Unbekanntes Engadin.
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Unbekanntes Engadin.

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Lia Stirnimann, Tamins

Gibt es das? Wer den Verkehr beobachtet, wie er den ganzen Sommer über die Engadiner Strassen rollt, wer die Rastplätze der Touristen gesehen hat, die vollen Gasthäuser, die weltberühmten Aussichtspunkte und die Campingplätze, alle von Ferienleuten bevölkert, wird schwerlich glauben, dass es in diesem Tal noch einsame Gebiete gibt, vom Verkehrsstrom völlig unberührte Gegenden, eigentliche Kostbarkeiten für den Wanderer und Naturfreund - all jenen verschlossen, die ihre Ferien den Strassen entlang organisieren.

Wieder verbringe ich einen Wandersommer im Unterengadin. Seine reizvolle Schönheit, die kühlen Wälder, die blühenden Bergwiesen, die Grate, Pässe und Gipfel, sie alle sind Quellen unvergesslicher Eindrücke und Erlebnisse. Den eigentlichen Zauber des Unterengadins aber glaube ich in seinen vielen kleinen und grössern Seitentälern entdeckt zu haben, in Tälern, die ihre aparte Schönheit und ihren Reichtum nicht so leicht preisgeben. Wer ihnen nachspüren will, muss das Auto verlassen und vergessen, am besten für einige Wochen. Die meisten Seitentäler sind ohnehin nur auf Wanderpfaden erreichbar.

So wandere ich über den einsam am Inn gelegenen Hof Ischias nach Sur-En; der Tag ist herrlich blau und das Val d' Uina, in das ich nun eintrete, voller Versprechungen. Einem muntern Wasser entlang, das, weil ungehemmt durch menschliche Züchtigung, stürmisch und schäumend dem Inn zufliesst, führt ein Pfad zu einem einsamen Hof, immer weiter auf bestossene Weiden und durch den wohltuenden Schatten lichter Lärchenwälder. Die Krönung der Wanderung bildet einer der interessantesten Schluchtenwege unseres Kantons... Wer aber kennt ihn? Eingehauen in die Felsen, führt er teilweise durch Tunnel steil aufwärts. Schroff fallen die Bergwände direkt neben dem schmalen Weg ab, und wer nicht schwindelfrei ist, hält sich gern an dem auf der Bergseite angebrachten Stahlseil. Wenn der Wanderer aus der Schlucht heraustritt, weitet sich der Horizont ins Unendliche; ein Weg führt zur Lischanahütte, ein anderer hinunter nach Mals. Herrliche Ferienwanderzeit, durch keine Uhr und keine drängenden Pflichten belastet! Glücklich strebe ich am Abend dem warmen Licht einer Hütte zu, hungrig und durstig teile ich mit den Älplern und Hirten das einfache Abendbrot, müde lege ich mich ins Heu, schon wieder voller Erwartung auf den nächsten Morgen.

