Wer hat Angst vor dem Grand Couloir? Eine Galerie zum Schutz vor Steinschlag?
Im Juni wird das Refuge du Goûter eröffnet. Der Ansturm auf den Mont Blanc dürfte grösser werden, und noch mehr Leute drängen durchdas gefährliche Grand Couloir. Auf dem Tisch ist der Vorschlag, eine Galerie zu bauen.
Auf der einen Seite der Abgrund, auf der anderen Felsblöcke, die den Hang herabstürzen. Mit der Angst im Bauch wagt man sich vor und bringt die rund 100 Meter im Grand Couloir möglichst schnell hinter sich. Eine Passage wie viele andere auch in den Alpen, läge sie nicht auf dem einzigen begehbaren Weg zwischen dem Nid d’Aigle und dem Refuge du Goûter, also auf dem Normalweg zum Mont Blanc, dem Dach von Europa. Die wegen ihres schweren Steinschlags berüchtigte Schlüsselstelle auf der üblichen Aufstiegsroute passieren jeden Sommer etwa 20 000 Personen, die auf den Mont Blanc wollen. Viele lassen hier ihr Leben, getroffen von einem herabfallenden Stein oder als Opfer eines Sturzes. Im «Todescouloir» ereignet sich die Hälfte der gemeldeten Unfälle zwischen den Hütten Tête Rousse und Goûter, wie eine Unfallstudie aussagt, die gemeinsam vom Peloton de Gendarmerie de Haute Montagne (PGHM) der Haute-Savoie und der Fondation Petzl durchgeführt wurde. Die Stiftung führt in Frankreich und auf der ganzen Welt Projekte im Bereich nachhaltige Entwicklung und Gefahrenprävention in den Bergen durch.
Ein Tunnel unter dem Couloir
2010 hat die Fondation Petzl eine Studie über die Absicherung des Couloirs finanziert. Resultat: ein Vorprojekt mit dem Vorschlag, für eine Million Franken einen 180 Meter langen Tunnel zu bohren, der das gefährliche Couloir umgeht. «Null Risiko gibt es nicht, denn das Couloir ist ja nur ein kleiner Teil der gesamten Besteigung! Aber auf einem Weg zwischen zwei Hütten, der in der ganzen Welt bekannt ist und stark begangen wird, dürfen wir uns schon Überlegungen machen, wie die Sicherheit verbessert werden kann», meint Präsident Paul Petzl auf der Website der Stiftung.
Erst recht, weil dieser Abschnitt, der im Sommer ohnehin bereits überlastet ist, einen zusätzlichen Ansturm erleben könnte, wenn die neue Hütte im Jahr 2013 eröffnet wird. Die Einweihung dieses Hightechbijous auf 3835 Metern Höhe an einer alpinen Route erinnert nämlich an die Monte-Rosa-Hütte, die 2010 ihren Betrieb aufnahm. Nach deren Eröffnung schossen die Unfallzahlen auf dem Zustieg über den Gletscher in die Höhe, weil viele unerfahrene Wanderer unterwegs waren. Auch wenn dieses Szenario der Fédération Française des Clubs Alpins et de Montagne (FFCAM), die Eigentümerin des Refuge du Goûter, nicht schreckt, so macht sich deren Präsident, Pierre Curral, dennoch keine Illusionen: «Mit dem Medienrummel rund um die Eröffnung der neuen Hütte werden unerfahrene Leute sie sehen oder ihre Hochzeitsnacht darin verbringen wollen.»
