Vom strengen Reservat zum flexiblen Netz
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Vom strengen Reservat zum flexiblen Netz Wie sich das Verständnis von Natur- und Landschaftsschutz gewandelt hat

Die Schweizer Naturschutzpioniere wollten Landschaften, Tiere und Pflanzen in ­Reservaten dem Einfluss des Menschen entziehen und ­erforschen. Paradebeispiel dafür ist der Schweizerische Nationalpark. Heute setzt der Bund auf Biodiversität und ein weit gespanntes Netz unterschiedlicher Schutzgebiete. Ein Para­digmenwechsel, mit dem sich auch der SAC auseinandersetzen muss.

Der Botanikprofessor Carl Schröter war einer der wichtigsten Promotoren des Schweizerischen Nationalparks, der 1914 eröffnet wurde. Er beschrieb ihn ein paar Jahre nach der Eröffnungals ein Gebiet, in dem «jegliche Einwirkung des Menschen für alle Zeiten ausgeschaltet ist, wo alpine Urnatur sich ungestört wiederherstellen und weiterentwickeln kann und wird. An seinen Grenzen brechen sich die über alles Land strömenden Wogen menschlicher Kultur, die das ursprüngliche Antlitz der Mutter Erde zer­stören: Er ist aus der ‹Ökumene›, aus der Besiedlungssphäre ausgeschaltet.»

Der Nationalpark sollte zu einem Gegenstück der Zivilisation werden, hier sollte Wildnis restauriert und bewahrt werden. Hinter dieser Absicht stand die Sehnsucht nach unberührter Natur, die im gleichen Mass gewachsen war, wie Landwirtschaft, Bergbau, Industrie und Tourismus in die abgelegensten Winkel der Erde vorgedrungen waren. Die Natur war nicht mehr bedrohlich, sondern bedroht, schön und erbauend. Und sie war etwas, das wissenschaftlich erforscht werden musste. So wurden abgelegene ländliche Gebiete zum Objekt der Begierde städtischer Bildungsbürger. Die treibende Kraft hinter der Nationalparkgründung war denn auch ein Gremium der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft: die Schweizerische Naturschutzkom­mission (SNK). Von ihren acht Gründungsmitgliedern waren vier Mitglieder des SAC, darunter die Ehrenmitglieder Albert Heim und Carl Schröter. Ausserhalb der SNK trug Johann Coaz entscheidend zum Erfolg der Idee bei (Seite 46). Der damalige eidgenössische Oberforstinspektor war 1865 der dritte Zentralpräsident des SAC gewesen und wurde 1901 ebenfalls zum Ehrenmitglied ernannt. Das Profil der Nationalparkförderer dürfte also mit jenem der SAC-Mitglieder weitgehend übereingestimmt haben. Es waren Männer und Naturwissenschaftler, die zur gesellschaftlichen Elite gehörten. Sie stellten den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt nicht grundsätzlich infrage, wollten aber einzelne Inseln seinen schädigenden Einflüssen entziehen.

Edles Werk dem Vaterland

Die SNK kam rasch zum Schluss, dass die abgeschiedenen Täler des Unterengadins das Zeug zur Insel hatten. Sie seien noch weit­gehend unberührt, und reichhaltige Natur­phänomene harrten noch der Erforschung. Nun mussten die Gemeinden im Unterengadin dazu gebracht werden, das Land für den Nationalpark zu verpachten. Und um den Zins zu zahlen, musste Geld her. Dafür gründeten die Initianten den Schweizerischen Bund für Naturschutz (SBN) (heute Pro Natura), dem jedermann für einen Franken pro Jahr beitreten konnte. In einem Aufruf in der Presse wurden die Leserinnen und Leser aufgefordert, «mitzuhelfen an dem edlen Werke, unserm Vaterland seine Ur­natur ungeschädigt zu erhalten». Das Echo war gross: Im Jahr 1912 hatte der Verein bereits 20 000 Mitglieder. Mit der Gemeinde Zernez wurde ein erster Pachtvertrag abgeschlossen. Es zeigte sich aber, dass es ohne Bundesgelder nicht gehen würde. Mit dem Bundesbeschluss zum Nationalpark von 1914 übernahm der Bund ­einen Teil der Finanzierung und die Oberaufsicht über den Park.

