Unbekannter Titlis
VON DANIEL BODMER, BERN
Mit einem Bild ( 184 ) « Genüber thronte silberbleich der Titlis in der Lüfte Reich.
Leis schwebt ihn an ein Rosenglimmer, ihn überfliegt ein Freudenschimmer, des Königs blaues Haupt erwacht, zu Lebensröten angefacht. » F. Meyer, « Engelberg » Klingt der Titel nicht paradox? Wer sollte nicht die silbern schimmernde Bergdomkuppel ob dem himmelsnahen Engelberg kennen, sei es als bescheidener Alpenwanderer im Sommer, als winterlicher Skifahrer oder doch zum mindesten als beschaulicher Feriengast vom sichern Port aus? Der Titlis ist doch heute ein Gipfel, der zwar vielleicht nicht gerade eine Schmierseifenbüchse ziert, aber doch zum eisernen Bestand des schulmässigen Wissens um die Berge gehört. Was sollte es hier noch zu entdecken geben? Und doch macht man hin und wieder die Erfahrung, dass auch eine scheinbar zum allgemeinen Rummelplatz zusammengetrampelte Berglandschaft noch intime Winkel bewahren, mit unerwarteten Köstlichkeiten überraschen kann - gewiss für manchen eine tröstliche Feststellung.
Der Kurort liegt noch im tiefen Schlaf, als unser Auto aus dem Halbdämmer in den Engpass zwischen den Häuserzeilen einbiegt. Ein fast unmerkliches Leuchten über der widerzähnigen Silhouette des Spannorts kündigt den neuen Tag an. Vor dem Eienwäldli bleibt unser Gefährt zurück, dessen Rumoren uns bis jetzt am wahren Naturgenuss gehindert hatte. Die Engelberger Aa hält murmelnd mit sich selbst Zwiesprache. Wie ist doch diese tiefe Ruhe vor der ersten Taghelle ein stets neues wundersames Erlebnis! Der Weg führt, zunächst flach, an einigen Hütten vorbei zum Sulzbach, nach dessen Überschreitung er durch den moosig-feuchten Wald sich in steilen Kehren zur Alp Hohfad ( 1439 m ) emporwindet. Nur ungern lassen wir uns von den dunklen Tannen das grossartige Farbenspiel des Sonnenaufgangs « herrlich wie am ersten Tag » rauben.
Je mehr wir uns ihm nähern, um so mächtiger türmt sich das Nordostbollwerk des Titlis in finsterer Bedrohlichkeit vor uns auf. Schräg aufwärts steigen wir über steile Grashänge mit Alpenrosenpolster zur Wurzelzone der Felsen. Fast direkt oberhalb der Alp Bödmen, etwas nördlich von P. 1800, vermitteln zwei Felsstufen den Zugang zu einem steilen Grasband, das sich nach rechts in eine nördlich gewendete Plattenzone zieht. Das taufeuchte, herrlich duftende Gras reicht uns bis an die Knie. Über den Routenverlauf kann hier kein Zweifel bestehen. Dort oben die Scharte am Fusse des senkrechten Felsvorsprungs gilt es vorerst zu erreichen.
Wir verbinden uns zur Zweierpartie, wohlbewusst des fragwürdigen Werts eines Seils in diesem Gelände. Und doch geht jeder konzentrierter und sicherer, wenn er die Verantwortung für eine ganze Seilschaft trägt. Prächtig haften die Gummisohlen auf den anfänglich nicht zu steilen Platten, wobei wir das gefährliche Rollmaterial, den ausgewaschenen Wasserrinnen folgend, tunlich vermeiden. Beinahe auf der Höhe der Scharte sind wir schon, aber von ihr trennt uns eine glatte, exponierte Stelle. Feinste Unebenheiten zwingen beim Quergang zu sauberer Adhäsionsarbeit. Ein kurzer Sprung, und ich stehe in einer Geröllnische am Fusse eines Kamins, das zur Scharte leitet. Hier möchten wir lieber nicht von einem Gewitter überrascht werden, das diese Platten im Nu fast unbegehbar machen und uns den Rückweg abschneiden würde.
