© Leki/Glowacz
Viel mehr als eine praktische Stütze Die zehn wichtigsten Fragen zum Wanderstock
Die Verkaufszahlen von Wanderstöcken steigen kontinuierlich. Doch was bringen sie überhaupt, und birgt ihr Einsatz auch Risiken? Antworten eines Gebirgsmediziners, eines Produktmanagers und eines Bergführers.
Einst wurde als «Stockente» oder «Klapperstorch» belächelt, wer mit Wanderstöcken unterwegs war. Unterdessen ist es längst selbstverständlich, dass Berggängerinnen und Berggänger an spitzen Stöcken Halt und Entlastung suchen. Über Nutzen und Risiken wird allerdings noch immer diskutiert. Wir haben mit Marco Bomio, Bergführer in Grindelwald, Urs Hefti, Präsident der medizinischen Kommission der internationalen Vereinigung von Alpinistenverbänden UIAA, und Beno Morgenegg, Produktmanager für Leki-Stöcke bei der Lowa Schuhe AG, nach Antworten gesucht.
Entlasten Stöcke die Gelenke?
Laut Sportarzt Urs Hefti kommen alle Studien grundsätzlich zum gleichen Schluss: «Stöcke bringen eine Entlastung der Knie- und Hüftgelenke, und die wahrgenommene Anstrengung ist geringer.» Um wie viel geringer sei allerdings offen. Der Wert liege irgendwo zwischen 12% und 16%.
Je mehr Gewicht man auf die Stöcke verlagern könne, desto sinnvoller seien sie. «Am meisten bringen sie beim Bergabgehen», so Hefti. Auf normalen Wanderungen seien Stöcke aber nicht zwingend nötig, ausser vielleicht für Personen mit Gelenk- oder Rückenschmerzen. Zu beachten sei, dass mit Stöcken die oberen Extremitäten stärker belastet würden und so der Energieaufwand insgesamt erhöht werde. Die stärkere Belastung von Handgelenken, Ellbogen und Schultern könne auch kontraproduktiv sein, insbesondere bei vorhandenen Problemen wie Tennis- oder Golferarm.
Besser ein oder zwei Stöcke?
Der klassische Wanderstock mit den aufgenagelten Metallwappen hat definitiv ausgedient. Immer noch sind allerdings viele mit nur einem Stock unterwegs. Auch Bergführer Marco Bomio und Sportarzt Urs Hefti gehören dazu. Sie haben vor allem gerne eine Hand frei. Gerade an exponierten Stellen könne man sich so besser festhalten. Zudem kalkulieren sie das Gewicht mit ein, falls sie den Stock beim Klettern aufbinden müssen. «Bergab mit Gepäck ist es biomechanisch allerdings schwierig, mit nur einem Stock gelenkschonend zu gehen», sagt Urs Hefti. Und übrigens: Für diejenigen, die den schön verzierten Holzstöcken nachtrauern, gibt es unterdessen auch selbstklebende Metallwappen.
Sind Stöcke im Hochgebirge nützlich?
Viele Bergführer und Bergsteigerinnen schwören auf Wanderstöcke zur Entlastung der Gelenke beim Zustieg zu einer Wand sowie beim Rückweg. Auch bei Gletscherüberquerungen setzen sie Stöcke ein. Schon bei kurzen Kletterpartien empfiehlt Urs Hefti allerdings, die Stöcke zu versorgen und nicht an den Handgelenken baumeln zu lassen. Einen weiteren Nutzen im Hochgebirge hat Marco Bomio schon selbst erlebt: Gäste mit einem verstauchten Fuss oder Knieschmerzen konnten dank einem Stock noch mit eigener Kraft ins Tal gelangen. Und im Notfall kann ein Stock sogar helfen, ein gebrochenes Bein oder einen gebrochenen Arm zu schienen.
Schneller am Ziel dank Stöcken?
«Die meisten Studien halten fest, dass die kardiovaskuläre Belastung, sprich die Herzfrequenz und die Sauerstoffaufnahme, mit Stöcken höher ist als ohne», sagt Sportarzt Urs Hefti. Das heisst: Da auch die Arme arbeiten, setzt man insgesamt mehr Kraft ein, ist tendenziell schneller unterwegs und verbrennt mehr Kalorien. Wegen der besseren Verteilung der Kraft komme auch das Ermüdungsgefühl später, was einen positiven Trainingseffekt haben könne, so Hefti. Allenfalls bestehe aber die Gefahr, dass sich zumindest Anfänger überschätzten oder überforderten. Bergführer Marco Bomio will dies jedoch nicht überbewerten: «Der Körper merkt recht gut, wie viel er leisten kann.»
Wie wandert man mit Stöcken?
