Wenn der Gipfel zur Nebensache wird Skitouren 70+
Der Rücken zwickt, die Wade ist verkrampft: Im Alter sind Skitouren keine Selbstverständlichkeit. Eine Gelenkoperation kann einen aus der Bahn werfen, Bruchharschschnee zur Herausforderung werden. Manch einer lässt es bleiben. Nicht so die Mitglieder einer Seniorengruppe, die seit vielen Jahren auf Fellen gemeinsame Wege gehen.
Das Kaminfeuer knistert, in der gemütlichen Stube des historischen Hotels Post in Bivio trifft man sich zum Apéro. Die fünf Mitglieder einer Skitourengruppe kennen sich seit Jahren und gehen jeden Winter auf eine gemeinsame Tourenwoche. Man ist nicht allein. Im Hotel Post herrscht reger Betrieb. Kein Wunder: Bivio bietet eine Vielfalt an Tourenmöglichkeiten, lange und kurze, in alle Richtungen.
Halbe Wochen, halbe Touren
Über die Jahre hat sich die Gruppe aus dem Wallis verändert: Sie ist älter und kleiner geworden. Einige Mitglieder haben altershalber oder gesundheitsbedingt aufgehört, jüngere sind dazugestossen. Heute sind die Mitglieder zwischen 67 und 80 Jahre alt. Zwar gehören sie alle zu den Senioren, doch zehn Jahre Unterschied machen in diesem Alter viel aus: «Bis 75 war für mich das Atmen durch die Nase Ehrensache», sagt Emilio. «Seit ein paar Jahren erlaube ich mir im Aufstieg aber, auch mal durch den Mund zu atmen, um mit der Gruppe mithalten zu können.» Der langjährige Tourengeher hat eben seinen 80. Geburtstag gefeiert und gehört zum harten Kern der Gruppe. «Heute erbringen wir nur noch etwa die Hälfte der Leistung von früher, es sind nicht mehr ganze Wochen und auch nicht mehr ganze Touren.» Für den ehemaligen Höhenmetersammler, der sich vor ein paar Jahren einer Hüftoperation unterziehen musste, sind Skitouren in diesem Alter keine Selbstverständlichkeit. «Auslöser der Operation war sehr wahrscheinlich eine ruppige Abfahrt auf der Alpstrasse von der Galmihornhütte hinunter nach Münster im Obergoms.»
Die Gruppe diskutiert über den Fortschritt der Ausrüstung und erinnert sich an damals, als die Felle noch mit Riemen angebracht wurden und die langen Attenhofer-Latten über die eigene Körpergrösse hinausragten. Die Zeiten ändern sich. Das kann auch Vreni bestätigen. Die 75-Jährige ist die einzige Frau der Gruppe. Schon als Kind war sie in den 1950er-Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern auf Skitouren beim Oberalppass unterwegs. Als sie 1968 ins Wallis zog, waren Frauen beim SAC noch nicht offiziell zugelassen, die Ortsgruppe Visp war aber offen, die Ehefrauen auf Touren mitzunehmen. An ihre erste Skitourenwoche kann sich Vreni noch gut erinnern: «Meine Kollegin und ich wurden als einzige Frauen im Rifugio Cesare Mores von einer ebenfalls anwesenden Männergruppe ziemlich schräg angeschaut, und wir bekamen dies bei der Zimmervergabe zu spüren. Wir mussten buchstäblich hintanstehen.» Seit zwei Jahrzehnten begleitet die Seniorin die Gruppe auf Skitouren. Selbst im Winter nach ihrer Hüftoperation wagte sie sich auf die Tourenwoche. Im Alltag hält sich Vreni mit Langlauf und Yogastunden fit. Was sind heute ihre grössten Herausforderungen? «Spitzkehren im steilen Gelände wollen nicht mehr immer auf Anhieb gelingen, und bei der Abfahrt auf eisiger Unterlage bin ich etwas vorsichtiger geworden, um keinen Sturz zu riskieren.»
Skitouren im Alter immer beliebter
Laut der neusten umfassenden Studie Sport Schweiz 2020 des Bundesamts für Sport hat sich der kontinuierliche Anstieg der sportlichen Aktivität der Schweizer Bevölkerung in den letzten sechs Jahren nochmals verstärkt. Der Zuwachs lässt sich insbesondere auf die Frauen und die Personen in der zweiten Lebenshälfte zurückführen. Die sportliche Aktivität nach der Pensionierung ist seit 2014 markant gestiegen und ist heute gleich hoch wie bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen. «Ich gehe davon aus, dass diese Entwicklung auch auf Tourenskifahrer zutrifft», sagt Bruno Hasler, Bereichsleiter Ausbildung und Sicherheit beim SAC. «Heute sind 70-Jährige fitter als früher. Die höhere Lebenserwartung und die bessere Ausrüstung sind weitere Faktoren, die den Senioren entgegenkommen.»
