Tundrazauber
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Tundrazauber

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

AUF DEM ALTEN SAUMPFAD VON KAUTOKEINO NACH KARESUANDO VON ERWIN JUD, ERLENBACH ZH Mit 5 Bildern ( 103-107 ) und 1 Kartenskizze Kautokeino « Die Mücken werden euch fressen, » wendet der Postmeister ein. Er ist Lappe und weiss es bestimmt.

« Wir nehmen Öl mit, und zudem haben wir uns bereits an eure Mücken gewöhnt », suchen wir ihn zu beruhigen. Der Nachsatz stammt von Rolf, ich selber stehe in ständiger Fehde mit den tanzenden Biestern, ernte jedoch mit meinem wilden Getue höchstens ein verständnisloses Kopfschütteln.

Seit einigen Tagen haben wir unser Zelt in Kautokeino aufgeschlagen, einem Ort im Hinterland von Finnmarken, der fast ausschliesslich von Lappen bewohnt wird. Man stelle sich darunter jedoch nicht etwa ein malerisches Lappenlager aus Koten und Rentieren vor. Kautokeino besteht vielmehr aus weitverstreuten, einförmigen Häusern, zumeist aus Holz, aber alle neueren Datums. Eine Kirche, ein Spital, ein Flugplatz und ein Schulhaus in der Bauart, die auch in der Schweiz modern genannt wird. Der Krieg hat hier, wie überall in Finnmarken, ganze Arbeit geleistet.

Wir wollen hinüber nach Schweden, nach Karesuando. Der Postmeister meint, dass die Entfernung etwa 55 Meilen ( 90 km ) betrage. Knapp die Hälfte davon führt über finnisches Gebiet, wovon hier beim besten Willen keine Karte aufzutreiben ist Immerhin sei der alte Saumpfad meistens sichtbar, sagt man uns.

Gegen zehn Uhr abends brechen wir auf. Jetzt, im Juli, bleibt die Sonne auch nachts über dem Horizont. Ihre Strahlen aber streifen das Land nur noch flach, die Luft wird kühler über der Tundra, und wenn man etwas Glück hat, trägt ein unerwarteter Windstoss die Mückenschwärme mit sich fort.

Niedriger, dichter Birkenwald nimmt uns auf. Rinnsale, Gewässer, ab und zu ein Bach; Rolf wählt den kleinsten, bis zur Hüfte hängt er im Wasser und klammert sich an Zweigen fest, um sich nicht ganz hinzusetzen. Bis er herausgearbeitet ist, habe auch ich die Stiefel voll.

Der Rucksack wenigstens ist trocken geblieben. An Kleidern enthält er zwar nur wenig, die wochenlangen Fahrten durch Lappland und Finnmarken haben uns gelehrt, wie bescheiden das Nötigste sein kann. Aber die Lebensmittel wiegen schwer, denn unterwegs wird kaum etwas Essbares aufzutreiben sein, abgesehen natürlich von den Fischen, die wir zu fangen hoffen. Und dann das Zelt, die Schlafsäcke, je eine russige Pfanne und ein Buch. Wir wollen Zeit haben.

Der Weg ist gut sichtbar, offenbar von einem Traktor gebahnt, immer hält er sich in der Nähe des Kautokeinoftusses. Am frühen Morgen schwenkt die Spur unvermittelt zum Ufer hinab, mündet ins Wasser, just gegenüber dem Gehöft von Galanito. Der Fluss geht hoch, das regnerische Wetter der letzten Wochen hat ihn anschwellen lassen; wir können unmöglich hinüberwaten. Wir suchen dem Ufer entlang, aufwärts, abwärts, entdecken endlich ein Boot, drüben bei den Häusern allerdings, und wir beschliessen, unser Zelt auf der kahlen Anhöhe über dem Fluss gut sichtbar aufzustellen.

