Weit ist der Weg nach Bürstegg
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Weit ist der Weg nach Bürstegg

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Horst H. Ther, Ulm

Wer würde heute noch den Skiweg zum Arlberg per pedes zurücklegen, jenen Weg, den schon in grauer Vorzeit die ersten Siedler des Kleinen Walsertales gingen? Wer würde heute noch jenen Enthusiasmus aufbringen, einen Gepäckmarsch per Ski von immerhin 50 km unter die Füsse zu nehmen, heute, wo man an den fahrbaren Untersatz gefesselt, an geräumte Zufahrtstrassen und an mechanische Aufstiegshilfen gewöhnt ist? Alles ist bestens organisiert, damit möglichst rasch und bequem jeder beliebige Ausgangspunkt erreicht werden kann.

Eigentlich hatten wir nicht die Absicht, zum Arlberg zu marschieren. Uns schwebte kein bestimmtes Ziel vor Augen; wir fuhren einfach ins Allgäu, um dort etwas zu unternehmen, um Skitouren zu machen. Also gingen wir zunächst mal zur Schwarzwasserhütte. In Oberstdorf verliessen wir den Zug, was wohl jeder hier tun muss, denn in einem Sackbahnhof ist bekanntlich jedwede Eisenbahnfahrt beendet, stiegen in den gelben Postbus um und liessen uns nach Riezlern im Kleinen Walsertal hinaufkurven. Bei der Breitachbrücke schwangen wir Ski und Rucksack über die Schultern und stapften los.Den Schlepplift an der « Kleinen Parsenn » ignorierten wir, denn wir waren damals konventionell ausgerichtete Skifahrer, die jede motorische Ziehvorrichtung kategorisch ablehnten, hatten einen grenzenlosen Hass auf diese Provokation an den gesunden Geist des Skibergsteigers, der doch durchtrainiert genug sein sollte, auf derartig hässliche Begleiterscheinungen des alpinen Skilaufs grosszügig verzichten zu können. An manchen Abenden heckten wir utopische Pläne aus, wie wir vorgehen würden, um den Alpenraum systematisch zu durchkämmen und mit geballten atomaren Sprengladungen diesen Alptraum, diese Verunstaltung unserer hehren Bergwelt, definitiv auszumerzen.

Obwohl es schon ziemlich lange her ist, entsinne ich mich noch gut jeder Einzelheit. Wir hatten einen ungeheuren Auftrieb. Mit unseren Schnallfellen und Holzlatten, deren ausgeleierte Kabelzugbindung wenig Sicherheit bot, wollten wir die steilsten Hänge bezwingen. Im Geiste standen wir schon im heulenden Schneesturm oder im prallen Sonnenlicht auf den Gipfeln.

Ein blauer, wolkenloser Himmel wölbte sich über dem Schwarzwassertal. Der Schnee war pulvrig und gab unter unseren Tritten nach. Die Sonne warf dunkle Schatten in den tiefverschneiten Hochwald. Manchmal grüsste das Steinmandl hinter den Stämmen hervor, und hoch über uns stand die Ifenmauer. Bei der Melköde äugten wir misstrauisch nach oben, denn ein paar Jahre zuvor hatte eine gewaltige Lawine, die vom Ifen herabgekommen war, eine riesige Bresche in den Bergwald geschlagen und eine Skiläufergruppe verschüttet. Eine Gedenktafel erinnert daran. Wir waren glücklich, unsere Steigfelle aufschnallen zu können, um durch flaumigen Pulver der Schwarzwasserhütte entgegenzuspuren, denn Pistenfahrer waren für uns blöde Heinis, die wir nicht leiden könnten und verachteten oder bemitleideten.

