«Umkehren ist die wichtigste Fähigkeit beim Bergsteigen»
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«Umkehren ist die wichtigste Fähigkeit beim Bergsteigen» Der unbeliebte Entscheid

Den Rückweg schon vor dem Gipfelgruss anzutreten, ist eine hohe Kunst. Es gilt, auf das Bauchgefühl zu hören und sich bereits vor der Tour mit einem möglichen Abbruch zu befassen. Das erleichtert den Entscheid und hilft, mit Frust umzugehen. Bergführer, Tourenleiter, Profialpinisten und der Autor sprechen über ihre Erfahrungen.

«Muesch ned omchehre wäge mer, gang nor wiiter! Ich warte oder go elei zrugg!» Mit dieser oder ähnlichen Aufforderungen war ich vor rund20 Jahren auf Bergtouren mit meiner ein paar Jahre jüngeren Freundin und heutigen Ehefrau immer wieder konfrontiert. Sie wollte mir nicht in der Gipfelsonne stehen. Ich bin kein einziges Mal alleine weitergegangen. Warum sollte ich? Obwohl ich gerne an meine Grenzen gehe, ist mir Leistungsdenken privat fremd. Die damalige schöne Geste meiner Frau verstehe ich heute zunehmend besser. Denn der Tag ist nicht mehr fern, wo ich, der ein paar Jahre Ältere, wohl sagen werde: «Muesch ned omchehre wäge mer!»

Evelyne Binsack, Profibergsteigerin
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Umkehren, wenn andere weitergehen, ist in jeden Fall besonders schwierig und mitunter Charaktersache.
Evelyne Binsack, Profibergsteigerin

Auch Profis müssen mal umkehren

​Die längste Tour, die der Walliser Bergführer Yann Dupertuis aus Randa gemacht hat, war mit einer Japanerin und führte auf die Dent Blanche. «Wir waren 24 Stunden unterwegs. Heute würde ich die Tour spätestens nach 8 Stunden abbrechen», erzählt er dem Magazin LandLiebe. Er habe fälschlicherweise geglaubt, die Frau würde sich erholen. «Es war ein Anfängerfehler.» Seine Frau musste ihn und seinen Gast tags darauf um zwei Uhr morgens in einem anderen Tal mit dem Auto abholen.

Evelyne Binsack, Abenteurerin mit Everest-Gipfel-Erfahrung, erinnert sich an die Tour auf den Fitz Roy in Südamerika im Jahr 1998. Beim zweiten Versuch, den Gipfel zu besteigen, vernahm sie beim Einstieg in die Route Franco Argentina eine innere Stimme, die ihr sagte, sie würde nicht lebendig zurückkehren. «Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich so etwas hörte», erzählt sie heute. Unter Tränen sei sie umgekehrt, und sie sei heute dankbar für ihren Entscheid. Umkehren, wenn andere weitergehen, sei in jedem Fall besonders schwierig und mitunter Charaktersache, so Evelyne Binsack.

Yann Dupertuis, Bergführer
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Wir waren 24 Stunden unterwegs. Heute würde ich die Tour spätestens nach 8 Stunden abbrechen.
Yann Dupertuis, Bergführer

«Helden gibt es nicht»

Ob man privat mit der Partnerin, als Tourenleiter mit einer ganzen Gruppe, beruflich mit Gästen oder als Profialpinist unterwegs ist, spielt eine Rolle. Für den Urner Extremalpinisten Dani Arnold steht aber grundsätzlich fest: «Im Zweifelsfall mit einem schlechten Gefühl am Berg weitermachen, das ist nie intelligent.» Aber wann gilt es, Durchhaltewillen und Leidensfähigkeit zu zeigen und sich fernab der Komfortzone zu beweisen? Und wann ist es Zeit umzukehren? Und wie kann man vorher mit der Möglichkeit des Scheiterns und nachher mit der verpassten Chance und dem Frust sinnvoll umgehen?

«Es ist wichtig, schon bei der Planung die Umkehr ohne Erfolg miteinzubeziehen. Wenn das offen ausgesprochen ist, dann ist eine Rückkehr, ohne das Ziel erreicht zu haben, weder Misserfolg noch Niederlage», sagt Dani Arnold. Das töne zwar selbstverständlich, sei es aber nicht, denn unsere Gesellschaft könne mit Niederlagen nur schlecht umgehen. «Unerreichte Ziele stören das Bild vom unfehlbaren Helden, den es aber sowieso nur in der Fantasie gibt», sagt der Profialpinist. Das Nichterreichen eines Ziels werde von Aussenstehenden – und damit unter Umständen auch von Direktbetroffenen – zuerst als Niederlage bewertet. Entscheidend könne die Kommunikation sein. So sei ein Fehlversuch im Nachhinein nicht das Gleiche, wenn man vorher statt «Ich mache das» «Ich versuche das» gesagt habe.

