Tupilak-Nordwand 2004. «Lektionen in Demut»
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Tupilak-Nordwand 2004. «Lektionen in Demut»

Tupilak-Nordwand 2004

Im August 2004 realisiert Urs Odermatt seinen Traum: Er durchsteigt mit seinen Freunden Klaus Fengler und Günter Wojta als Erster die Tupilak-Nordwand in Grönland. Eine Erstbegehung im Rahmen einer 37 Stunden dauernden Parforceleistung ohne Biwak.

Vor langer Zeit führte ich ein kleines Ab-bruchunternehmen, um mein bescheidenes Einkommen als Bergführer aufzubessern. Wir rissen alles ein und nieder, von der Lagerhalle bis zur kleinen Keller-mauer. Dabei fiel mir eine SAC-Club-zeitschrift 1 aus dem Jahr 1964 in die Hände mit der Tupilak-Nordwand und dem Titel « Bergsteigen zwischen Meer und Innlandeis im Grönland ». Was für ein Berg! Ich steckte sie ein und ging meinen Weg weiter.

Ziel Tupilak-Nordwand

Zehn Jahre später fällt mir das Heft wieder in die Hände. Wir sind daran, eine Expedition zu planen. Warum nicht Grönland? Politisch stabil und ohne Ak-Im Anmarsch zum Abenteuer Tupilak-Nordwand klimatisationsschwierigkeiten. Wir hören uns unter Kennern um. Die Tipps tönen nicht gerade ermutigend, weder von Stefan Glowacz noch von Al Powell, den absoluten Experten für Ostgrönland. Die eigentliche Wand wurde trotz zahlreicher Versuche noch nie durchstiegen. Unter anderem sicher auch wegen des Wetters, das an der Ostküste wesentlich rauer ist als auf der Westseite, wo bisher am meisten geklettert wurde. Zudem kommen auf 3000 km Küstenlänge gerade mal 3000 Einwohner. Bei der Expe-ditionsplanung stand Madagaskar zur Wahl als Alternative. Da möge noch jemand den Entscheid verstehen.

Im grönländischen Schweizerland

Und nun sind wir zu viert im Basecamp, auf dem 16.. " " .September-Gletscher. Walter und Urs Odermatt, Günter Wojta und Klaus Fengler. Keiner der vier Abenteurer hat eine Ahnung, worauf er sich eingelassen hat. Vor sieben Tagen sassen wir im kleinen Motorboot eines einheimischen Jägers, suchten einen Weg durchs Treibeis – und wünschten uns einen Eisbrecher statt dieser Nussschale.. " " .Vermutlich waren wir die ersten Bergsteiger, die den Zustieg zur grönländischen Region « Schweizerland » 2 von dieser Seite her versuchten. Nach fünf Tagen Plackerei mit unseren Materialsäcken erreichten wir das Basecamp rund 5 km von der Tupilakwand entfernt. Und gestern haben wir sie uns das erste Mal genauer angeschaut. Diese Wand ist höher, kälter, steiler, brüchiger und nässer, als ich es mir je hätte ausmalen können. Hier einen Freikletter-Bigwall durchziehen? Unmöglich. Und was meint der vernünftige Klaus mit seiner grossen Expeditionserfahrung dazu? « In 30- bis 40-stündiger Non-Stop-Kletterei vom Basecamp zum Gipfel und wieder zurück. » Nichts von Ironie, er meint es ernst! Und da wird auch mir klar, dass er Recht hat. So sitze ich im Camp auf dem gepackten Rucksack und warte voller Angst auf besseres Wetter.

Optimistische Zeitpläne

Der Wecker klingelt. Mitternacht. Es ist bewölkt. Egal, das Wetter wechselt hier ohnehin schnell. Um ein Uhr starten wir. Wegen der Wolken ist der Schnee auf dem Eis nicht gefroren. Zwei Spaltenstürze in der ersten halben Stunde. Ich fluche. Nach zweieinhalb Stunden erreichen wir endlich den Wandfuss. Einsamkeit pur. Ein letzter Blick in den Feldstecher. Noch immer keine Ahnung, wie wir den senkrechten glatten Abschnitt im ersten Drittel überwinden sollen. Um fünf Uhr klettere ich über den Bergschrund. Die ersten zwei Seillängen im Eis lassen sich zügig bewältigen. Danach wird die Wand felsig und kompakt. Ich finde einen alten Haken. Vermutlich stammt er von einem früheren Versuch eines englischen Teams. Durch brüchige Risse klettere ich weiter. Obwohl das Gelände anhaltend den V. und VI. Schwierigkeitsgrad verlangt, kommen wir gut voran – Zeit ist entscheidend in einer 1000 m hohen Wand. Biwakmaterial haben wir nicht dabei. Da wir uns direkt am Polarkreis befinden, ist es nur etwa während vier Stunden dunkel. Nach unserem Zeitplan müssten wir um 14 Uhr auf dem Gipfel stehen.