Auf der Schwarzwasserhütte ist der Olando zu Hause, ein schwarzhaariger Bursche von undefinierbarer Herkunft. Man sagt, er könne das Schmuggeln nicht lassen; aber er ist ein lustiger Kerl, der abends den Laden schmeisst, dass sich niemand langweilt. Schade, dass die Hütte ge-rammelt voll war. Nun ja, an einem Samstagabend! Aber in einer hinteren Ecke rückte man zusammen, worauf wir unseren schmackhaften Romadur auspackten, dessen Düfte sich alsbald ausbreiteten, so dass manche Nase sich zu rümpfen begann oder stillschweigend ausser Riechweite zu gelangen suchte.

Am nächsten Morgen machten wir eine Eingehtour aufs Steinmandl in herrlichstem Kristallschnee. Klar und kalt stand der Hochifen im Norden. Das geneigte Plateau hatte eine dicke Schneeauflage, die an manchen Stellen grünlich schimmerte. Abends sassen wir wieder gemütlich beisammen, und einer fragte uns, ob wir schon mal in Bürstegg gewesen seien. Bürstegg? Wo ist das? Nie gehört! Einsam sei es dort, und kaum ein Mensch kenne diesen winzigen, nur im Sommer bewohnten Weiler, der sich hoch über den schäumenden Wassern des blutjungen Lechs befände, inmitten der Grossartigkeit des Arlbergs. Ein gewisser Günter Hauser habe sich dort oben eine Skihütte gepachtet, und der Schlüssel sei im Café Filomena in Lech deponiert, wo man ihn ohne weiteres holen könne. Gab es für uns etwas anderes, als uns schleunigst auf den Weg dorthin zu machen? Anhand der Karte fixierten wir unsere Marschrichtung. Das Ziel befand sich allerdings in enormer Entfernung, aber wir waren hellauf begeistert. Warum sollten wir nicht einmal zu Fuss zum Arlberg marschieren, noch dazu zu solch einem Idyll, das selbst damals schon für den Arlberg eine Rarität war! Nichts hätte uns davon abhalten können, weder der lange Fussmarsch noch sonstige Entbehrungen und Strapazen. Am nächsten Morgen waren wir schon zeitig unterwegs zur Ochsenhofer Scharte. Das Wetter zeigte seine beste Laune, und keine Wolke verunzierte das makellose Himmelsblau. Kein Mensch war unterwegs an diesem stillen, klirrendkalten Februartag, den ich nie mehr vergessen werde. Wehmütig denke ich manchmal daran zurück, wie ich mit Freund Otto den weiten Weg zum Arlberg ging. Auf der anderen Seite der Ochsenhofer Scharte war der Schnee steinhart gefroren. Unsere Ski scharrten und flatterten hangabwärts. Welch eine Tortur für die Kniegelenke! Wir tauchten hinein in die Tiefe des Starzeltobels, erreichten den Talgrund und stäubten durch lockeren Pulver hinunter nach Baad. Weiter ging der Weg in bequemer Steigung unter den Westabstürzen des Widdersteins entlang zur Unteren Bärguntalpe, wo sich das Tal gabelt und in Richtung Üntschenjoch bzw. Hochalppass abzweigt. Wir folgten einer verwehten Skispur, die durch den Hochwald in Richtung Hochalppass emporführte. Eine Wolkenschicht stand über dem Bergkamm im Süden und verdeckte die Sonne. Das Tageslicht war etwas diesig geworden, die blauen Schatten waren verschwunden, und oberhalb der Baumgrenze dehnten sich konturlose Schneeflächen aus. Wir waren nun schon gut vier Stunden unterwegs. Es muss um die Mittagszeit gewesen sein, und ich war etwas skeptisch, ob wir Bürstegg noch an diesem Tag erreichen würden. Fast endlos zog sich der Weg hinauf zum Hochalppass. Über uns ragte der Widderstein, einsam und unnahbar. Kein Mensch weit und breit. Man hörte höchstens das Schleifen unserer Felle in der Skispur. Am Hochalppass attackierte uns eisiger Südwest. Tief unten lag die verschneite Hochtannbergstrasse. Damals war in Schröcken bzw. Warth jeglicher Autoverkehr zu Ende.Verlassen und unangetastet lag die Passstrasse den ganzen Winter über unter meterhohem Schnee begraben. Hochkrumbach war völlig von der Aussenwelt abgeschnitten, und der Gasthof Adler, das einzige Gebäude der « Ortschaft », hatte um diese Zeit nur sehr wenig oder gar keine Gäste. Heute herrscht hier lebhafter Pistenbetrieb, am Saloberkopf surrt der Skilift und werden die Hänge glattgeschliffen. Mit der Einsamkeit des Hochtannbergs ist es jetzt vorbei. Deshalb bin ich froh, dass ich dieses Gebiet noch in seiner Ursprünglichkeit erleben durfte. In nicht allzu ferner Zukunft werden wohl hier unfreundliche Hotelkästen stehen, neue Skiliftanlagen werden wie Pilze aus dem Boden schiessen. Dann promenieren weisse Gipsbeine humpelnd auf Strassen und Spazierwegen. Die Pläne für das zukünftige Wintersportzentrum sollen ja bereits in den Architekten-Schubladen ihrer Realisierung entgegenschlummern: « Superski-karussell Hochtannberg - es verbindet den Arlberg mit dem Kleinen Walsertal. » Phantasie oder WirklichkeitDie Wolkenschicht hatte sich kaum verändert und verharrte unbeweglich über dem Horizont im Südwesten. Wie ein unüberwindliches Bollwerk stand die Braunarlspitze über dem Hinter-wald. Der Schnee hatte weder Licht noch Schatten. Nur nach Osten zu wurde es heller. Dort blitzte und funkelte es, dort stachen gezackte Gipfel ins Himmelsgewölbe. An der Südseite des Sattels war der Schnee windverblasen. Grosse Schollen brachen aus der Spur. Man konnte nicht schwingen, man fuhr Spitzkehren oder stürzte.