Galanito Sonntag, strahlende Sonne. Unser « Kunstgriff » hat gewirkt: ein Boot nähert sich, und die Leute, Lappen, wie wir jetzt sehen, steigen zu uns herauf, um das fremde Zelt zu besehen. « Gewiss könnt ihr mit uns hinüberfahren, » sagen sie. Wir trinken Kaffee, wie immer hier im Norden, und erkundi-'üe'bersichtskarte 12°

_._....^ landesgrenzen — Saumpfad Massstab 1: 1'000'000 gen uns nebenbei nach dem Weg und nach den Fischen. Rolf notiert sich gewissenhaft, wo Forellen, wo Barsche und wo Hechte zu finden sind.

Sonntag, wir gleiten im schmalen Boot mühelos durch die grünen, träumerisch-verwachsenen Buchten, Zweige hängen herab, Schilf, eine Insel - wir haben Glück.

Die Leute heissen uns eintreten, « Fjiellstue » steht stolz über der Tür, « Berghütte ». Merkwürdig genug, wenn man bedenkt, dass Galanito nur etwas mehr als 300 Meter über Meer liegt. Die Tafel bedeutet aber, dass hier übernachtet werden kann. Die Frau bringt uns einen Krug mit Milch und scheint nur auf unsere erstaunten Blicke gewartet zu haben, denn sie erklärt uns sofort, dass einige Kühe zum Haus gehören-ein seltener Fall in dieser Gegend. Ob wir nicht ein Bild von den Tieren machen wollen, fragt sie, auf unsere Fotoapparate deutend, und gerne erfüllen wir ihren Wunsch.

Hinüber nach Finnland Der Pfad ist schmal geworden, als tiefe Rinne, kaum zwei Fuss breit, führt er uns in einen sonnigen Nachmittag, vorbei an Seen und Sümpfen, durch lichte Birkenwälder und fast immer über weiche, beinahe weisse Flechten Einmal halten wir an und entfachen sogleich ein Feuer, denn die Mücken werden unerträglich, sobald wir uns nicht mehr bewegen. Selbstverständlich brauen wir uns Kaffee, viel und stark, wie er uns zur Gewohnheit geworden ist.

An einem See, der reich an Fischen sein soll, errichten wir unser Zelt, mitten auf einem Teppich weichen Mooses. Und sogleich werfen wir unsere Angeln aus, beide, irgend an einer günstig scheinenden Stelle, immer wieder, unermüdlich. Nach Lappenart haben wir uns einfache Angelgeräte gemacht: die Angelschnur wird um eine flache Büchse gewunden, von der sie sich mühelos abrollen lässt. Die Angel - natürlich darf sie nicht zu leicht sein - wird nun bis zu 50 Meter ausgeworfen und ruckweise wieder eingezogen.

Geheul von Rolf, er lacht und schreit und hebt einen kräftigen Hecht in die Höhe. « Ich wusste, dass ich ihn noch fangen würde », sagt er. Daneben habe er noch drei Barsche. Ich selber stehe mit leeren Händen da, immerhin die Stiefel voll Wasser.

Lag unser Zelt abends noch im Schatten, senkt sich am Morgen die Sonne wie Brandwatte auf uns. Wir drehen uns, schwitzen im Schlafsack, draussen erwarten uns Schwärme von Mücken. Wir baden und lassen uns vom Wasser bis in die Knochen kühlen.

Spät erst ziehen wir weiter. Nach kurzer Zeit treffen wir eine Unterkunftshütte am Weg, die Oedestue, willkommene Gelegenheit für unsern Kaffee. Wir werden die Nacht durchgehen, mit langen, raschen Schritten, mit jenem seltsamen Wohlgefühl, das uns überkommt, sobald sich unsere Glieder in ihrem alten Rhythmus bewegen, regelmässig, mechanisch fast. Du fühlst sie nicht mehr, du schwebst, träumst, Einzelheiten entgehen dir, du fühlst mehr das Moos, die Birken, den Nebel um dich, unwirklich, wie im Halbschlaf. Aber du gehst lange, sehr lange ohne zu ermüden.

