© Remo Buess für FUJIFILM
Verneigung vor den Bergen Künstlerin auf der Schafalp
Deborah Kressebuch ist Künstlerin, Hirtin, Kitesurferin, Reisende, arbeitet im Tourismus und klettert. Doch in all ihren verschiedenen Tätigkeiten gibt es eine grosse Konstante: die Berge. Sie malt die Berge, sie arbeitet in den Bergen, sie kehrt in die Berge zurück. Diesen Sommer verbrachte sie als Schafhirtin am Gornergrat.
Auf einer Staffelei in ihrem Atelier steht ein riesiges Gemälde mit einem dieser Berge, die sich wie ein roter Faden durch ihr Werk ziehen. Schnee- und eisbedeckt, steile Flanken, Windfahnen auf den spitzen Gipfeln. «Nichts und niemand kann hier bleiben, kein Lebewesen wird hier verweilen. Diese Landschaften gehören nur sich selbst und sind aus der Ferne für Lebewesen sichtbar, aber manchmal nicht einmal begehbar», schreibt Deborah Kressebuch in einem Text zu ihren Werken.
Die ehemalige Schmitte in Rohrbach, einem Dorf in der Nähe von Langenthal im Oberaargau, ist ein altes Haus. Eine Holztreppe führt aussen auf die Laube, dann geht es nochmals eine steile Treppe hoch. Hier oben ist das Atelier von Deborah Kressebuch. Ein schlichtes Zimmer mit Riemenboden, getäferten Wänden. Es ist ein bisschen kalt, aber ihr macht das nichts aus. Schliesslich hat sie den Sommer am Gornergrat auf fast 3000 Metern in einem Wohnwagen verbracht. Selbst im Hochsommer kann es dort oben empfindlich kalt werden.
«All diese Grenzen»
Deborah Kressebuch ist Künstlerin, Entertainerin, Reisende. Und Hirtin. «Ich war ganz alleine auf der Alp mit 115 Schwarznasenschafen», erzählt sie. Normalerweise könnten sich Alpbetriebe einen Hirten nur leisten, wenn sie 800 oder mehr Schafe hätten. Aber auf der Riffelalp unterhalb des Gornergrats hatte Deborah Kressebuch neben der Aufgabe, die Schafe vor dem Wolf zu beschützen, noch einen anderen Auftrag. Angestellt von der Gornergratbahn empfing die Hirtin, die mehrere Fremdsprachen beherrscht, vor der Kulisse des Matterhorns auch täglich Touristen bei ihrer Herde. Als sie dafür angefragt worden sei, sei sie zuerst skeptisch gewesen.
Sie ist im abgelegenen Valle di Muggio im Tessin aufgewachsen und hat schon als Kind und Jugendliche bei einer Tante Erfahrungen auf einer Alp gesammelt. Letzten Sommer war sie aber auf der Geissenalp Puzzetta im Val Medel, wo sie für eine verunfallte Hirtin einsprang. «Zu Beginn war ich voller Energie, nach zwei Wochen war ich erschöpft.» Später schrieb sie dazu: «All diese Grenzen. Die physischen. Die natürlichen. Die geografischen. Und dann deine eigenen, die im Kopf.» Auch ihr Freund John, ein langjähriger erfahrener Alphirt, hat wegen der Touristen abgeraten.
Doch Deborah Kressebuch wusste auch, dass sie Erfahrung in diesem Bereich hat. Als leidenschaftliche Kitesurferin und Reisende hat sie ihr eigenes Reiseunternehmen geführt. So besuchte sie also den Riffelberg am Gornergrat. Die Topografie gefiel ihr, die Bedingungen der Gornergratbahn waren gut. «Mehr Hirtenprinzessin kann man nicht sein.»
Und es hat funktioniert. «Meet the Sheep» heisst das Angebot. Acht Schafe der Herde waren mit GPS-Sendern ausgestattet, das erlaubte den Besuchern, die Herde zu orten. Bis zu 50 Wandernde suchten pro Tag die Herde auf. Die Leute hätten sich gefreut über die Begegnungen mit dem typischen Walliser Schaf und seien den Tieren stets mit Respekt begegnet. Selbst im Nebel seien die Leute hochgestiegen. «Eine Familie war drei bis vier Stunden unterwegs.» Der Bub habe auf dem Weg einen Schafschädel gefunden. Der liegt jetzt im Atelier.
