstange ausgebrochen. Warum konnte man das Ereignis trotz den installierten Messgeräten nicht voraussehen?

Es ist nicht die Sicherungsstange ausgebrochen, sondern der ganze Felsen, an dem sie befestigt war. Es gibt bereits die entsprechende Sensortechnik, mit der man einen einzelnen Felsen dauerhaft und auch sehr detailliert überwachen kann. Kein Problem. Aber Punktmessungen direkt am Felsen bedeuten, dass die konkrete Gefahrenstelle bereits bekannt sein muss. Der Felsen muss dann mit Instrumenten versehen und die erhobenen Daten müssen laufend ausgewertet werden. Das ist flächendeckend nicht möglich und auch nicht zielführend. Es ist wichtig, zu verstehen, was eine flächendeckende Überwachung bedeuten würde – wild wären die Berge dann sicherlich nicht mehr. Die Frage ist deshalb, welcher Felsen direkt instrumentiert werden soll und welcher nicht. Und das ist ein Entscheid, der auf Erfahrung, Situationsanalyse, Dringlichkeit, finanziellen Mitteln usw. basiert. Eine typische Expertenentscheidung also.

Konnten Sie in Ihren Messungen am Matterhorn dennoch etwas erkennen, was den Ausbruch der Sicherungsstange erklärt?

Ich bin zehn Tage vor dem Unfall mit einem Gast über diese Stelle gegangen, habe jedoch nichts bemerkt und keine negativen Gedanken gehabt. Aus unseren Permafrostmessungen am Hörnligrat auf 3500 Metern wissen wir, dass die Zone am Kreuzsatz, wo der Felsen mitsamt Sicherungsstange ausbrach, zum Zeitpunkt des Unfalls sicher schon eine Weile komplett aufgetaut war. Das heisst: Der Ausbruch war keine unmittelbare Folge des auftauenden Permafrosts.

Sondern?

Ich gehe davon aus, dass dieser Felsen schon zigmal aufgetaut und wieder gefroren ist in den letzten Jahren – und stets ist er liegen geblieben. Jetzt ist er abgestürzt. Das zeigt, dass noch viel mehr Parameter im Spiel sind als bloss das Auftauen. Zum Beispiel die lokalen Felseigenschaften, die Geometrien oder die allgemeine Verwitterung. Ein Augenschein vor Ort vor und nach dem Ausbruch hat das bestätigt. Der Grat ist dort sehr dünn und spitz. Stellenweise kann man schon seit Jahrzehnten zwischen den Felsen hindurchsehen. Die Matterhorn-Bergführer kennen das alle. Die grosse Frage ist jeweils: Wann genau fällt der Felsen runter?

Heisst das, man kann nicht von einem Ereignis sprechen, das durch den Klimawandel bedingt ist?

Jein. Dass Felspartien durch Erosion abstürzen, ist ein gewöhnlicher Prozess im Gebirge, der durch Temperaturwechsel, Wasserinfiltration und andere Faktoren bestimmt wird. Das gab es schon immer. Zeuge davon sind all das Geröll und die Sedimente weiter unten an den Bergflanken. Aber wegen des Klimawandels finden diese Prozesse nun beschleunigt statt und auch an Orten, wo vorher ein schützender Eispanzer vorhanden war.

Am Piz Cengalo gab es 2017 einen grossen Bergsturz, acht Menschen werden seither vermisst. Noch ist die Gefahr nicht gebannt. Könnten dort neue Methoden zur Früherkennung zum Einsatz kommen?

Am Piz Cengalo wurde bisher nur mit Methoden der Fernerkundung gearbeitet. Das heisst: Man hat mit Kameras, Lasern oder Radar von unten hochgeschaut. Aber es gibt bis heute keinerlei Messungen vor Ort, die Aufschluss darüber geben, welche Verhältnisse dort oben in der Felswand genau herrschen und wie sich der Berg nun weiterentwickelt, nachdem ein bedeutendes Stück abgestürzt ist. Die Überwachung mit Radar vom Tal aus funktioniert so weit gut, ein Warnsystem ist installiert. Aber die Daten und Beobachtungen geben eben auch Rätsel auf. Und um diese zu lösen und bessere Modelle zu entwickeln, ist es unabdingbar, den Berg vor Ort detailliert und über mehrere Jahre hinweg zu vermessen. Das notwendige Instrumentarium und die Fähigkeiten haben wir in unseren bisherigen Projekten entwickelt und erprobt.

Wie wird man überhaupt auf lose Felspartien aufmerksam, die gefährliche Konsequenzen haben könnten?

Die Bergwelt ist gut vernetzt. Generell werden zwischen Wanderern, Alpinisten und Kletterern rege Beobachtungen und Erfahrungen ausgetauscht. Das passiert auf den Hütten genauso wie im Tal, in der klassischen alpinen Führerliteratur genauso wie in den neuen Medien. Mittelfristig werden so die meisten Anzeichen bekannt. Dazu gibt es natürlich auch turnusmässige Überwachungen und Analysen, zum Beispiel von Wegerhaltern, Gemeinden, Kantonen und anderen Organisationen wie den alpinen Vereinen oder PERMOS, dem Schweizer Netzwerk zur Überwachung des Permafrosts.

Mit welchen Gefahren muss man in Zukunft allgemein vermehrt rechnen?

Es wird im nächsten Jahrzehnt vermehrt zu Felsstürzen kommen, und die typischen Steinschlagzonen werden sich in andere Bereiche verschieben. Zudem wird es noch den einen oder anderen spektakulären Gletscherabbruch geben. All das ist in der starken Veränderung der Kryosphäre begründet. Das Eis zieht sich zunehmend zurück, die Schneebedeckung verändert sich räumlich und auch saisonal. Dadurch werden viele Gebiete im hochalpinen Raum instabiler und reagieren empfindlicher auf starke Niederschlagsereignisse, die ebenfalls zunehmen werden. Wo man früher relativ leicht über eine Firn- oder Eisflanke aufsteigen konnte, ist heute nur loses Geröll. Zusätzlich wird es zunehmend schwerer, im Hochsommer eine verfestigte und gefrorene Firndecke zu finden, über die man bis anhin einen Gletscher relativ gefahrlos überqueren konnte.

Zur Person

Jan Beutel ist Geowissenschaftler und Bergführer. An der ETH Zürich leitet er das Forschungsprojekt Permasense.

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