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Von Viehhirten und Vaganten Dunkle Vergangenheit im SAC
Der Psychiater Johann Joseph Jörger aus Vals war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein viel gelobter und viel beschäftigter Arzt, Anstaltsdirektor und Autor und ein hochgeehrtes SAC-Mitglied. Seine Erstbegehungen gingen vergessen, seine aus heutiger Sicht bedenklichen Forschungen hatten unschöne Folgen.
Ein junger Viehhirte von der Blachtaalp bei Vals, namenlos zwar, aber «ein Ritter ohne Furcht und Tadel», ein «Mordskerl» und von «gesunder Rasse», nahm am 24. Juli 1895 an der ersten Durchsteigung der Südostwand des Zervreilahorn-Mittelgipfels (2862 m) teil. Es war zugleich die erste touristische Besteigung dieses auch als Matterhorn Graubündens bekannten Gipfels. Führend bei der Premiere waren der Valser Bergführer Benedikt Schnyder und seine Gäste, der Zürcher Zahnarzt Ernst Bion sowie der aus Vals stammende Psychiater Johann Joseph Jörger, der im Jahrbuch des Schweizer Alpenclub von 1895 unter dem Titel Aus dem Adulagebiet. Ferien im Valserthale über die Ersttour berichtete.
Über ebendiese Publikation stolperte mehr als 100 Jahre später ein Autor der Zeitschrift «Die Alpen». Er wollte aus ihr Zitate in seinen Tourentipp («Die Alpen» 10/2018) einflechten. Doch dann realisierte er, dass Jörger noch anderweitig Geschichte geschrieben hat. Und liess es bleiben. Denn auf der anderen Seite steht da die Erkenntnis des Historikers Thomas Huonker zu Jörger und zu seinem Bekannten Alfred Siegfried, dem Leiter des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse der Stiftung Pro Juventute.
Im Bericht Vorgeschichte, Umfeld, Durchführung und Folgen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse», den Huonker im Auftrag des Bundesamtes für Kulturpflege 1987 veröffentlicht hat, heisst es, dass Siegfried zur Erreichung seiner Ziele «die Vorschläge Josef Jörgers zu verwirklichen versuchte: Möglichst gründliche Zerstörung der jenischen Sippen und der Traditionen des Fahrenden Volkes, möglichst weitgehende kulturelle und genetische Assimilierung an die Sesshaften mit Hilfe systematischer und radikaler Kindswegnahmen». Und der Abgrund wird noch tiefer: «Jörgers Theorien gehören zu jener ideologischen Welle, die zwar – nur schon aus rein zeitlichen Gründen – nicht dem Nationalsozialismus im strengen Sinn zuzurechnen ist, die dem Nationalsozialismus aber wesentliche Grundlagen seiner Bevölkerungspolitik und Gesetzgebung lieferte.» Diese Theorien gehen auf das Jahr 1886 zurück, als Jörger begann, Informationen über eine sogenannte Vagantenfamilie zu sammeln. Es ist die Familie Stofel aus seiner Heimatgemeinde Vals. Jörger nannte sie «Zero» – eine Familie von Nullen also. Der «göttliche Viehhirte», von dem er im SAC-Jahrbuch berichtete, gehörte definitiv nicht dazu.
Ein viel beschäftigter Mann
Johann Joseph Jörger (1860–1933) war der einzige Sohn des Johann Benedikt und der Fidelia, geborener Vieli. Er absolvierte die Volksschule in Vals und danach das Kollegium in Schwyz. 1880 bis 1884 studierte er in Basel und Zürich Medizin; als erster Valser bestand er das Staatsexamen. 1885 wurde er Landschafts- und Kurarzt in Andeer. Im gleichen Jahr heiratete er die Valserin Paulina Hubert; der Ehe entstammen zwei Söhne und zwei Töchter. 1886 war er Sekundärarzt an der psychiatrischen Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers und 1892 Gründungsdirektor der Psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur, die er bis 1930 leitete. Jörger war Mitglied zahlreicher Gesellschaften, so des Bündner Hilfsvereins für Geisteskranke (Vorsitzender, später Ehrenmitglied), der Bündner Frauenschule, der Stiftung für Trinkerfürsorge, des Bündner Hilfsvereins für Taubstumme, der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Graubünden und der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie (Präsident, dann Ehrenmitglied). Zudem fungierte er als Experte beim Bau neuer psychiatrischen Kliniken (Realta und Herisau) und war massgeblich an der Gründung des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse im Jahr 1926 beteiligt.
