© Jürg Meyer
Umwerfende geologische Rundsicht Rätschenhorn (2703 m)
Ein Berg aus hellem Kalkgestein – wie ein versteinerter Gletscher – bietet spektakulärste Ausblicke auf die offen gelegte Tektonik des Prättigaus. Vom Gipfel lassen sich fünf Gesteinsdecken bestaunen.
Die Besteigung der Rätschenflue zwischen Klosters und St. Antönien belohnt mit einem aussergewöhnlichen geologischen Ausblick. Am besten unternimmt man die Tour bei guter Fernsicht. Hier ist der alpine Deckenbau fast noch eindrücklicher erlebbar als im Weltnaturerbe Tektonikarena Sardona (siehe «Die Alpen» 03/2021). Nicht nur zwei, sondern gleich fünf übereinanderliegende Decken sind zu sehen. Die Rätschenflue selbst liegt in der Sulzfluh-Decke, die aus dem fast weissen, verkarsteten Kalkstein der Oberjurazeit aufgebaut ist. Beim Aufstieg zum Gipfel balanciert man über die Karren im Gestein. Das helle Band der Sulzfluh-Decke lässt sich gut nach Norden und dann weiter nach Westen verfolgen, bis zur namensgebenden Sulzfluh und zur Drusenfluh (siehe Foto). Die dahinter sichtbaren Gipfel von Schesaplana bis Zimba gehören schon zur nächsthöheren Decke aus Kalk- und Dolomitgesteinen, der Lechtal-Decke. Die Kalksteinschichten der Rätschenflue tauchen gegen Südosten nach Klosters ab – um auf der anderen Talseite an der Weissfluh wieder sichtbar zu werden.
Beim Blick nach Osten erkennt man, dass die Kalksteine unter grasbedeckten schiefrigen Gesteinen verschwinden und darüber die dunklen, ruppigen Felsen der Madrisa folgen (siehe Foto). Die Schiefergesteine stammen aus dem Piemont-Ozean, der früher zwischen dem europäischen und dem adriatisch-afrikanischen Kontinent gelegen hat. Sie gehören zur Aroser Decke. Der Gipfel der Madrisa selbst besteht aus Kristallingesteinen des Kontinents Adria-Afrika, der sich südlich des Piemont-Ozeans erstreckt hat. Am Fuss der Madrisa konnte man also sozusagen von der Küste von Adria-Afrika in den Piemont-Ozean hineinköpfeln (siehe Foto). Die Gesteine der Madrisa setzen sich fort bis in die Silvrettagruppe und weiter bis ins Engadin. Sie gehören zur riesigen Silvretta-Decke. Alle diese Gesteinspakete wurden bei der Alpenbildung als Decken übereinandergeschoben. Eine Zone mit einer Ausdehnung von ursprünglich rund 500 Kilometern wurde dabei auf wenige Kilometer verkürzt.
Geomorphologische Leckerbissen
Und die fünfte Decke? Diese besteht wiederum aus weichen, schiefrigen, grasbedeckten Gesteinen, die unter dem hellen Band der Sulzfluh-Decke liegen. Sie reicht hinunter bis nach St. Antönien und weiter ins ganze Prättigau hinaus – die Prättigau-Decke.
Macht man die Tour als Überschreitung via Rätschenjoch mit einem abenteuerlichen Abstieg durchs Nordcouloir beim Sattel vor dem Saaser Calanda (T5!), kann man alle Gesteine der unteren vier Decken antreffen und bestimmen. Dazu kommen geomorphologische Leckerbissen, etwa im Kessel der Aschariner Alp: grosse Schutthalden, ein junger Bergsturz, aktive, inaktive und fossile Blockgletscher sowie multiple spätglaziale Moränenzüge.