Auch er mache immer wieder Fehler und habe Misserfolge zu verdauen, sagt Dani Arnold. «Ich analysiere sie, lerne daraus und erarbeite mir die richtige Einstellung dazu, auch um mich von Druck zu befreien.» Dieser Weg sei jedem offen. «Wenn ich ehrlich über mein Umkehren spreche, fällt es vielleicht auch anderen Bergsteigern leichter, im Zweifelsfall umzukehren.»

Dani Arnold, Profibergsteiger
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Wenn ich ehrlich über mein Umkehren spreche, fällt es vielleicht auch anderen Bergsteigern leichter, im Zweifelsfall umzukehren.
Dani Arnold, Profibergsteiger

Entscheiden für die ganze Gruppe

Der Bezirksschullehrer Günter Feiger ist Tourenchef der SAC-Sektion Zofingen und Wintertourenleiter. «Bergsteigen und Skitouren sind kein Wettkampf, also gibt es dabei auch keine Niederlage», sagt er. Doch er weiss, dass diese wohlüberlegte Haltung nur die halbe Wahrheit ist. Denn der Abbruch einer Tour kann heftig wurmen, und für Mitglieder einer Tourengruppe ist er nicht selten mit grosser Enttäuschung verbunden. Nicht zuletzt deshalb sei es als Tourenleiter besonders schwierig, in nicht ganz eindeutigen Situationen für die ganze Gruppe verantwortungsvoll zu entscheiden. «Weil man nicht nur für sich Verantwortung trägt, steht ein Umkehrentscheid auch einmal früher fest, als wenn man alleine unterwegs wäre. Das birgt ebenfalls Zündstoff.»

Dennoch komme es auf Sektionstouren selten vor, dass der Entscheid, vor dem Gipfel umzukehren, nicht von allen Gruppenmitgliedern mitgetragen werde. «Weil man sich kennt und weiterhin gemeinsam unterwegs sein möchte, werden solche Tourenleiterentscheide in der Regel stillschweigend akzeptiert», sagt Günter Feiger. Am schwierigsten seien für alle Beteiligten Entscheidungen, die wegen Überforderung eines oder mehrerer Gruppenmitglieder getroffen werden müssten.

Um dem Frust über eine abgebrochene Tour vorzubeugen, hat der Zofinger Tourenleiter ein Rezept: «Ich bin am liebsten gut vorbereitet auf einer sicheren Route mit möglichen Alternativen und Notfallszenarien im Kopf unterwegs. Deshalb ist eine Tour, die ich leite, für mich strenger, als wenn ich alleine oder als Gast unterwegs bin.» Grundsätzlich möchte er dem Thema Umkehren aber die Schärfe nehmen: «Umkehren ist für mich einfach eine Planänderung.» Da sei das Bergsteigen, wie bei anderen Fragen manchmal auch, in gewissem Sinne eine verdichtete Lebensschule: Auch sonst im Leben lägen Veränderungen manchmal schon eine Weile in der Luft, aber wir hätten Mühe, sie anzupacken.

Umkehren ist auch kurz vor dem Gipfel eine Option

Ähnliche Erfahrungen macht Rolf Bleiker. Der versierte Tourenleiter der Zürcher SAC-Sektion Uto kann auf über 42 Jahre Erfahrung zurückgreifen. Trotzdem verlässt er sich insbesondere im Winter nicht nur auf sein Gefühl. Er sammelt regelmässig Schneeprofile, um im Zweifelsfall handfeste Fakten zu haben. Grundsätzlich gelte auf seinen Touren aber jederzeit: «Umkehren ist auch ganz kurz vor dem Gipfel eine Option.» Selbstverständlich ist für ihn auch, dass sich eine Gruppe unterwegs im Normalfall am schwächsten Mitglied orientiere. Rolf Bleiker hat es bei weit über 500 geleiteten Touren bisher nur einmal erlebt, dass Gruppenmitglieder einen Umkehrentscheid nicht akzeptieren wollten. Als Ultima Ratio habe er von den Renitenten per Unterschrift die bedingungslose Übernahme der Eigenverantwortung verlangt. «So sind die Angesprochenen zur Vernunft gekommen», sagt er.

