Touristische Entwicklung in den Tessiner Alpen
Zum Tourentipp Auf die Krone der Schöpfung, «Die Alpen» 10/2020
Das Bild auf den Seiten 34 und 35 illustriert treffend die Entwicklung, die in den letzten Jahrzehnten in den Tessiner Alpen stattgefunden hat. Da steht ein Hüttlein, dem Gewalt angetan wurde. Von seiner ursprünglichen Konstruktion sind nur ein paar Mauern übrig geblieben. Das Steinplattendach ist einer bis fast zum Boden reichenden, rostigen Wellblechabdeckung gewichen. Eingemittet ist es zwischen zwei Neubauten.
Wie viele andere stand vor 50 Jahren auch dieses Hüttlein noch allein und unversehrt da und wurde wie in anderen Tälern seit Langem kaum mehr genutzt. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts fand im Tessin ein Rückgang der Alpwirtschaft statt, der dazu führte, dass ganze Seitentäler verlassen wurden. Die Dächer stürzten ein, die Hütten und die Zugangswege zerfielen. Das führte einerseits zur Entwicklung eines einzigartigen alpinen Naturparks. Andererseits aber drohten ganze Gebiete praktisch unzugänglich zu werden.
Im Bestreben, die Interessen des Alpinismus mit denen des Natur- und Heimatschutzes zu verbinden, veröffentlichte ich im Monatsbulletin des SAC 1977/4 einen Artikel («Die Verwilderung der Tessiner Alpen»), in dem ich vorschlug, einzelne Hütten zu kaufen oder zu mieten und als alpine Stützpunkte einfachster Art auszubauen und so die Zugänglichkeit der betreffenden Täler zu sichern. Anscheinend kamen andere Leute zu jener Zeit auf dieselbe Idee, allerdings in teilweise etwas anderer Ausgestaltung.
Jedenfalls brach im Tessin um 1980 ein Hüttenbauboom ohnegleichen aus. Gab es bis dahin in den zentralen Tessiner Alpen nur etwa ein halbes Dutzend alpine Unterkünfte, so steht heute in manchen Seitentälern mindestens eine derselben, und mehrere mussten inzwischen vergrössert werden. Von einer der einsamsten Gegenden der Schweizer Alpen hat sich das Tessin in wenigen Jahrzehnten zu einer mit der höchsten Dichte an Unterkünften gewandelt – «Verhüttung» anstelle von Verwilderung. Das Ergebnis dieser Baukonjunktur ist unterschiedlich. An manchen Orten wurde die noch vorhandene Substanz mit grossem Sachverstand für die traditionelle Bauweise ergänzt und so wertvolle Beiträge an die Erhaltung einer untergehenden Kultur geleistet (z.B. Cornavosa, Spluga). Leider ist das nicht überall der Fall. Die Erbauer dieser Unterkünfte kannten sich in den Bedürfnissen und Ansprüchen der Bergwanderer und -steiger bestens aus. Bergsteigen im Tessin hat entschieden an Komfort gewonnen. Mit dem Bau dieser Hütten ging der Ausbau der Zugänge und anderer Wanderwege einher. Die «Vie alte» sprossen aus dem Boden. Die schönsten Grate wurden bemalt und mit Eisenklammern bestückt. All das steigert die Besucherzahlen und freut die Tourismusorganisationen. Damit soll keine Wertung vorgenommen werden. Diese Erschliessung bietet unbestritten ihre Vorzüge, auch für die einheimische Bevölkerung. Wohl gibt es noch vereinzelte praktisch unberührte Täler, doch das Tessin als grossräumige, naturbelassene Berglandschaft gehört der Vergangenheit an. Dieses Tessin war einzigartig.