Im « Adler » kehrten wir ein. Die Gaststube war wie leergefegt. Weder Gast noch Bedienung war anwesend. Ich musste diese erst aus der Küche holen, wo die Frau des Hauses ein kleines Nickerchen machte. Mit schreckgeweiteten Augen fuhr sie hoch, als wir sie aus ihrem beschaulichen Schlummer rissen. Wir beruhigten sie aber und sagten, dass wir von der Schwarzwasserhütte kämen und nach Bürstegg wollten. Unfassbar für eine biedere Wirtin! Wie man so verrückt sein konnte, mitten im tiefsten Winter zum Arlberg zu gehen. Wir verspeisten unsere « Wie- nerli mit Senf » und machten uns wieder auf den Weg. Irgendwo zwischen den Markierungsstangen befand sich die Hochtannbergstrasse; unsichtbar vergraben unter meterhohem Schnee, schlängelte sie sich hinaus nach Warth im Lechtal. Trotz der langen Schönwetterperiode lagen vor uns vollkommen unberührte Schneeflächen. Keine Skispur unterbrach das makellose Weiss. Wir waren anscheinend die ersten oder auch die letzten Skifahrer, die auf dieser Route mit einer etwas antiquierten Methode dem Arlberg einen Besuch abzustatten gedachten. Normalerweise hockt man am Lenkrad und steuert auf der « Be-eins » dem Arlberger Zielgebiet entgegen. Wäre unser Vorhaben publik gewesen, sicher hätte man uns behohnlächelt und mit dem Zeigefinger an eine bestimmte Stelle des Kopfes getippt. Aber wie herrlich waren doch diese Stille und Einsamkeit! Wenn der Wind über den Schnee strich, konnte man seinen leisen vertrauten Ton hören und feine Eiskristalle über unsere Spur rieseln sehen. Wie endlos weit lag der Alltag zurück! Alles, was mir Sorgen und Kummer bereitete, schien in weite Ferne gerückt, völlig belanglos, ja fast nicht mehr existent. Ich sah nur mehr die Gegenwart, die hohen Berge, das Blau des Himmels, den weissen Horizont und den Freund, mit dem ich mein Erlebnis teilen wollte. Unsere Schritte verhallten hohl im verlassenen Strassentunnel. Die Zeit verrann wie im Flug. Ich war einerseits glücklich, andererseits etwas gespannt, ob wir unser Ziel heute noch erreichen würden. Das einsame Skidörflein Warth schlummerte friedlich unter dem Warther Horn. Der Dorfplatz war geräumt, und die Strasse, die aus Richtung Holzgau hierherführt, war freigepflügt, aber nirgends parkte ein Kraftfahrzeug. Alles war wie ausgestorben. Stumm und reglos stand der verschneite Wald an den Bergflanken über dem Lechtal, und hoch oben ragte die markante Pyramide des Biberkopfs. Eine frische Skispur zeigte uns den Weg nach Lech.