Um das Projekt der Bevölkerung und dem Parlament verkaufen zu können, wurde der Park zum nationalen «Naturheiligtum» hochstilisiert. Er sei «ein Werk nationaler Begeisterung, ein Symbol der Einigkeit», so Carl Schröter.

Ökologie statt Schutzinseln

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Wirtschaft wieder zu brummen und verschlang natürliche Ressourcen noch viel schneller als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Energieverbrauch, Siedlungsbau, Abfallmenge und Schadstoffbelastung nahmen massiv zu.

Dagegen gab es Widerstand, der in den 1960er-Jahren zur Gründung von Umweltorganisationen wie dem Rheinaubund (1960) (heute Aqua viva) oder dem WWF (1961) führte. Diese Organisationen und die in den 1970er-Jahren entstehenden grünen Parteien sahen die Umwelt als vernetztes System, das aus dem Gleichgewicht zu geraten drohte, und forderten weitreichende Eingriffe in Gesellschaft und Wirtschaft. Ihre Anliegen fanden Gehör: Die Verfassungsartikel zum Natur- und Heimatschutz (1962), zur Raumordnung (1969) und zur Umwelt (1971) wurden angenommen und die dazugehörigen Gesetze geschaffen. In den Bergen wurde das Wirtschaftswachstum jedoch an immer mehr Strassen, Bahnen, Skigebieten und Staudämmen sichtbar. Der SAC erlebte mehrfach, dass sein Widerstand gegen die Erschliessung unberührter Gegenden nichts brachte. Deshalb beschlossen der Schweizer Heimatschutz, der SAC und der SBN im Jahr 1959, präventiv eine Liste mit schutzwürdigen Landschaften aufzustellen.

Vier Jahre später lag eine erste Version des Inventars vor. Genau zur richtigen Zeit, denn der Bund war gerade daran, das Gesetz zum neuen Verfassungsartikel über den Natur- und Heimatschutz zu erarbeiten. Die Liste wurde zur Grundlage für das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN). Dessen 162 Objekte bedecken heute fast 20% der Landesfläche, ein grosser Teil von ihnen liegt im Gebirge. Der Schutzstatus von BLN-Gebieten ist allerdings nicht mit jenem im Nationalpark vergleichbar. Laut Gesetz verdienen sie zwar «ungeschmälerte Erhaltung», aber bei «gleich- oder höherwertigen Interessen» von nationaler Bedeutung kann davon abgewichen werden.

Der Ansatz, Listen von schützenswerten Gebieten zu erstellen, wurde gegen Ende des letzten Jahrhunderts immer beliebter. Einen entsprechenden Anstoss gab die Rothenthurm-Initiative, die 1987 vom Volk angenommen wurde. Sie führte Anfang der 1990er-Jahre zum Erlass der Moorinventare. In die gleiche Zeit fällt das Aueninventar.

Etwas jüngeren Datums sind die Inventare von Amphibienlaichgebieten (2001) und Trockenwiesen und -weiden (2010). Der Impuls dafür kam unter anderem vom Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen (UNO), der 1992 in Rio de Janeiro stattgefunden hatte. Die Schweiz unterzeichnete damals die Konvention über die biologische Vielfalt. Darin verpflichtete sie sich, eine nationale Strategie zur Erhaltung der laufend abnehmenden Biodiversität zu erarbeiten. Im Oktober 2010 wurde im japanischen Aichi-­Nagoya konkretisiert, wie das geschehen soll. Eines der Aichi-Ziele besagt, dass ein Land bis 2020 auf 17% seines Terri­to­riums Schutzgebiete oder Biodiversitäts­förderflächen eingerichtet haben soll. Die Schweiz kommt mit ihrem Nationalpark, dem Naturerlebnispark Sihlwald, den Biotopinventaren, den Jagdbanngebieten, den Waldreservaten und weiteren Schutzgebieten heute lediglich auf rund 14%. Mit der Biodiversitätsstrategie von 2012 und dem dazugehörigen Aktionsplan von 2017 will der Bund die «ökologische Infrastruktur» aus Schutz- und Vernetzungsgebieten ausbauen und den Zustand gefährdeter Lebensräume verbessern.