Ein anderes Tal, das ich erwandere, ist das Val Tuoi. Obwohl es bekannter ist, begegne ich auch hier keinem Menschen. Ein Strauch wilder Rosen am Eingang - welche Verheissung mag das sein? Eine Biegung des Weges - und vor mir liegt eine Sumpfwiese, voll gesprenkelt von silbern glänzendem Wollgras. Hier muss ich eine Weile rasten, versunken in den Anblick der im Bergwind leise sich hin- und herbewegenden Halme. Ein Wanderer mit Kamera würde hier knipsen, denke ich; doch von den Bildern, die wir mit Apparaten einfangen, in Alben aufbewahren oder daheim an die Leinwand projizieren, halte ich nicht soviel, wohl aber von jenen Bildern, die sich unserer Seele einprägen, wenn wir mit wachen Sinnen eine Landschaft erleben und jene Schönheiten entdecken, die sich nur offenbaren, wo Auge und Herz offen sind. Ungern verlasse ich diese bezaubernde, im Tau des Morgens schimmernde Wiese und ziehe weiter taleinwärts. Von der Tuoihütte aus ersteige ich den Vermuntpass, über steile Schneefelder einer halbverschneiten Spur folgend. Da — ein SchneehaseSchon ist er verschwunden. Vor mir aber türmt sich der Piz Buin in gigantischer Grosse auf. Das Abenteuer, ihn zu bezwingen, ist verlockend. Vom Vermuntpass aus erschliesst sich dem Bergsteiger die ganze Kette der Silvretta, und unten im Kessel leuchtete der Sil-vrettasee wie ein blaues Auge herauf. Auf den Piz Buin richtet sich wieder mein Blick, die Leidenschaft des Gipfelerklimmens erfasst mich, und da der Hüttenwart bereit ist, mich zu begleiten, ergreife ich die Gelegenheit sogleich. Diese Tour, unter einem strahlend blauen Himmel, setzt den kleinern Besteigungen dieses Sommers die Krone auf. Eine unbeschreiblich weite und klare Sicht belohnt für die Mühen des Aufstiegs, und wie ich abends spät dem Engadin zuwandere, weiss ich, dass auch diese zwei Tage nicht verloren sind.

Spät erreiche ich mein Tusculum. Wo liegt es? Einige hundert Meter über dem Inn, völlig einsam, in unmittelbarer Nachbarschaft von Pisoc und Piz Lischana, den beiden Wahrzeichen von Scuol. In einer Stunde ersteigt man von hier aus den Motta Naluns. Einer der bezauberndsten Wege aber führt von meiner Hütte aus nach dem eine Stunde entfernten Ftan. Noch niemals ist mir auf diesem fast überwachsenen und vergessenen Pfad, der durch blühende und betörend duftende Bergwiesen führt, auch nur ein einziger Wanderer begegnet. Vergessen - trotz aller Schönheit. Meinen Hund halte ich hier an der Leine, denn jedesmal begegne ich ruhenden oder äsenden Rehen. Das Gras der Wiesen ist überreif, die Halme stehen hoch und braun und wiegen sich wunderbar im Wind. Alpendisteln und die Sterne tiefblauer Flockenblumen setzen eindrucksvolle Akzente, leuchtende Margeriten, nachSchokoladeduftende Männertreu und zarte Alpenakelei ergänzen das Bild dieser weiten, durch Lärchen und Heckenro-sensträucher bereicherten Bergwiesen, deren Duft sogar unser Haus erfüllt. Immer wieder muss ich sie durchwandern, am frühen Morgen, bevor die ersten Sonnenstrahlen sie treffen, und in der Abenddämmerung, wenn der Piz Lischana drüben golden in der Abendsonne erstrahlt, während der Inn weit unten im Tal wie ein Silberband heraufleuchtet. Und so wandere ich immerzu, als ob es keinen neuen Sommer mehr gäbe — oder ist es das Wissen um die lange Reihe von trüben Wintertagen, die ich durch möglichst viele und lebendige Bilder eines leuchtenden Bergsommers erhellen und mit Glanz erfüllen möchte?