Familiengeschichten mit Folgen
Europaweit bekannt wurde Jörger mit seinen Psychiatrischen Familiengeschichten, die 1919 in Berlin veröffentlicht wurden und zwei Schriften umfassen. Die erste Schrift, Die Familie Zero, warerstmals 1905 im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie erschienen, einer rassentheoretischen bzw. eugenischen Fachzeitschrift, die von 1904 bis 1944 herauskam. Die zweite Schrift, Die Familie Markus, war 1918 in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie publiziert worden. Eine gute Zusammenfassung der Psychiatrischen Familiengeschichten enthält das über 700-seitige Werk von Sara Galle: Kindswegnahmen. Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge (2016). Darin findet sich zum Beispiel folgender Ausschnitt, wobei die negativ besetzten Wörter wie «verkommen» und «Weiber» eben von Jörger stammen: «Die Mitglieder der Familie Zero seien wie die Angehörigen verschiedener anderer fahrender Geschlechter ‹nichts als verkommene Bauern›, die sich durch Heirat mit ‹fremden Weibern› das ‹Gewerbe der Heimatlosen› angeeignet hätten, womit er die mobile Lebens- und Erwerbsweise von Personen meinte, denen noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund ihres mangelhaften oder fehlenden bürgerrechtlichen Status die Niederlassung verweigert worden war.»
Die «Familie Zero», die eine eigene Sprache, das Jenische pflege, sei mit der Zeit, so Jörger, eine «sehr selbstbewusste, unheimliche und lästige Horde» geworden. Der Psychiater beobachtete bei den meisten Mitgliedern der Familie folgende «Abirrungen vom gewöhnlichen Familientypus»: Vagabundismus, Alkoholismus, Verbrechen, Unsittlichkeit, Geistesschwäche und Geistesstörung sowie Massenarmut. Grund dafür war laut Jörger «alkoholische Keimverderbnis». Da stützte er sich auf die Theorie seines Lehrers und Freundes Auguste Forel, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich – und vielen vielleicht noch bekannt, weil er auf der alten 1000-Franken-Note abgebildet war. Unter Keimverderbnis verstand Forel krankhafte Veränderungen von Spermien. «Durch Alkohol und daraus resultierende Krankheiten und Missbildungen, die dann über Generationen vererbt würden», heisst es im Historischen Lexikonder Schweiz. Jörger war der Ansicht, dass gerade seine «Familie Zero» diese Verderbnis mit einer beachtlichen Zahl von Trinkerinnen und Trinkern illustriere. Bei den Valser Bauern hingegen sei Alkoholismus selten zu beobachten. Immerhin: Sich selbst gönnte der Autor der Familiengeschichten schon mal ein Glas oder zwei. In Zervreila jedenfalls, vor dem Erstaufstieg zum gleichnamigen Horn, hielt er sich an den Veltliner, weil er dem dortigen Quellwasser nicht traute.
Alkoholfrage hier, rassenhygienische Antworten dort: Das war Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gängige Praxis unter massgebenden Personen wie Medizinern. Jörger stand da nicht alleine mit seiner These, dass Familien wie die «Familie Zero» durch den «Eintritt ins Vagabundentum verdorben» worden seien und nur durch das Aufgeben dieser Lebensweise «regeneriert werden» könnten. Letzteres war nun aber aus heutiger Sicht problematisch. Nochmals Originalton Jörger: «Es dürfte wohl kein anderes Mittel des Ausgleichs geben als die ganz frühe Entfernung der Kinder aus der Familie und eine möglichst gute Erziehung und Hebung auf eine höhere soziale Stufe, wenn die fahrenden Familien nach und nach in den sesshaften aufgehen sollen.» Genau dieses Programm wurde mit dem Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse ab 1926 in der Schweiz durchgezogen, ohne zu fragen, ob die Nichtsesshaften damit einverstanden waren.
Beliebter volkskundlicher Schriftsteller
Ganz anders der Viehhirte von der Blachtaalp: Er «bat um die Erlaubnis, das Zervreilahorn mitbesteigen zu dürfen, da er auch noch nie droben gewesen sei». Und er fühlte sich im Steilfels dann so zu Hause, dass Jörger den Führer bat, den Jungen am Seil möglichst eilig hochzuziehen, «sonst wäre der Mordskerl ohne weiteres wie eine Katze nachgeklettert, eine blamierende Übertrumpfung, die sich ein alter Clubist nicht gefallen lassen durfte». Eigentlich eine nette, ja selbstkritische Anekdote, die Jörger im SAC-Jahrbuch erzählt. Mit dem Wissen allerdings, wie Jörger mit seinen «wissenschaftlichen» Arbeiten und Ansichten mithalf bei der «organisierten Willkür» – so nennt die Unabhängige Expertenkommission administrative Versorgungen ihren im September 2019 veröffentlichten Schlussbericht –, bleibt einem das Lachen im Hals stecken.