1 Vgl. DIE ALPEN, Quartalshefte XL–1964, S. 111–121, « Bergsteigen zwischen Meer und Innlandeis in Grönland », zur schweizerisch-deutschen Grönlandexpedition 1963 2 « Schweizerland » ist ein Massiv in Ostgrönland, vgl. auch Kasten Das Basecamp auf dem 16.. " " .September-Gletscher Die Tupilak-Nordwand in Ostgrönland Fotos: Klaus Fengler Tupilak-Nordwand Die Tupilak-Nordwand, 1000 m, liegt in Ostgrönland im sog. Schweizerland. Sie ist doppelt so hoch wie die schon öfter begangene Südwand, die Al Powell bereits auf einer kombinierten Route weiter östlich zum Sattel zwischen den beiden Tupilak-Gipfeln durchstiegen hatte. Die neue Route « Lektionen in Demut », VI 3 M6b, 1150 m, führt auf « Tobias'Shoulder », einen bisher unbestiegenen Vorgipfel. Erstbegehung 17./18. August 2004 durch Urs Odermatt, Klaus Fengler und Günter Wojta

20 Stunden Aufstieg

Wie haben wir uns getäuscht! Es ist nicht 14 Uhr, als wir, Klaus, Günter und ich, auf dem Vorgipfel stehen, den wir zu Ehren unseres Bootsführers « Tobias'Shoul-der » nennen. Nein, es ist 21.30 Uhr. Wir sind todmüde, die 40 m Höhenunterschied bis zum Hauptgipfel sind uns egal. Ob die Tupilaks, jene bösen Geister in der Mythologie der Inuit, darüber frohlocken? Aber wir haben die 1000 m hohe Tupilak-Nordwand durchstiegen. Erstaunlich rasch hatten wir den glatten Wandteil im ersten Drittel erreicht. Dann wurde die Wand schwieriger als erwartet. Und vor allem viel länger. Schlimm, der brüchige Fels. Einer der losgetretenen Steine beschädigte das Seil so stark, dass es mit einem Knoten repariert werden musste. Und dann die Nässe. Das Wasser lief nur so herunter, die Ärmel trieften. Schwierig auch zu entscheiden, ob man besser mit Steigeisen oder Kletterschuhen klettern sollte, denn immer wieder gab es Stellen im VI. Schwierigkeitsgrad. Einmal mehr mussten wir wie viele andere Expedi-tionskletterer erfahren, dass der obere Wandteil in Wirklichkeit viel länger ist als der untere. Und immer wieder die Frage nach dem verflixten Eisfeld. Als wir es dann erreichten, stellte es sich als dreimal länger heraus als angenommen, 100 m statt der geschätzten 30 m, dazu 50 bis 60° steiles Wassereis. Am Ende des Eisfeldes erneute Enttäuschung: anstelle eines Grates 70 m senkrechter Fels zum Vorgipfel. Fels, der noch sandiger, brüchiger war als bisher. Zweifel stiegen hoch, auch Angst, dazu die Müdigkeit. Aber so nahe am Ziel aufgeben, kam nicht in Frage. Noch war alles unter Kontrolle. Sicherungen legte ich alle fünf bis zehn Meter, denn stürzen wäre fatal gewesen. Mit dem gestreckten 70-m-Seil hatte ich als erster Mensch den Vorgipfel erreicht. 20 Stunden waren wir unterwegs bis auf 2245 m Höhe.

Tücken des Abstiegs

Um 22 Uhr beginnen wir mit dem Abseilen. Ich gehe voraus, schlage alle 70 m zwei Haken, um daran weiter abzuseilen. In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Mit der Stirnlampe suche ich meinen Weg. Die Seile sind völlig kaputt. An zwei Stellen mit Knoten zusammenge-flickt. Wir kommen nur langsam voran. Steinschlag ist ein Problem. Alle kämpfen gegen den Schlaf. Als es wieder hell wird, sind wir noch immer am Abseilen. Zweimal verklemmt sich das Seil, und ich muss ungesichert wieder hochklettern, um es zu lösen. Nach zehn Stunden Abseilen erreichen wir die unteren Eisfelder. Hier verklemmt sich das Seil derart, dass wir es mit dem Messer durchschneiden müssen. Es bleibt uns genau so viel übrig, wie wir benötigen, um über den Bergschrund abzuseilen. Unten wartet schon Walter, der uns beobachtet hat. Durch nassen Schnee und zwischen Spalten durch geht es in weiteren drei Stunden zurück ins Basecamp. Insgesamt sind wir 37 Stunden unterwegs gewesen. Am Nachmittag vier Stunden Mittagsschlaf, dann Nachtessen. Um 21 Uhr falle ich in tiefen, traumlosen Schlaf. Meinen Traum in Form unserer Route « Lektionen in Demut » habe ich soeben gelebt. a Urs Odermatt, Uster Fotos: Klaus Fengler Urs Odermatt in der Route « Lektionen in Demut » durch die Tupilak-Nordwand Urs Odermatt und Günter Wojta auf dem Vorgipfel « Tobias'Shoulder » beim Vorbereiten des nächtlichen Abseilens

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