Nein, es war keine « extreme » Bergfahrt im heutigen Sinn, die wir damals erlebten, eher eine extrem lange, anstrengende Tour - und grossartig! Sie war bergsteigerisch leicht, aber ebenso schön wie aussergewöhnlich. Irgendwo in der Tiefe lichtloser Schluchten schäumte, brodelte zwischen oder unter meterdicken Schneepolstern der junge Lech. Kalt und unberührbar ragte die plattige Südwand des Biberkopfs empor. In Lech betraten wir wieder zivilisierten Boden. Die Bergeinsamkeit wurde durch lärmenden Fremdenverkehrsrummel abgelöst. Rücksichtslos riss uns die Masse aus unserem besinnlichen Dahinwandern. Im Café Filomena genehmigten wir uns erst einmal einige Biere, was uns wohl niemand verdenken konnte, und machten uns dann mit dem Schlüssel in der Tasche wieder auf den Weg. Längst war die Sonne versunken, und die müden Beine versagten fast ihren Dienst. Wir gingen wieder die Strasse lechabwärts, zurück durch den tiefverschneiten Hochwald bis zur Abzweigung nach Bürstegg. Irgendwo war der Mond aufgegangen und beleuchtete die dunkeln Gipfel am schwarzen Nachthimmel. In unbekanntem Gelände spurten wir aufwärts; nur auf unseren Orientierungssinn vertrauend, gingen wir in jene Richtung, wo Bürstegg liegen musste. Der Mond war jetzt über die Grate emporgestiegen und wies uns den Weg. Leise knirschte der Schnee unter unseren Brettern. Dieser Gang nach Bürstegg war wie ein Gang in die Unendlichkeit. Über uns funkelte ein grenzenloses Sternenmeer, durch das der Mond seine ewige Bahn zog. Wir waren nur zwei winzige Menschlein, aber hier in dieser stillen, reinen Höhenluft ahnten wir etwas von der Grosse des Alls. Hier wurde mir bewusst, wie klein und nichtig wir doch eigentlich sind, dass wir trotz hochentwickelter Technik das Universum weder begreifen noch beherrschen können.

Irgendwann tauchten vor uns die Umrisse verlassener Alphütten auf. Etwas unbeholfen tappten wir durch den Schnee und suchten unsere Skihütte. Das war in dieser unbekannten, nachtdunklen Gegend ein schwieriges Unterfangen. Aber dann fanden wir sie doch, nachdem wir die zugewehte Haustüre freigemacht hatten und feststellten, dass der Schlüssel passte. Wir waren glücklich, als die betagte Petroleumlampe ihr bescheidenes Licht verbreitete, das Feuer im rostigen Ofen knisterte, wir am ungehobelten Tisch sassen und unsere strapazierten Gehwerkzeuge endlich ausstrecken konnten.