Mit Wasserornamenten aus feinsten Glasperlen geschmückte Bergtierschädel sind nur ein künstlerisches Nebengleis von Deborah Kressebuch und das erste, das überhaupt von den Bergen abgewichen sei.
Vermarktung ist nicht ihr DingDie Berge hat sie auch geliebt, als es mit der Kunst nicht lief. Nach dem Abschluss der Kunsthochschule wollte sie ihre Karriere vorwärtsbringen. Aber es ging nicht, die Vermarktung von sich und ihrer Kunst lag ihr nicht. So
Auch künstlerisch hat sie sich weiterentwickelt. Am Anfang malte sie mit Acryl. Irgendwann schenkte ein befreundeter Künstler und Bildhauer ihr natürliche Farbpigmente. Diese stellt sie nun auch selbst her. Auf dem Tisch vor ihr liegen Steine vom Gornergrat, angeordnet in einem Farbkreis. Die Steine in allen Farbschattierungen warten darauf, zerhämmert, zermörsert, zerrieben zu werden, bis sie zu farbigem Pulver geworden sind.
Schlaflose Nächte wegen Wolf
Den Winter durch verarbeitet Deborah Kressebuch in ihrem Atelier nun die Eindrücke, Erlebnisse und Materialien des Sommers. Das Matterhorn, die Schwarznasenschafe sind überall. Auf Fotos, auf Skizzen, in Notizen. Sind die Alpsommer also vor allem Quelle ihrer künstlerischen Tätigkeit? Oder gibt es noch andere Gründe, warum sie Ziegen und Schafe hütet? Es sei beides, sagt sie. Inspiration, aber auch die Lebensform an sich, die ihr gefalle. Den ganzen Alpsommer über ging sie nie ins Tal. «Ich war viel mehr bei mir.»
Auch wenn sie zeitweise dachte, ein Flohnerleben zu führen, holte sie die Realität ein. Wie überlebt man einen Sturm in dieser Höhe? Wie bleibt man selbst bei Kräften und Gesundheit? Wie verarbeitet man den Tod eines Schafs? Deborah Kressebuch verlor eines ihrer Schafe durch einen Unfall auf einer Baustelle am Berg.
Zum Glück wurde die Riffelalp nicht vom Wolf heimgesucht. Trotzdem war er sehr präsent. Nur einen Tagesmarsch entfernt, besorgte er ihr schlaflose Nächte. Wegen des Wolfs brachte sie die Schafe denn auch jeden Abend in den Nachtpferch, was nicht dem Wesen der Schwarznasenschafe entspreche. «Wegen der dicken Wolle suchen die Tiere tagsüber Schatten und fressen vor allem abends und morgens», sagt sie. Indem sie die Tiere möglichst spät holte, versuchte sie ihrem Biorhythmus entgegenzukommen. Geholfen, den Wolf fernzuhalten, haben aber vielleicht auch die Touristen, die täglich im Gebiet unterwegs waren. «Für den Hirt ist ein Riss schlimm. Das git einem fasch öpis.»
«Die Berge sind ein Märchen»
Deborah sitzt am Tisch in ihrem Atelier, mit zwei Pullovern und einer Decke hält sie sich warm. In einfachen Gestellen aus Harassen stapeln sich Bücher, Kisten, Farbpigmente, Pinsel. Und überall sind Bilder, grosse und kleine. Meistens von Bergen. «Sie sind seit vielen Jahren prägend für mein aussergewöhnliches Leben», sagt sie. Alles hat mit den Bergen zu tun, der Sport, die Alpwirtschaft und ganz besonders die von all dem geprägten Arbeiten im Atelier. Und da hört sich dies an wie eine tiefe Verneigung: «Die Berge sind ein Märchen, jeden Tag. Sie sind die Abenteuer, die Gefahren, sie sind diese Realität, die so real ist, dass wir sie besser in die Märchen verbannen.»