Stimmen in der Nähe, ein Tarnzelt aus Armee-Einheiten, die schlecht über die Stützen gespannt sind, davor fünf Paar Stiefel, fein säuberlich in einer Reihe, weisse zierliche neben groben schwarzen. Man hat uns gehört, ein Kopf erscheint, ein zweiter darüber, ein dritter - eine Familie. « Zehn Stunden bis Kautokeino ?» Sie schauen uns betreten an und scheinen froh zu sein, als wir von der nahen Oedestue erzählen. « Ihr versteht, mit den Kindern. » Nebel steigt wie Dampf aus den Seen, niederes Gebüsch voller Mücken, und weite, unabsehbare Sümpfe. Irgendwo der Pfad, unsere einzige Orientierung, man spürt ihn eher als dass man ihn sieht. Die Erde ist schwarz, schlammig, und bisweilen bleiben wir bis zu den Knien darin stecken.

Stacheldraht quer über der Ebene, die Grenze von Finnland. Ein Gatter als Durchgang, du denkst an eine Umzäunung fürs Vieh, drüben am Hügel, starrt eine grasbewachsene Wachthütte. Über uns einförmige Wolken, Mitternacht, wir selber werden Teil vom düstern Grau.

Ein Ren. Es steht und starrt uns an, scheint uns zu erwarten, trabt vor uns her, steht wieder und wendet den Kopf, das grosse, stolze Geweih. Über seltsam lichte Flechten führt es uns, durch Gruppen von Birken, ein Park fast, und du gehst wie im Traum durch den ersten Morgen.

Syväjärvi Ein seltsames Gebilde tritt aus dem Nebel, ein Bruchstück, ein Viertelhaus, dahinter ein zweites. Das fusshohe Zementviereck deutet die ursprüngliche Grösse der Hütten an. Dünne Bretterwände, eine offene Tür, wir treten ein.

Finnmarken - Lappland

103Tundra mit Birken, Flechten und Moosen, stellenweise tritt hellbrauner Sand hervor 104Die Flechten und Stauden können zum Dickicht werden und sind von Mückenschwärmen besetzt Schmutzige Tassen stehen auf dem Tisch, ein Herd und Brennholz, eine Lagerstätte - und doch ist niemand da. Rolf kocht, schweigsam, wir sind müde. Ich gehe mit dem Kessel hinab zum See, wo der Nebel herkommt; wie ich zurücksteige, steht das Rentier vor dem Haus.

Es beginnt zu regnen, und wir schlafen lange, Rolf auf der harten Bettstatt, ich selber zwischen Rentierfellen und Heu, auf einem Lager, wie ich es mir behaglicher nicht hätte wünschen können.

Wir sind am Morgenessen, Porridge natürlich, wie immer unterwegs, als der Mann mit den beiden Kindern eintritt. Er spricht uns finnisch an, vielleicht gehört ihm das Haus. Verlegen sitzen die drei auf dem Bett, sehen uns verstohlen zu und wagen kaum ein Wort. Der Mann geht hinaus, die Kinder folgen ihm sprungartig, er tritt wieder ein, hinter seinem Rücken erscheinen die Augen der Kleinen. Niemand fühlt sich behaglich.

Am Strand liegt ein Boot, wir haben es schon vorher bemerkt, ein langer, dünnwandiger Fluss-kahn. Wir fischen; die Wolken hangen trüb und der Einfluss in den See ist nahe. Im Nu haben wir vier kräftige Barsche an der Angel.

Noch am Abend brechen wir auf, wir wollen den Leuten nicht länger auf dem Hals bleiben. Wieder Moose und Gruppen von Birken, ein Park, an einigen Stellen heller, brauner Sand. Einmal halten wir an, um unsere Fische zu braten, und den Mücken zum Trotz lesen wir in unserm Buch. Wir haben Zeit, wir wollen nicht vor Anbruch des Morgens in Karesuando sein.

Föhren tauchen auf, hohe Stämme mit stolzen Kuppen, wir grüssen sie wie alte Freunde. Sie sind schöner, königlicher als wir es je gewusst haben.

Karesuando Neue Häuser, Benzinstationen und Touristenattraktionen. Man spricht deutsch, schwedisch und englisch. Irgendwo muss unser Sack mit den Kleidern liegen, aber weder Post noch Zoll wollen ihn gesehen haben. Über dem Fluss beginnt Schweden.

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