Ob die rassenhygienischen Überzeugungen in Johann Joseph Jörgers volkskundlichen und belletristischen Schriften durchschimmern, konnte nicht überprüft werden. Denn Ds' gschid Buobli (1910), Bei den Walsern des Valsertales (1913), Urchigi Lüt (1918, dritte Auflage 1989) und Der heilig Garta (1920) sind ganz oder mehrheitlich im Valserdialekt verfasst, den ich nur mit grosser Mühe lesen kann. Aber im SAC-Jahrbuch von 1918 schrieb Walram Derichsweiler über die Schriften: «Es sind köstliche, urwüchsige, aber doch feinempfundene Geschichten, die der Verfasser aus dem Leben seiner Mitmenschen, wohl aber auch viel aus seinem eigenen, besonders seiner Jugend, schöpft.» Für die aus dem Valsertal stammenden Menschen mit dem Übernamen «Zero» hatte es da keinen Platz. Derichsweiler war von 1925 bis 1930 Präsident der SAC-Sektion Terri, bei deren Initiativkomitee Jörger mitgewirkt hatte. Bei der Gründung am 23. Januar 1898 fehlte er dann aber.
Ein gutes Jahr nach der Erstbegehung am Zervreilahorn gelang Jörger und Schnyder eine weitere: Am 4. August 1896 erreichten sie das Grauhorn (3260 m) erstmals von der Läntaseite. Jörger berichtete darüber im SAC-Jahrbuch von 1896: Zuoberst entstand ein «Denkmal unserer Besteigung, indem wir auf dem äussersten Punkt gegen die Lenta einen kräftigen Steinmann aufmauerten, dessen Obhut wir eine Flasche mit Karte anvertrauten». Das Denkmal bröckelt.
Ehemalige SAC-Mitglieder mit zweifelhaften Ideen
Louis Agassiz (1807–1873), schweizerisch-amerikanischer Naturforscher; Rassentheoretiker; zweites Ehrenmitglied des SAC (1865). Literatur: «Die Alpen» 09/2016 und 11/2016.
Théodore Aubert (1878–1963), Schweizer Jurist und Politiker; Gründungsmitglied der westschweizerischen Bürgerwehrbewegung; 1935–1939 Nationalrat der faschistischen Union nationale; Mitglied im SAC-Central-Comité Genf 1917–1919. Literatur: Andrea Porrini, Ganz unten, in: Helvetia Club. 150 Jahre Schweizer Alpen-Club SAC, 2013.
Rudolf Campell (1893–1985), Schweizer Arzt; Unterzeichner der nazifreundlichen «Eingabe der Zweihundert» von 1940; SAC-Zentralpräsident 1941–1943; Ehrenmitglied der SAC-Sektion Bernina; sollte 1965 Ehrenmitglied des Gesamt-SAC werden, was wegen oben genannter Unterzeichnung nicht zustande kam. Literatur: Andrea Porrini, Ganz unten, in: Helvetia Club. 150 Jahre Schweizer Alpen-Club SAC, 2013.
Walther Flaig (1893–1972), deutscher Alpinschriftsteller; Mitglied der NSDAP, Spion gegen die Schweiz, 1944 verurteilt; Mitglied der SAC-Sektion St. Gallen. Literatur: Veronika R. Meyer, Berg 365. Jubiläumskalender SAC St. Gallen 1863–2013.
Julius Klaus (1849–1920), Schweizer Ingenieur und Privatier; Rassenhygieniker; hat ein Legat zum Bau einer SAC-Hütte hinterlassen, die an ihn erinnern sollte; am 15. Oktober 1922 wurde die Baltschiederklause SAC eingeweiht. Literatur: Marco Volken, Oberwalliser Sonnenberge, 2019.
Wilhelm Paulcke (1873–1949), deutscher Skipionier, Lawinenforscher und Geologe; Nazi, 1943 Empfänger des Grossen Ehrenbriefes des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen; Mitglied der SAC-Sektion Davos. Literatur: zahlreiche Beiträge in der Zeitschrift «Die Alpen», etwa in der Ausgabe 09/2018.