Von altem Schrot und Korn war Hausers Selbstversorgerhütte droben im einsamen Bürstegg, umwoben von einem Hauch Pionierromantik. Im Gebälk ächzte leise der Wind, der Fussboden knarrte gespenstisch, und als wir uns todmüde auf die Pritschen warfen, da stöhnte der Holzwurm. Es war wie in Fridtjof Nansens glorreichen Tagen...

Berge von Schecks hatte ich zu sortieren, und hinter mir stand der gestrenge Chef, meinen all-tagsgeplagten Körper mit stechendem Blick durchbohrend. Und ich sortierte und sortierte immer schneller und hektischer; die Finger vibrierten wie Espenlaub im Frühlingswind, während der Chef seine Armbanduhr fixierte, seine Brillengläser putzte, zu brüllen und zu toben begann und meine mühsam sortierten Schecks wild durcheinanderwarf. Ich aber sprang auf, nahm den Berg Schecks und schleuderte ihn in das feiste Gesicht des Chefs. Und ich hörte ihn ächzen und knarren und krachen, und weisse Kringel tanzten vor meinen Augen...

Aber die weissen Kringel waren die grellen Strahlen der Morgensonne, die zum halbgeöffne-ten Fenster hereindrangen. Und droben im Gebälk ächzte leise der Schneewind vom Karhorn. Und der Fussboden knarrte, weil Freund Otto darüberschritt, und im rostigen Ofen krachten die Scheite. Es war ja nur ein Traum gewesen, ein ausgeträumter Alptraum des Alltags. Ich befand mich ja hoch droben im herrlich einsamen Bürstegg, weit weg von Büro und Zwang, und niemand von dieser unliebsamen Sorte Mensch konnte mich bis hierher verfolgen.

Draussen plätscherte monoton der Brunnen von Bürstegg. Schweigsam standen Otto und ich vor der Hütte und blickten hinaus in des Arlbergs schneeige Weite. Drüben stand das kleine, schneeverbrämte Kirchlein mit seinem schindel-gedeckten Türmchen vor der schattendunklen Kulisse des Omeshorns. Eine einsame Skispur unterbrach die weisse Unberührtheit und mündete unter dem weit vorspringenden Hüttendach. Es war unsere eigene Skispur. Braungegerbt und tra-ditionsbeladen verharrte Hausers Hütte im Schnee. Geborgenheit atmete das betagte rissige Holz, und in den Strahlen der höhersteigenden Sonne roch es würzig und warm und sympathisch, persönlich und romantisch.

Wir fuhren Ski am Hexenboden, am Weissen Ring, am Kriegerhorn, auf den steilen Buckelpisten der Mahdlochabfahrt, mischten uns unter enthusiastische Pistenschaber, rasten und preschten hangabwärts, was Lunge und Beinmuskulatur herzugeben imstande waren. Und der Pulver sträubte und funkelte in wilden Fontänen. Wo war der tödliche Hass geblieben auf diese Provokation an den gesunden Geist des Skibergsteigers? Wir fuhren Lift und Piste auf Arlbergs Skigefilden!

Und als die zähen Bergschatten das Sonnenlicht verschluckten, da verödeten die steilen aus-gefrästen Hänge am Arlberg. Der Schnee knirschte bald unter unseren Tritten auf der Strasse in Richtung Warth, hoch über uns funkelte ein unendliches Sternenmeer, und unter uns versank das nächtliche Lech, als wir uns in steilen Kehren gen Bürstegg schraubten. Stumm und schemenhaft tauchten Gebäudekonturen aus der mondlosen Finsternis. Haus- und Stubentüre fielen knackend ins rostige Schloss -und zwei ausgebrannte Skienthusiasten aufs Lager. Es folgten Tage voll Ski und Schnee bei wolkenlosem Himmel. Einsame Spuren zogen wir durch Windharsch über die Auenfelder, zu den Gipslöchern der Mohnenfluh.

