Wandern nach dem Infarkt
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Wandern nach dem Infarkt Belastungstest im Waadtländer Jura

Noch vor ein paar Monaten lagen sie mit einem Herzinfarkt im Krankenbett, jetzt stellen sie sich der Herausforderung: 40 Westschweizerinnen und Westschweizer wandern in drei Tagen von Ste-Croix nach St-Cergue. Mit dem Ziel, sich selbst und anderen zu beweisen, wozu sie wieder fähig sind.

Wie dicke Watte umhüllt der Nebel das waadtländische Dorf Ste-Croix. Aber es braucht schon ein bisschen mehr, um die gute Laune der rund 50 Wanderer des Projekts Par Monts et par Vaud zu verderben. Rasch formt sich die Gruppe zu einer Einerkolonne, als sie in Richtung der schwindelerregenden Aiguilles de Baulmes aufbricht. Von Anfang an ist das Tempo stetig. Von aussen gesehen ist kaum zu erkennen, dass die überwiegende Mehrheit dieser Frauen und Männer im Alter von 34 bis 78 Jahren kürzlich einen Herzinfarkt erlitten hat. Ausser vielleicht daran, dass sie von einem Team von Kardiologen, Krankenschwestern und Physiotherapeuten begleitet werden. Aber auch hier ist es schwierig, zu erraten, wer zu den 40 Patienten und wer zum zehnköpfigen medizinischen Team gehört. In dieser puren Naturlandschaft sind einfach alle nur Wanderer, die gemeinsam dieses Abenteuer antreten.

Die Lust auf Bewegung fördern

«Ziel dieser sportlichen Herausforderung ist es, in drei Tagen 100 Leistungskilometer auf den Jurakämmen zurückzulegen», sagt Philippe Sigaud, Projektleiter und Pflegefachkraft in der kardiologischen Abteilung des Universitätsspitals Genf (HUG). «Wir wollen unsere Patienten damit auf den Geschmack körperlicher Aktivitäten bringen und sehen darin eine Form der langfristigen Nachbehandlung.» Der Spezialist führt seine Erklärungen fort, als wir die mit waagrechten Kuhwegen durchzogenen Weiden verlassen, um zum Gipfel Le Suchet aufzusteigen: «In der Schweiz sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache.» Die technologische Entwicklung habe mittlerweile spektakuläre Fortschritte gemacht, insbesondere beim Einsetzen von Implantaten wie Stents. Die Metallröhrchen würden unter Lokalanästhesie in die Herzkranzgefässe eingesetzt. «Diese Art des Eingriffs ist sicherlich weniger schwerwiegend als frühere Methoden. Aber wenn der Patient langfristig keinen gesunden Lebensstil annimmt, können erneut Probleme auftreten», sagt Philippe Sigaud. Die Patienten würden deshalb in ein mehrwöchiges kardiales Rehabilitationsprogramm überwiesen, das neben körperlicher Betätigung auch Aspekte wie Ernährung, Raucherentwöhnung oder den richtigen Medikamentengebrauch beinhalte. Dadurch werde das Rückfallrisiko um fast die Hälfte reduziert.

Die Teilnehmer für das Projekt Par Monts et par Vaud wurden in den Herzrehabilitationsprogrammen der HUG-Kliniken, aber auch in anderen Spitälern der Westschweiz gewonnen. «Ein Herzinfarkt ist für unsere Patienten ein erschütterndes Ereignis», erklärt François Mach, Leiter der Kardiologieabteilung am HUG. Oft löse er jedoch auch einen positiven Impuls aus, der dazu beitrage, einen gesünderen Lebensstil in den Alltag zu übernehmen. «Aber auf lange Sicht ist das nicht einfach durchzuhalten. Die Teilnahme an einer solchen sportlichen Herausforderung ist deshalb wichtig, weil sie sehr motivierend wirken kann», sagt François Mach.

«Das passiert nur den anderen»

Die Zeiten, in denen man nach einer Herzattacke absolute Ruhe vorschrieb, sind längst vorbei. Während wir die letzten Meter zum Gipfel (1587 m) zurücklegen, beweisen die Teilnehmer eindrücklich ihre Motivation und ihre Form. Oben angelangt geniessen wir den Blick über den französischen Jura und den Neuenburgersee und die paar Sonnenstrahlen, die die Wolkendecke durchdringen. «Bevor es einen trifft, denkt man immer: Das passiert nur den anderen», sagt Florian, 55, der vor knapp drei Monaten einen Herzinfarkt erlitten hat. «Aber jetzt bin ich umso motivierter, zu trainieren.» Einige Teilnehmer, wie die 48-jährige Nathalie, treiben seit Jahren Sport: «Ich bin schon immer gelaufen. Sechs Monate nach meinem Herzinfarkt habe ich sogar an einem Marathon teilgenommen.» Für andere ist das Wandern weitaus anstrengender, da sie seit Jahren keinen Sport mehr getrieben haben. Für sie bieten Philippe Sigaud und sein Team vorbereitende Trainingseinheiten an. Aber die Erleichterung ist gross, als das Chalet du Suchet in Sichtweite kommt und der verführerische Duft von Älplermagronen sich ausbreitet.

Sich gegenseitig unterstützen

Nach dem Essen ist das Wetter weniger nachsichtig mit uns: Es regnet zeitweise stark, und der Abstieg nach Vallorbe wird immer schwieriger, da die Kalksteinfelsen rutschig sind. Die Wanderer laufen konzentriert und helfen sich gegenseitig. Das Leitungsteam stützt die älteste Teilnehmerin, die mit 78 Jahren und nur wenige Monate nach einem Herzinfarkt mutig an der Expedition teilnimmt. Zum Glück nieselt es bald nur noch leicht, und der Weg wird weniger steil. Danach geht es hinunter zu den Weiden, wo die letzten Sommerblumen für ein paar Farbtupfer sorgen. Jetzt wird wieder gesprochen, und manchmal scherzen die Teilnehmer sogar untereinander. Der leichte Ton steht im Kontrast zu den tiefgründigen Gesprächen. Gleiche Herausforderungen zu meistern, bringt einen näher zusammen.

Mit der Ankunft im Dorf Ballaigues geht es zurück in die Zivilisation. Bis Vallorbe ist es jetzt noch eine Stunde zu Fuss. Die Gruppe dehnt sich aus, diese letzte Etappe auf Asphalt ist für einige eine harte Prüfung. Aber die gemeinsame Motivation ist stärker als Müdigkeit und Schmerz. Am Ende werden alle sagen, dass sie nach 23 Kilometern und sechs Stunden Fussmarsch bereit sind, das Abenteuer der kommenden zwei Tage in Angriff zu nehmen, das sie über den Marchairuz-Pass nach St-Cergue führen wird.

Ein vielschichtiges Abenteuer

Das Projekt Par Monts et par Vaud wurde von Philippe Sigaud, Pflegefachkraft an der kardiologischen Abteilung des Universitätsspitals Genf (HUG), und seinem Team aus Kardiologen, Krankenschwestern und technischen Spezialisten ins Leben gerufen. 2018 fand es zum vierten Mal statt. Zuvor bewältigten die Teilnehmer eine Radtour am Genfersee, die Besteigung eines Dreitausenders oder die Sierre-Zinal-Route. Das von der Privatstiftung des HUG unterstützte Projekt basiert auf dem freiwilligen Engagement der beteiligten Mitarbeiter.

Etappen der Jurawanderung: 1. Ste-Croix–Vallorbe: 6 h 10, 2. Le Pont–Col du Marchairuz: 7 h, 3. Col du Marchairuz–St-Cergue: 5 h 30

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