Tommy Dätwyler, Autor
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Wann gilt es, Durchhaltewillen und Leidensfähigkeit zu zeigen und sich fernab der Komfortzone zu beweisen? Und wann ist es Zeit umzukehren?
Tommy Dätwyler, Autor

«Hört auf den Bauch»

«Umkehren ist die wichtigste Fähigkeit beim Bergsteigen.» Das sagt der Berner Expeditionsbergführer Kari Kobler. Dabei spiele der Charakter eines Menschen eine Rolle, aber auch auf das Bauchgefühl komme es an. Dieses Bauchgefühl habe ihm mehr als einmal das Leben gerettet. «Die Angst wohnt im Bauch, der Respekt im Kopf», sagt Kari Kobler, der sechsmal gesund vom Gipfel des Mount Everest zurückgekommen ist. Einmal sei er auf dem Weg dorthin – schweren Herzens – wegen des Bauchgefühls umgekehrt. «Hört auf den Bauch – und teilt seine Botschaft mit euren Bergfreunden», sagt der erfahrenste Höhenbergsteiger der Schweiz. Nur so werde das Gefühl benannt.

Kari Kobler weiss, wovon er spricht. Vor einigen Jahren versuchte er die Besteigung des Kun in Indien. Nahe am Gipfel habe er ein grosses Unbehagen verspürt, das Streben nach Gipfelglück und Expeditionserfolg sei aber stärker gewesen. «Es hätte gut kommen können, ist es aber nicht.» Ein Schneebrett hat zwei Sherpas in den Tod gerissen. «Es war mein grösster Fehler als Bergführer und einer, der mich verändert hat. Ich gehe nie mehr auf einen Berg, wenn es mein Bauch nicht zulässt», sagt Kari Kobler. So war es auch am K2. Die Angst habe ihm und zwei Freunden das Leben gerettet, wohl weil sie offen und ehrlich über das ungute Gefühl im Bauch gesprochen hätten. «Das Wetter war bestens, aber ich konnte plötzlich keinen Schritt mehr tun», erzählt er, «wir sind umgekehrt und wurden Zeugen eines tödlichen Unfalls weiter oben in der Gipfelregion.»

Kari Kobler, Expeditionsleiter
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Ich gehe nie mehr auf einen Berg, wenn es mein Bauch nicht zulässt.
Kari Kobler, Expeditionsleiter

Kari Kobler weiss, wovon er spricht. Vor einigen Jahren versuchte er die Besteigung des Kun in Indien. Nahe am Gipfel habe er ein grosses Unbehagen verspürt, das Streben nach Gipfelglück und Expeditionserfolg sei aber stärker gewesen. «Es hätte gut kommen können, ist es aber nicht.» Ein Schneebrett hat zwei Sherpas in den Tod gerissen. «Es war mein grösster Fehler als Bergführer und einer, der mich verändert hat. Ich gehe nie mehr auf einen Berg, wenn es mein Bauch nicht zulässt», sagt Kari Kobler. So war es auch am K2. Die Angst habe ihm und zwei Freunden das Leben gerettet, wohl weil sie offen und ehrlich über das ungute Gefühl im Bauch gesprochen hätten. «Das Wetter war bestens, aber ich konnte plötzlich keinen Schritt mehr tun», erzählt er, «wir sind umgekehrt und wurden Zeugen eines tödlichen Unfalls weiter oben in der Gipfelregion.»

Wann ist es besser, auf der Tour umzukehren?

Ausrüstung nicht komplett: Fehlen das LVS oder die Steigfelle, ist die Tour sofort zu Ende.

Schlechtwettereinbruch: Rechtzeitig umkehren, auch bei schlechten Sichtverhältnissen.

Lawinengefahr: Im Gelände laufend überprüfen und sich bewusst fürs Weitergehen oder Umkehren entscheiden.

Zeitplan: Umkehrzeit vorgängig festlegen, vor allem wegen der tageszeitlichen Erwärmung wichtig.

Überforderung: Sind nicht alle den technischen und konditionellen Anforderungen gewachsen, muss umgekehrt werden.

Bauchgefühl: Ein schlechtes Gefühl immer ernst nehmen.

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