Die Koordination von zwei Füssen und zwei Stöcken ist anspruchsvoll und muss gelernt werden. Grundsätzlich werden die Diagonaltechnik (rechter Fuss und linker Arm nach vorne, dann linker Fuss und rechter Arm nach vorne) und die Doppelstocktechnik (beide Stöcke mit dem zu entlastenden Bein nach vorne) unterschieden. Laut Produktmanager Beno Morgenegg wird die Doppelstocktechnik nur selten eingesetzt, da sie beim normalen Gehen der natürlichen Armbewegung entgegenläuft. Zum Überwinden von grösseren Absätzen im Aufstieg könne sie aber hilfreich sein. Wichtig ist auch, die Länge der Stöcke richtig einzustellen. Beim Geradeaus- oder Bergabgehen gilt: rechter Winkel zwischen Ober- und Unterarm. Beim Bergaufgehen verkürzt man die Stöcke um fünf bis zehn Zentimeter. Und bezüglich Teller ist zu beachten: Beim Winterwandern ergibt es Sinn, einen grösseren Teller zu montieren, damit der Stock nicht im Schnee versinkt; für den Sommer sind die Trekkingstöcke bereits mit kleinen Tellern ausgerüstet.
Was ist ein guter Wanderstock?
Die Auswahl an längenverstellbaren Falt- und Teleskopstöcken für den Sommer ist inzwischen riesig und die Antwort wie immer von den individuellen Bedürfnissen abhängig. Beno Morgenegg gibt einige Entscheidungshilfen: Aluminium oder Karbon? Stöcke aus Aluminium haben ein gutes Verhältnis zwischen Preis und Leistung sowie zwischen Robustheit und Leichtigkeit. Carbonstöcke sind zwar noch etwas leichter und trotzdem sehr robust, kosten aber auch entsprechend mehr. Plastik-, Kork- oder Thermoschaumgriffe? Die angenehmsten Materialien sind Kork und Thermoschaum, und zwar bei tiefen wie bei hohen Temperaturen. Wichtig ist aber auch die Form der Griffe. Sie sollten schön abgerundet sein und keine Kanten haben.
Bleibt der Gleichgewichtssinn?
Bei dieser Frage sind sich Bergführer und Gebirgsmediziner uneinig. «Wer immer mit Stöcken wandert, dessen Gleichgewichtssinn leidet», meint Marco Bomio. Er empfiehlt daher, die Wanderstöcke gezielt einzusetzen und öfters auch ohne Stöcke durch unwegsames Gelände zu gehen, um die Balance zu trainieren. Gerade bei älteren Menschen sei dies wichtig. Urs Hefti meint hingegen, dass laut aktueller Studienlage unklar sei, ob ein chronischer Stockgebrauch den Gleichgewichtssinn wirklich negativ beeinflusse. Fest stehe hingegen, dass Stöcke die Balance verbessern, wenn man einen Rucksack trägt. Und Produktmanagerin Andrea Brändli ergänzt: «Stöcke leisten auch psychische Unterstützung, die Leute fühlen sich damit sicherer.»
Ist die Sturzgefahr gar grösser?
Ende Juli letzten Jahres verlor im Erstfeldertal eine Frau das Gleichgewicht, weil ihr der Wanderstock abrutschte. Sie stürzte die Böschung hinunter und verstarb noch auf der Unfallstelle, wie die Luzerner Zeitung berichtete. «Wanderstöcke können tatsächlich eine Gefahrenquelle sein», sagt Bergführer Marco Bomio. Wenn man stolpere, könnten sie zwischen die Beine geraten. Er selbst habe die Hände deshalb beim Bergabgehen nie in den Schlaufen, damit er sich bei einem Sturz besser auffangen könne. Auf Stöcke verzichten möchte er wegen des Risikos allerdings nicht. «Mein Stock hat auch schon Stürze verhindert», so Bomio. Und eine Studie, die Urs Hefti schon vor 20 Jahren im Himalaya durchgeführt hat, hat gezeigt, dass Wanderer mit Stöcken nicht häufiger stürzen als solche ohne.
Wie reist man mit Stöcken?
Sportarzt Urs Hefti beobachtet immer wieder mit Entsetzen, wie Wanderinnen und Wanderer im Zug oder Bus mit ihren aufgebundenen Stöcken Mitreisende gefährden. «Die Spitzen sind oft genau auf Augenhöhe, was zu schwerwiegenden Verletzungen führen kann.» Die Lösung ist einfach: Stöcke mit den Spitzen nach unten aufbinden oder gleich ganz im Rucksack versorgen.
Gibt es einen ungeahnten Zusatznutzen?
Tatsächlich! Laut Produktmanager Beno Morgenegg wurden Wanderstöcke in der Vergangenheit als Lawinensonden, Hangneigungsmesser, Pickelersatz und Fotostativ eingesetzt. Geblieben davon sei einzig die Möglichkeit, eine Kamera auf den Griff zu montieren. Findigen können ganz normale Stöcke aber auch als Ersatz für Zeltgestänge dienen, wenn sie im Freien ein Tarp zur Übernachtung aufbauen.