Wann wird ein Hochwasser zum Hochwasser? Referat anlässlich der Etzelzusammenkunft vom 5. Dezember 1999
Hochwasser ist das Ergebnis verschiedener Faktoren aus dem Gesamtvorgang «Niederschlag-Abf luss». Je nach Kombination der Teileinflüsse entstehen erhebliche Unterschiede im Hochwasserablauf, ohne oder mit Überflutung der Landschaft.
In unserer Region ist Wasser (noch) keine oder nur in seltenen Sommern Mangelware. Vielmehr stellt es als Hochwasser eine Gefährdung dar. Mit den daraus resultierenden Schäden sowie der Frage der künftigen Wasserversorgung beschäftigen sich die Forschungen im Bereich Hydrologie und nehmen inzwischen auch bei der Diskussion der Klimaveränderung und ihrer Folgen eine zentrale Stellung ein.
Heute tauchen in den Medien vermehrt Meldungen von Hochwasserschäden auf. Für den Laien ist es schwer verständlich, dass dies von der Wissenschaft nicht als gesichertes Signal einer Änderung des Klima-zustandes über die üblichen Schwankungen hinaus verwendet werden kann. Dabei ist festzuhalten, dass der Umfang von Schäden kein geeigneter Massstab für die Stärke von Hochwasser ist. Sachschäden werden vor allem durch die steigende Anzahl und den wachsenden Preis technischer Güter beeinflusst, bei hohem Verlust an Menschenleben ist es der Besiedlungsdruck in Risikozonen (z.B. im Ganges-Delta). Zudem werden heute Hochwassermeldungen von den Medien global gesammelt und je nach momentanem Sensations-angebot mehr oder weniger publiziert. Weiter kommt dazu, dass der Eingriff des Menschen in die Landschaft und die Bodeneigenschaften den Abflussprozess - und zwar von Region zu Region unterschiedlich -verändert.
In der Summe ergibt sich dadurch bis jetzt noch ein unklares Bild von der Hochwasserentwicklung. Aber selbst wenn man die Hochwasserakti-vitäten konsequent verfolgt, ist zu beachten, dass der Begriff « Hochwasser » auf Grund verschiedener Prozess-möglichkeiten1 eine mehrschichtige Bedeutung besitzt.
Die Beurteilung von Hochwasser-zuständen setzt im Übrigen eine permanente Abf luss- oder Wasserstandsmessung voraus. In der Schweiz obliegt diese Aufgabe der Landeshydrologie und -geologie in Bern und entsprechenden kantonalen Ämtern. Die Messreihen erlauben den direkten Vergleich von Hochwasserereignissen.
Saisonales Hochwasser entsteht in jenen Regionen, wo klimatische Voraussetzungen im mittleren jährlichen Verlauf des Abflusses eine Jahreszeit mit ausgeprägtem Niedrigwasser und eine mit ausgeprägt hoher Wasserführung bewirken. Solche saisonale Hochwasser finden sich in Gebieten mit Monsunregen (z.B. Ganges, Nil), in sehr flachen Gebieten mit ausgedehnter Schneedecke und nur wenig Regen im Sommer (z.B. Wolga) sowie in Gebieten mit hoher Gletscherbedeckung (z.B. Massa mit Vergletscherung von 69% bis Blatten).
Eigentliche Hochwassersituationen entstehen bei Abweichungen von diesem mittleren saisonalen Hochwasser in Einzeljahren nach oben. Ebenfalls können auch auf Grund einzelner Regenereignisse kurzfristige Abflussspitzen auftreten.
Ursachen für diese wohl häufigste Erscheinungsform von Hochwasser bilden die eingangs schon erwähnten saisonalen Regenfälle, Schnee- und Gletscherschmelze sowie einzelne starke bis extreme Regenfälle. Ihr Abfluss kann insbesondere im voralpinen Gebiet Schutzdämme überspülen oder durchbrechen. Bei Stauseen im Gebirge reichen Hochwassererscheinungen vom Auslösen des Notüber-laufs über Mauerüberspülungen bis zum Mauerbruch als Extremfall mit entsprechenden Folgen talabwärts. Als spezifische Ursache in diesem Zusammenhang sind Lawinen, Fels- und Eisstürze in einen Stausee zu nennen.