Die Einstellung zu Skitouren verändere sich im Alter, sagt Bruno Hasler: «Die über 70-Jährigen sind in der Regel gelassener und müssen sich nichts mehr beweisen, da das Erreichte nicht übertroffen werden kann. Hauptziel ist nicht mehr der Gipfel, sondern die sportliche Aktivität und die Gemeinschaft.» Dazu passt, dass es bei den Senioren auf Skitouren nicht mehr Not- oder Unfälle gibt als bei den Jungen, wie Ueli Mosimann, Bergführer und langjähriger Unfallstatistiker beim SAC, auf Anfrage sagt. Zwischen 2010 und 2019 lag die Zahl der Not- und Unfälle bei den 40- bis 50-Jährigen bei 778, in der Alterskategorie 70+ dagegen bei 74. Da es derzeit keine Studie zur Zahl aktiver Seniorinnen und Senioren gibt, lassen sich diese Zahlen allerdings nicht direkt miteinander vergleichen. Ueli Mosimann hat die Auswertung trotzdem verblüfft, sehe man doch unterwegs auf Skitouren nicht wenige Senioren. «Vielleicht überschätzt man die Zahl der aktiven Senioren, vielleicht ist es aber auch so, dass sich die älteren Tourengeher nur noch im einfacheren Gelände bewegen und meist vorsichtig, versiert und erfahren sind.» Ueli Mosimann ist 70 Jahre alt und kennt es aus eigener Erfahrung: «Mag das Wetter noch so gut sein, bei schlechten Schneeverhältnissen gehe ich nicht auf Skitour, sondern biken.»
Sturzunfälle sind in allen Altersgruppen am häufigsten. Interessanterweise sind aber Notfälle aufgrund von Erschöpfung oder Verirrung bei den bis 40-Jährigen mit 24% häufiger als bei den über 70-Jährigen mit nur 9%. In dieser Alterskategorie nehmen dagegen die Notfälle infolge einer Krankheit wie etwa Herz-Kreislauf-Problemen zu. Daher rät Mosimann Senioren, sich wenn immer möglich einer Gruppe anzuschliessen. «Man sieht viele Senioren, die allein unterwegs sind. Das ist gerade auf Skitouren für alle Altersgruppen nicht ideal, aber besonders bei älteren Tourengehern ist es heikel, weil sie eher in Situationen geraten, bei denen sie keinen Alarm mehr auslösen können.»
Fuorcla statt Gipfel
Beim Frühstück im Hotel Post wird gewitzelt, ob man das Morgenturnen schon hinter sich hat. Die einen setzen auf Gymnastik, die anderen auf Magnesium – jeder hat sein eigenes Rezept, sich für die Tour fit zu halten. Und speziell auf Tourenwochen, wenn der Körper während mehrerer Tage gefordert ist, darf auch mal zum Voltaren gegen die Gelenkarthrose gegriffen werden.
Die Gruppe steigt vom Julierpass Richtung Süden auf. Das Tempo ist gemächlich, aber konstant. Beim Aufstieg wird darauf geachtet, unnötige Spitzkehren, die nicht mehr alle mit Leichtigkeit schaffen, zu umgehen. Wo man früher 400 Höhenmeter pro Stunde zurücklegte, sind es heute noch 250. Der Weg führt durch kupiertes Gelände zum Leg Grevasalvas, der unter einer dicken Schneeschicht liegt. Das Ziel, die Fuorcla Grevasalvas, ist um die Mittagszeit erreicht. Die Gruppe staunt nicht schlecht, als eine vom Wind freigelegte, währschafte Holzbank sie empfängt. Dankbar nehmen die Senioren Platz und geniessen die Aussicht über das Oberengadin bis ins Bergell. Bei einem ausgiebigen Picknick prostet man sich mit einem Glas Walliser Fendant zu. Heute zählt nicht mehr der Gipfel, sondern das Bergerlebnis und die Geselligkeit.
Auf der Abfahrt bestätigt sich die Vermutung, dass sich frühes Aufstehen heute nicht gelohnt hätte. Erst in den Nachmittagsstunden ist der Schnee weich genug, damit Bruchharschverhältnisse vermieden werden können. Bei der wohlverdienten Bündner Nusstorte im Ospizio am Julierpass gratuliert man einander zur gelungenen Tour und ist dankbar, dass alles reibungslos gelaufen ist. Und man ist sich einig: Dranbleiben ist das Gebot der Stunde bis zur nächsten Tourenwoche.