Prall schlägt uns die schon kräftige Frühsonne ins Gesicht, als wir auf die Ostseite wechseln. Ein weitläufiges, abschüssiges System von Platten, Stufen und Rinnen mit Gerölleinlagen breitet sich vor uns aus. Wo geht 's hier wohl weiter? Nach etwas Abstieg lädt uns ein offener, gutartig gegliederter Einschnitt zur Begehung ein. Solche « offene Türen » stimmen uns aber immer skeptisch, und so braucht es nicht viel, dass uns die Rinne oben auswegslos vorkommt. Max schlägt nach der Rückkehr zum Ausgangspunkt eine Fortsetzung der Traverse nach Osten vor, wozu sich leicht abfallende Bänder ohne weiteres hergeben. Sie leiten aber nur an den Rand des gewaltigen Absturzes zum Firnälpli. Von dieser erfolglosen Erkundungsfahrt ebenfalls zurück, verbeisst sich mein Kamerad an einer anfänglich freundlichen Sekundärrippe in unmittelbarer Nähe des Hauptgrates, wo er aber bald auf grössten Widerstand stösst. Zum drittenmal abgeblitzt, stehen wir einen Moment entmutigt und ratlos in diesem hellgrauen Felslabyrinth, vom Widerstrahl der Sonne geblendet. Schliesslich - « On revient toujours à ses premiers amours » - kehren wir zu unserer ersten Rinne zurück und stossen bis zu einer Nische unter praller Wand vor. Jetzt erst gewahren wir ein geschlif-fenes, geneigtes Band, das als eine Art « Vire aux byciclettes » zum Nordostgrat hinüberführt. Aber wie komme ich über diesen ausgebauchten Wulst hinauf? Nach kurzem Suchen entdecken wir einen alten Haken, der sich nach gebührender Prüfung als brauchbar erweist. Die ersten sind wir also hier nicht. Derart gesichert, hisse ich mich mit baumelnden Beinen auf das Band. Die an seinem Ende ansetzende Sekundärrippe unterscheidet sich von ihrer tiefergelegenen Schwester in erfreulicher Weise und lässt uns leicht zum Hauptgrat vordringen.
Fast unmerklich sind bei dieser Beschäftigung mit dem Berg, der uns unerwartet hier seinen Trotzkopf gezeigt hatte, sieben Stunden seit unserem Abmarsch verflossen, wobei allerdings einige Zeit auf das Konto unserer Verhauer geht. Nach dieser Etappe haben wir eine Rast verdient, nach der auch unser klebriger Gaumen und hungriger Magen verlangt. Gerne überlassen wir uns dem Anblick von unserer luftigen Warte auf das liebliche Engelberger Hochtal. Der Felsgrat scheint sich in leichten Platten und Absätzen allmählich zurückzulegen, bis wir plötzlich in einer Scharte, vor einer 25 m hohen, senkrechten Wand stehen, die sich als prächtig gestuft entpuppt und uns zu P. 2712 bringt. Der gleissende Firn rückt näher. Noch sehen und hören wir nichts von den zweifellos grossen Scharen, die das Greisenhaupt unseres Berges bevölkern.
Nach diesem Kletterfinale verliert der Weiterweg an Reiz. Schiefriger Schutt klimpert tönern unter unserm Tritt. Gerne vertauscht man diese unstabile Unterlage mit den immer grösser werdenden gut gefrorenen Schneeflecken. Wir halten uns auf der Westseite des Grates, der hier eine erste Firnkuppe bildet ( 2961 m ). Jenseits gewinnen wir Einblick in die mächtige Eiskalotte des Gipfels, die sich hier oberhalb einer tiefen, schauerlichen Schlucht sichelartig in die Ostwand einbuchtet.
Wir verschmähen es, hier nach rechts ( W ) in die Normalroute einzuschwenken, und greifen die im schönsten weissen Firnkleid prangende Kuppe direkt an. Doch als wir mitten im Steilhang kleben, schimmert, nur von einer dünnen Kruste verbrämt, das Blankeis heimtückisch hervor. Nun gilt es also, kurz vor dem Ziel noch zum Pickel zu greifen, der, bisher nur fürsorglich im Rucksack mitgereist, ein beschauliches Dasein führte. Kamerad Max legt in halbstündiger Arbeit eine hübsche Treppe an. Elf Stunden nach dem Verlassen der Talsohle stehen wir beim Gipfelsignal, in das Max kürzlich seinen 50sten Besuch eintragen konnte.
Selten haben wir uns auf diesem Gipfel so zu Hause gefühlt wie heute. Jeder Blick im Umkreis weckt Erinnerungen. Die Abfahrt mit Sommerski vom Grassen, jener Taschenausgabe des Titlis, die Gratwanderung über den langen Kamm des Reissend Nollen im Westen und die Engelberger Kalkgipfel vom Ruchstock bis zum Rigidalstock. Auch im Süden und in der Ferne grüssen überall alte Bekannte.
Angesichts der breiten Trampelspur Richtung Trübsee scheint es kaum fassbar, dass wir uns im Schneesturm hier einst verlieren konnten und nur mit Mühe den Durchschlupf zwischen den Rotegg-felsen fanden. Heute ist der Abstieg eine genussreiche Entspannung und erlaubt uns, so richtig im Anblick dieser trotz Massentourismus jung gebliebenen Landschaftsschönheit aus Firn, Wasser und Mattengrün zu schwelgen. Während die Kurgäste beim Hotel schlangenweise und stundenlang auf die Verfrachtung ins Tal warten, eilen wir beglückt das Zickzackweglein durch die Pfaffenwand nach Engelberg hinab und sind auch hier wieder - allein. Als wir beim Eienwäldli den Ring geschlossen haben, danken wir Vater Hermann Hess, der heute vor fast genau 40 Jahren diese originelle Route eingeweiht und ihr seinen Namen gegeben hat. Sie erlaubt es dem auf urwüchsige Natur erpichten Bergsteiger, unbehelligt vom Menschentrubel auch einem Allerweltsberg wie dem Titlis noch Köstliches abzugewinnen.