Hochwasser oder Verschärfungen von Hochwasser können auch durch Rückstau in einem Bach oder Fluss entstehen. Eine klassische Form bildet das Verstopfen von Brückendurchläs-sen (Verklausungen) durch mitge-schwemmtes Holz oder Geröll (z.B. Brig 1993) oder Eisschollen (z.B. Wolga). Eine andere Form des Rückstaus entsteht durch Hangrutschungen in ein Bach- oder Flussbett (z.B. im Val Poschiavo 1987). Der Bruch eines für den Rückstau verantwortlichen «Pfropfens» führt gerinneabwärts zu einer Hochwasserwelle. Hochwasser-wellen können auch durch angesam-meltes Schmelzwasser an oder in Gletschern (Wassertaschen) zustande kommen. Eine extreme Form dieser Art tritt an Gletschern auf, die über vulkanisch aktivem Untergrund liegen (z.B. Sanderwellen am Vatnajökull auf Island). Die Abflussmengen können gewaltig sein wie beispielsweise 1996 annähernd 50 000 mVs (zum Vergleich: Rhein bei Rheinfelden im Jahresmittel 1033 m3/s oder im Maximum knapp 5000 m3/s).2
Durch Regen verursachte Hochwasser hängen in ihrer räumlichen Ausdehnung eng mit dem Niederschlagstyp - Schauer (Gewitter) oder frontaler Regen (Landregen), zu dem auch der Stauregen an Gebirgshängen gezählt wird - zusammen.
Schauer sind kleinräumig und kurz, meist kürzer als eine Stunde, aber intensiv. Ihre Hochwasserwirkung beschränkt sich auf Bäche (z.B. Sachsein, 1997), kleine Flüsse oder einzelne Hänge (Auslösung von Murgängen). Frontale Regen können Hochwasser in mittleren Flüssen erzeugen (z.B. Reuss, 1987). Hochwasser in grossen Flussgebieten wie Mississippi (1993) oder Rhein (1993, 1995) sind die Folge einer Serie von aufeinander folgenden frontalen Regen über diesem Gebiet. Ein solcher Zustand ist durch besondere Strö-mungseigenschaften in der Atmosphäre möglich. Er kann mehrere Wochen über einem Gebiet andauern. Die Hochwasserwirkung besteht darin, dass durch die lange Dauer die Böden gesättigt werden und dass sich das Wasser aus dem gesamten Gebiet mit zunehmender Gerinnegrösse immer mehr kumuliert.
Der Einfluss von Jahreszeit, Vorperiode (Regen, Schneeschmelze, Trockenheit) und Regenverlauf deutet auf die Schlüsselrolle der Pufferwirkung des Bodens (Speicher) bei der Hochwasserentstehung hin. Seine Aufnahmefähigkeit hängt davon ab, wie rasch Regen und gegebenenfalls auch Schmelzwasser eindringen und zum Grundwasser durchsickern kann (Infiltration) und wie viel Porenvolumen noch zur Verfügung steht. Fällt Regen in grösserer Menge, dann fliesst der Überschuss an der Bodenoberfläche ins Bach- oder Flussgerinne. Der «horizontale» Durchfluss im Boden zum Gerinne hängt ebenfalls von der Bodenbeschaffenheit ab. Untersuchungen zeigen, dass je nach Bodenstruktur enorme Unterschiede in der Abflussreaktion eines Einzugsgebiets bestehen.
Der zweite wichtige Puffer und Speicher ist das Grundwasser. Seine Reaktion auf den Regen für den Abf luss im Gerinne wird ebenfalls von den erwähnten Eigenschaften des darüber liegenden Bodens gesteuert.
Im Gebirge schliesslich kann sich die Lage der Schneefallgrenze min-dernd auf die Stärke eines Hochwassers auswirken.
Diese Zusammenstellung zeigt, dass die Diskussion über Hochwasser sehr komplex ist und nicht pauschal geführt werden kann, besonders nicht im Zusammenhang mit der Klimaveränderung. Der Begriff Hochwasser hat der Ursache nach verschiedene Bedeutungen. Im engeren Sinn drückt er die Abflussreaktion auf einen starken bis extremen Regen aus. Diese Reaktion kann durch Schneeschmelze noch wesentlich verschärft werden wie z.B. im Mai 1999.
Hochwasser weisen in ihrer Dauer, in ihrer räumlichen Ausdehnung und Stärke ein breites Spektrum auf. Der gesamte Vorgang «Niederschlag-Abfluss» setzt sich aus zahlreichen Teil-einflüssen zusammen (Typ, Verlauf und Menge des Niederschlags, Null-grad-Grenze, Geländebeschaffenheit, Eigenschaften und Zustand im Boden und Grundwasser sowie im Bach- oder Flussgerinne oder im See). Sind zum Beispiel in verschiedenen Ereignissen der Typ und die Menge des Niederschlags identisch, dann können je nach Kombination der übrigen Einflüsse dennoch erhebliche Unterschiede im Hochwasserablauf, mit oder ohne Überflutung der Landschaft, entstehen. So zeigen zum Beispiel Simulationsrechnungen, dass für die hohe Schadenwirkung des Hochwassers im Reusstal (August 1987) abnormal hohe Intensitäten am Ende eines starken, 36-stündigen Niederschlags verantwortlich waren. Die Pufferwirkung der Böden war zu diesem Zeitpunkt erschöpft.