Differenzierte Haltung des SAC

Dem SAC, der sich im 20. Jahrhundert in ­einen mitgliederstarken Verband verwandelt hat, kommt das Abrücken vom Totalschutz wie im Nationalpark entgegen. Mit den ­neuen Entwicklungen im Natur- und Umweltschutz muss er sich aber auseinandersetzen. «Viele Nutzungen widersprechen den Biodiversitätszielen nicht», sagt Philippe Wäger, Ressortleiter Umwelt und Raumentwicklung beim SAC. Er erinnert daran, dass die Bio­diversität in der subalpinen und alpinen Zone in einem viel besseren Zustand ist als im Mittelland. Zu diesem Schluss kam 2014 ein ­Bericht des Forums Biodiversität Schweiz. «Naturnahe Aktivitäten wie der Bergsport können höchstens lokal problematisch sein», sagt Wäger. In seinen Richtlinien zu Umwelt und Raumentwicklung spricht sich der SAC deshalb zwar für Schutzgebiete und Inventare aus, setzt sich aber auch für den Zugang zu diesen Gebieten ein. Er fordert bei Zugangsbeschränkungen einen stärkeren Fokus auf Konflikte mit «national prioritären Arten». Damit sind jene Arten gemeint, die aus nationaler Sicht besonders schutz- und förderwürdig sind. Prominentes Beispiel dafür sind die Raufusshühner.

Zugang zur Heimat

Ein wichtiges Anliegen ist dem SAC tradi­tio­nell der Landschafts- und Heimatschutz. So hat er sich klar gegen das Ansinnen der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Ständerates ausgesprochen, die mit einer Änderung des Natur- und Heimatschutzgesetzes erreichen will, dass in den BLN-Gebieten leichter gebaut werden kann. «Das Ziel des SAC ist die Ermöglichung des naturnahen Bergsports in einer intakten ­Natur», sagt Philippe Wäger. Zur Begründung dieser Position nimmt der SAC ein Argu­ment auf, das aus der Zeit der Nationalparkgründung stammt: Natur ist Teil der Heimat. Sie werde durch Verbauen der schönsten Landschaften gefährdet, sagt ­Wäger. Ebenso wie durch «Betreten ver­bo­ten»-Schilder: «Denn Zugang zur Natur ist auch Zugang zur Heimat.»

Literatur

Stefan Bachmann, Zwischen Patriotismus und Wissenschaft. Die schweizerischen Naturschutzpioniere (1900–1938), Chronos Verlag, Zürich 1999

Martin Gutmann, Nutzen oder schützen? ­Beides! Der SAC und die Umwelt: Die 150-­jäh­rige Suche nach einem Gleichgewicht. In: Daniel ­Anker (Hrsg.), Helvetia Club. 150 Jahre Schweizer Alpen-Club SAC, SAC Verlag, Bern 2013

Patrick Kupper, Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen ­Nationalparks, Serie Nationalpark-Forschung in der Schweiz, Nr. 97, Haupt, Bern 2012

François Walter, Bedrohliche und bedrohte ­Natur, Umweltgeschichte der Schweiz seit 1800, Chronos Verlag, Zürich 1996

Tanja Wirz, 100 Jahre für die Natur. In: Pro ­Natura (Hrsg.), Die Stimme der Natur, <br/>100 Jahre Pro Natura, Kontrast, Zürich 2009

Coaz, Pionier seiner Zeit (1822–1918), Jubi­läums­ausgabe Bündner Wald, Jahrgang 71, Juli 2018

Was zur Zeit der Nationalparkgründung sonst noch geschah

1906 Als erstes europäisches Land führt Finnland das Wahlrecht für Frauen ein.
1907 In Deutschland kommt das Waschmittel Persil auf den Markt.
1908 Der Franzose Louis Blériot überquert den Ärmelkanal als erster Mensch in einem Flugzeug.
1909 Luigi Ganna gewinnt den ersten Giro d’Italia.
1910 In der Schweiz wird Absinth verboten.
1911 Eine norwegische Expedition unter der Leitung von Roald Amundsen erreicht erstmals den Südpol.
1912 Die Titanic kollidiert mit einem Eisberg und geht unter.
1913 In Australien beginnen die Bauarbeiten für die künftige Hauptstadt Canberra.
1914 Ein Attentat auf das österreichisch-ungarische Thronfolgerpaar in Sarajevo löst den Ersten Weltkrieg aus.

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