In Flipflops auf der Arête du Goûter
Die Idee eines Tunnels löst bei Jean-Marc Peillex, Gemeindepräsident von Saint-Gervais, keine Begeisterung aus. Für ihn ist eine Grenze erreicht. Er will nichts hören von einer Absicherung am Goûter: «Wenn man einen Tunnel baut, wird man das Problem nur verlagern, und man wird Leute in Flipflops auf der Arête du Goûter sehen.» Ins gleiche Horn stossen die Bergführer von Saint-Gervais. Für Pierre Curral ist nicht das Couloir das Problem. Mit seinen Kollegen hat er die schwierigsten Passagen des Abschnitts abgesichert. Das Grand Couloir mit seinem durchlaufenden Drahtseil gehört dazu. Seiner Meinung nach ist alles da, um die Sicherheit von erfahrenen Bergsteigern mit gesundem Menschenverstand zu gewährleisten. Es ist das Niveau der Möchtegernbergsteiger, das ihn beunruhigt. «Als ich in meinem Beruf anfing, seilte man die Kunden nicht an, um zum Goûter aufzusteigen. Die Leute waren besser vorbereitet. Heute sind solche dabei, die noch nie in den Bergen waren, aber sie wollen auf den Mont Blanc», sagt der Bergführer und fügt bei: «Viele können mit Steigeisen nicht umgehen oder benützen trotz allen Empfehlungen das Drahtseil nicht. Ich habe schon Personen gesehen, die mitten im Couloir anhielten, um ihre Trinkflasche mit Schmelzwasser zu füllen, trotz allen Gefahren.» Zu denen, die schlecht vorbereitet sind, kommen also noch jene, die keine Ahnung von den Risiken haben.
Eine statistische Studie aus dem Sommer 2011, durchgeführt vom Verband geotechnischer Ingenieure, Alpes ingé, ergab, dass bei schönem und trockenem Wetter am frühen Nachmittag der Steinschlag zunimmt. Und genau zu dieser Tageszeit ist der Andrang im Couloir am stärksten, wie die gleiche Studie zeigt! «Wie überall in den Alpen muss man Auskünfte einholen, bevor man losgeht, die Zeiten mit den höchsten Risiken meiden und wissen, wann man verzichtet, wenn die Verhältnisse schlecht sind», erklärt Pierre Curral. Seiner Meinung nach stellt die Querung des Couloirs keine besonderen Probleme, wenn gute Verhältnisse herrschen.
Ein Normalweg auf Bewährung
Und wenn diese guten Verhältnisse mit dem Klimawandel seltener werden? Die Frage scheint die Hauptinteressierten nicht zu beunruhigen. Dennoch, das Problem des Zugangs zum Goûter «dürfte in Zukunft noch drängender werden, umso mehr, als die Instabilität mit der Klimaerwärmung zunehmen wird», prophezeit Ludovic Ravanel. Der Autor einer Dissertation über Felsstürze in den Permafrostwänden des Mont-Blanc-Massivs erachtet die Höhe des Couloirs (3340 m) als besonders ungünstig angesichts des Auftauens des Permafrostes. Mitte August 2012 empfahl die Gemeinde Saint-Gervais den Bergsteigern, den Aufstieg über den Goûter zu verschieben. Wegen der Trockenheit und der Temperaturen über null war das Gelände instabil geworden. Während zweier Wochen gab es keinen Normalweg zum Mont Blanc mehr, und das Refuge du Goûter war nicht mehr erreichbar.
Die FFCAM kann nur hoffen, dass sie ihre Entscheidung, das Refuge du Goûter neu zu bauen, nicht bedauert. In nächster Zukunft «wird der Normalweg Gegenstand einer Gesamtbeurteilung sein, die alle möglichen Lösungen einbezieht, einschliesslich des Bohrens eines Tunnels», meint Niels Martin, Direktor der Coordination Montagne, dem Dachverband der Bergvereinigungen und -verbände in Frankreich. Die Präventions- und Informationskampagne (siehe Kasten), die bis jetzt vor Ort durch die Gemeinde Saint-Gervais und die PGHM de Haute-Savoie durchgeführt worden ist, reicht nicht. Zu attraktiv ist das «Dach Europas», zu omnipräsent ist es in den Medien, zu sehr werden seine Gefahren heruntergespielt. Nicht einmal das Biwakverbot rund um das Refuge du Goûter wird befolgt. Da es illusorisch scheint, in Sachen körperlicher und technischer Vorbereitung an den gesunden Menschenverstand der Bergsteiger am Mont Blanc zu appellieren, denkt Jean-Marc Peillex an ein System, das die Zahl der Alpinisten bereits im Tal unten beschränkt: «Man liesse nur diejenigen Alpinisten aufsteigen, die eine Reservation in einer der Hütten oder für einen zugelassenen Biwakplatz haben.» Rangers wie in den amerikanischen Nationalparks am Mont Blanc? Ein Verstoss gegen das Prinzip des freien Zugangs zu den Bergen könnte nötig sein. Ausser die Klimaerwärmung sorgt von selber dafür, dass sich alle einig werden.