Und eines strahlenden Morgens verliessen wir unser weltabgeschiedenes Skidomizil am Arlberg, denn eine Herde lärmender Skiläufer vertrieb uns aus unserer Beschaulichkeit. Es war auch wie ein Wunder aus ioo I Nacht, dass wir zwei nahezu 14 Tage lang diese faszinierende Skihütte für uns allein gehabt hatten. Wehmütig sagten wir dem betagten, braungegerbten Holz Lebewohl, jenem uralten Werkstoff, der stets Wärme und Behaglichkeit ausstrahlt, der einen würzigen sympathtischen Geruch in sich trägt. Ade, du stiller Hort in der Schnee-Einsamkeit am Arienberge! Ich weiss nicht, ob wir jemals wiederkehren. Hohl wie in einer Familiengruft klangen unsere Schritte zwischen den Lawinenschutz-galerien der Flexenpass-Strasse, während über der Albona eine schwarze Wolkenwand Sturm ankündigte. Im peitschenden Schneetreiben kämpften wir uns durchs Valfagehr, streckten auf halbem Wege die Waffen, logierten in der hässlichen Alpe Rauz.

Wie mitternächtlicher Spuk waren am andern Tag Sturm und Schnee verflogen. Wolkenlos, windstill spannte sich der tiefblaue Äther wieder über dem Arlberg. Wir trampten durch die Kandahar, durchs Schindlerkar, vom Vallugagrat, sassen in den peinlich gepflegten Räumen der nicht allzu persönlichen Ulmer Hütte, die uns gar nicht gefiel, die so gar nichts gemeinsam hat mit Bürstegg; schliefen den Schlaf der Gerechten im streng getrennten Matratzenlager, weil so manche Hüttenpächter in ihrer Christlichkeit es nicht leiden können, wenn Männlein und Weiblein bunt durcheinander schlafen.

Wie wildgewordene Hengste jagten wir hinab durch die harten Windharschfelder des Valfagehr, hinab zur unfreundlichen Alpe Rauz, wandelten auf den Spuren der längst verblichenen Skipioniere, als deren Nachfahren wir uns fühlten, trampten 60 Kilometerweit zurück zu unserem Ausgangspunkt Schwarzwasserhütte. Hinter uns versank das Mahdlochjoch; hoch oben sahen wir zum letztenmal das Kirchlein von Bürstegg grüssen. Der Schnee knirschte leise unter unseren Tritten auf der verlassenen Fahrstrasse nach Warth. Tief unten rauschte gedämpft der blutjunge Lech, und hoch oben wölbte sich ein makelloses Himmelszelt.