Das wildeste, am meisten zerklüftete und anstrengendste Seitental aber, das ich erwandere, ist das Val d' Assa. Vom i ioo Meter hoch gelegenen Bett des Inn führt ein schmaler, aber nie unterbrochener steiler Pfad auf ein weites Hochplateau in 2200 Meter Höhe. Also eine ganz anständige Bergtour! Der Eingang des Tales ist nur mit Mühe zu finden und mag wohl nur den Jägern geläufig sein. Entdeckte ich bisher auch im einsamsten Tal einige Sommerhöfe, Maiensässe oder Alpen, so macht das Val d' Assa eine Ausnahme: nur schroffe Felswände, steile Wälder, wilde Wasser, Schutt- und Geröllhalden. Und ab und zu eine Jägerhütte, ab und zu eine Waldlichtung, bewachsen mit hohem Gras, nirgends genutzte Weiden. Hirsche, ungewohnt an menschlichen Besuch, werden durch mein Kommen aufgescheucht; weiter oben fliehen Gemsen, nicht ohne zuvor neugierig nach mir geäugt zu haben. Was hält dieses Tal an Schönheiten verborgen, welche Überraschungen erwarten mich? Die Einsamkeit einer weiten und ungestörten Bergwelt nimmt mich auf. Zackige Felsen und tiefe Schrunde vor meinen Blicken, steile Abgründe zu meinen Füssen, wunderbar und bestürzend zugleich, und ich, ein kleiner, unbedeutender Mensch inmitten der Firne und Grate, so gewinne ich Schritt um Schritt. Wald und Busch lasse ich zurück, der Weg führt oft schmal den Felsen entlang. Wohl Stunden entfernt liegt die nächste Siedlung. Auf Munt Russenna entdecke ich eine grosse Schafherde und nahe dabei eine Schäferhütte. Doch niemand ist da. Inzwischen aber haben schwere, schwarze Wolkengebilde den Tag verfinstert. Ich mache mich rasch an den Abstieg, werde aber schon bald von den ersten grossen Regentropfen überrascht, während Blitze und Donnergrollen ein gehöriges Gewitter anzeigen. Und nun kommt es vom Himmel wie eine Sturzflut. Bereits tropfnass, suche ich Schutz in einer winzigkleinen Jägerhütte, deren Türe von einem menschenfreundlichen Jäger offengelassen worden ist. Ein kleiner Tisch, ein Strohlager, sogar eine Lampe — was braucht man mehr? Durch ein kleines Guckloch beobachte ich das erregende Schauspiel eines Gewitters in Berg und Fels, auf einsamer Höhe. Lieber Jäger, sei mir bitte nicht böse, dass ich den letzten Schluck Schnaps aus Deinem Fläschchen getrunken und aus einem Kaffeepulverrestchen mit Hilfe von Regenwasser und einem Holzfeuer auf dem winzigen Herd ein Getränk gebraut habeUnd während ich nun erlebe, wie die Nacht allmählich von dem kleinen Raum in der grossen Einsamkeit Besitz ergreift, verkriechen sich meine zuvor noch hellen Sommergedanken irgendwohin, und grosse, schwere Träume steigen aus den Tiefen der Seele. Die stille Stunde ist gekommen, wo es umgeht im Wald; überall rispelt und raschelt, knickt und knackt es noch lange, nachdem das Gewitter vorbei ist. Sogar eine harmlose Maus kann mich erschrecken; der Wind im Wald, bei Tag ein lieber Geselle, rauscht unheimlich in dieser Dämmerstunde, die die Nacht heranzieht und den Tag fortscheucht, beide verbindend und zugleich trennend. Ein menschliches Gespräch, menschliche Nähe - erstaunt stelle ich, die Einsamkeitsuchende, dieses Verlangen fest. Auch « mein » Jäger scheint doch die menschliche Gemeinschaft aller Einsamkeit vorzuziehen, denn bevor es völlig dunkel wird und ich mich auf dem Strohlager ausstrecke, lese ich, eingeritzt in den kleinen Tisch:

Ün sulet, nun a ingün dalet!

( Einer allein hat keinen Spass. ) Es gibt viel Seltsames auf der Welt; das Wun-derlichste von allem aber ist doch immer wieder der Mensch! Leben und Treiben führen ihn in die Einsamkeit - und diese bringt ihn wieder zurück in die menschliche Gemeinschaft! Und wie ich anderntags bei der Rückwanderung ins Engadin an einem Ferienlager vorbeikomme, empfinde ich das emsige Treiben, das enge Beieinandersein, Lärmen und Gestikulieren der Lagerleute geradezu als etwas Wohltuendes. Das Leben hat mich wieder - bis zum nächstenmal!

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