Es war im frühen März des Jahres 1957. Auf der Strasse nach Hochkrumbach kämpfte sich eine Schneefräse voran, sich im Tempo einer Wein-bergschnecke in die Schneemassen hineinfressend und mächtige Fontänen emporschleudernd. Insgeheim verwünschte ich diesen Fremdkörper, der wie ein giftiges Insekt die herrliche Landschaft belästigte, samt ihrem Chauffeur in die Schlucht zu unseren Füssen. Vielleicht würde eine gewaltige Lawine kommen und diese aufdringliche Mücke zermalmen, damit sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. Freund Otto, technischen Dingen gegenüber nicht gerade abhold, stand interessiert auf der Schneerampe drei Meter über der Fahrbahn und sah der Schneefon-täne zu, die sich aus dem speienden Ungetüm ergoss. Auf einmal gab es einen dumpfen Plumps -und Otto wälzte sich samt Rucksack auf der Strasse drei Meter unterhalb seines ursprünglichen Standortes. War das ein verwegener Skisprung, oder hatte er etwa sein kerngesundes Gleichgewicht verloren? Und o weh! Sein linker Ski hatte sich unfreiwillig um 50 Zentimeter verkürzt. Anstelle der elegant gebogenen Schaufel ragte nunmehr ein zackiger Stumpen aus nacktem Holz. Was tun? Reservespitze hervorgekramt und auf den Skistumpen geschraubt! Mit süss-saurer Miene schritt Freund Otto von dannen, seinem Canossagang entgegen. Versuche mal einer, mit zwei ungleichen Latten in einer nicht gerade erfreulichen Schneesorte Schwung an Schwung zu reihen! Nein, das war kein Gang nach Canossa. Der muss angenehmer gewesen sein. Das war wahrhaftig skifahrerische Erniedrigung. Eine Skiabfahrt zur Hei durch gelenk-strapazierenden Bruchharsch vom Hochalppass nach Baad, und das nach einem Marsch von vielen Stunden. Mit letzter Willensanstrengung erreichten wir unseren Ausgangspunkt Schwarzwasserhütte zu fortgeschrittener Stunde. Kaum war jedoch der nächste Morgen angebrochen, da fühlten wir uns auch schon wieder frisch wie der Hecht im Karpfenteich, um zu neuen Taten zu schreiten. Wir jagten hinab zur Melköde, mit weitausgreifenden Schritten hinaus zur Auen- t Der Rüfikopf ( 2363 m ), von Bürstegg aus gesehen 2Auf der Mahdlochabfahrt Photos Horst H. Ther, Ulm hütte, gipfelstürmerisch hinauf zum Hahnen-köpfle, nahmen noch rasch den Ifen mit, überquerten konditionsstark den Gottesacker, schössen, wildgeworden, das Mahdtal hinab, um in Riezlern heisshungrig der Dinge zu harren, die da leider nicht mehr kamen. Denn mit gemeinsamen « Einsfünfzig » in den Taschen kann man erfahrungsgemäss keine enormen Sprünge mehr

Bergesstille

F. Vilgertshofer, Chur Die Stille des Berges umfängt uns; tief unter uns liegt das Tal.

War es nicht vor einer Stunde noch die Hast, die uns bedrängte, uns fortriss, dahin - dorthin, in den Wirbel der Arbeit, der Sorgen, der Pflichten, dorthin, wo Beruf und Schicksal uns hingestellt!

Die letzten Geräusche sind verstummt; eine unendliche Fläche dehnt sich im Umkreis, Täler, durchfurcht von Schluchten, Berghänge, bedeckt mit Teppichen dunkler Wälder, unzählige Gipfel am Horizont — Bilder der Ferne!

Noch bedrückt die gewaltige Schau das lärmgewohnte Gemüt; bange Stille greift zum Herzen, ungewohnte Gedanken drängen sich auf; die Lautlosigkeit wird zum Alpdruck!

Dann aber, wenn das Hinüberwechseln vollzogen ist, das Ungewohnte Eingang findet in unser Inneres, naht das Erlebnis der grossen Stille

Sie ladet uns ein, arglos heiter einzutreten; sie öffnet das Tor zur unbekannten Welt und lehrt uns den Massstab anlegen, welcher der Nichtigkeit der Dinge angemessen ist; sie zeigt uns den Weg zum Besonderen!

machen. Zwei schäumende Biere, das war alles, was übrigblieb von unserem wilden Skienthusias-mus...

Bürstegg war Wirklichkeit. Sicher. Oder war es nur ein schöner Traum, der gar nicht wahr sein kann? Ein Jahr später zog es mich wieder hinauf - aber den Traum von der unberührten, verschneiten Berglandschaft träume ich noch heute.

Fern jeder Störung erfreut sich der suchende Geist jener Muse, die zum Gebot für eine fruchtbare Einsicht wird - Ruhe bringt Reife!

Gestärkt vom ungewöhnlichen Erlebnis, treten wir den Weg zur Tiefe an — und wieder kehren wir zum Berg zurück, zu unserem höchsten Ziel.

Wir finden dort die Ewigkeit im kurzen Augenblick - ein göttlich Spiel!

Prolog zur Hundertjahrfeier der Sektion Rätia vom 16. November 1963.1

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