Steinböcke unter Beobachtung
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Steinböcke unter Beobachtung

Sie verursacht hohes Fieber und greift innere Organe an: Die Tierkrankheit Brucellose ist auf den Menschen übertragbar. In Frankreich wurden im Herbst deshalb rund 300 Steinböcke abgeschossen. In der Schweiz wählt man einen anderen Weg.

Die französischen Tierschützer sind ausser sich. Die Behörden haben im Herbst 2015 grünes Licht für die Erschiessung von rund 300 Steinböcken im Bargy-Massiv in der Haute-Savoie gegeben. Das macht fast drei Viertel der dort heimischen Kolonie aus. Grund sei die Brucellose, eine infektiöse Epidemie, die sich auf das Vieh und sogar auf den Menschen übertragen kann, so die Behörden. Ihre Befürchtung: Die Krankheit könnte auf das Vieh übergreifen und den berühmten Rohmilchkäse Reblochon ungeniessbar machen (siehe Kasten). Das Bargy-Massiv in der Haute-Savoie befindet sich nur ein paar Kilometer unweit der Schweizer Grenze. Im Gegensatz zu den Franzosen sehen die Schweizer Behörden aber keinen Handlungsbedarf. «Sobald wir Wind davon bekamen, verstärkten wir die Überwachung der Wildbestände und Herden. Aber bis heute wurde kein Fall von Ansteckung nachgewiesen», sagt Yvon Crettenand, Biologe bei der Walliser Dienststelle für Jagd und Mitarbeiter bei der Wochenzeitung «Terre & Nature».

Unter Beobachtung

Auch für das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) gibt es vorerst keinen Grund zur Sorge: «In der Schweiz ist bis zum heutigen Zeitpunkt kein einziger Fall von Brucellose bekannt, weder bei Viehherden noch bei den Wildbeständen», sagt Eva van Beek von der Kommunikationsabteilung. Aus diesem Grund wurden bisher auch keine besonderen Massnahmen ergriffen. Die Schweizer Behörden verfolgen die Situation in Frankreich aufmerksam, sehen im Moment aber keinen Handlungsbedarf.

Die abwartende Haltung basiert laut Nicolas Bourquin, wissenschaftlichem Mitarbeiter für das Management wildlebender Huftiere beim Bundesamt für Umwelt (BAFU), auf diversen Faktoren. Zum einen sei es so, dass alle Steinböcke in der Schweiz einer genaueren Beobachtung unterliegen, die es den Fachleuten erlaubt, sich zuversichtlich zu zeigen.

«Als die Tierepidemie Brucellose in Frankreich entdeckt wurde, gab es bereits zahllose Krankheitsfälle. Angesichts der Angaben von Kollegen vor Ort würde das bedeuten, dass die Krankheit schon seit rund 20 Jahren in dieser Population existent ist», sagt Marie-Pierre Ryser, Leiterin des Zentrums für Fisch- und Wildtiermedizin (FIWI) der Universität Bern.

Anders als in Frankreich, wo man die Steinböcke ihren Bestand selbst regulieren lässt, werden in der Schweiz Regulationsabschüsse praktiziert. Neben dem Schutz ihres Lebensraums und der Biodiversität ermöglicht dieses System auch eine permanente Bestandesaufnahme vom Gesundheitszustand wildlebender Huftiere, bemerkt Nicolas Bourquin.

Tatsächlich müssen laut Artikel 9 der Bundesverordnung über die Regulierung von Steinbockbeständen alle geschossenen Tiere den Wildhütern vorgezeigt werden. Falls man bei den Tieren beunruhigende Symptome entdeckt, werden die kantonalen Veterinäre umgehend verständigt. «Natürlich handelt es sich hier um Wildtiere. Es ist daher schwierig, alle Krankheiten frühzeitig zu erkennen», sagt der Experte vom BAFU. Ausserdem: «Auch wenn eine Krankheit schnell genug entdeckt wurde, kann der Ausbruch in Windeseile stattfinden.»

Strenger Schutz in Frankreich

Die französischen Behörden bestreiten nicht, dass es in der Haute-Savoie eine Lücke in der Beobachtung gegeben hat. «In gewissen Gebieten ausserhalb unserer Nationalparks wurden die Kolonien ungenügend überwacht», sagt der französische Experte Dominique Gauthier, Mitglied der Experten­kom­mis­sion «Groupe national bouquetins». «Das letzte Mal, als die Population vom Bargy-Massiv untersucht worden ist, war Ende 1980», erklärt er.

«In Frankreich ist der Steinbock seit einem Erlass 1981 geschützt», sagt Dominique Gauthier. «Studien haben gezeigt, dass sich diese Spezies aussergewöhnlich gut selbst regulieren kann. Im Gegensatz zu unseren Schweizer Amtskollegen intervenieren wir deshalb nicht mittels Abschussregulierung. Wir sind vielmehr davon überzeugt, dass die Natur das selbst regelt.»

Abschusspläne in der Schweiz

Auch wenn die Regulierung der Steinböcke in der Schweiz erlaubt sei, stehe das Tier nach wie vor unter Schutz, und die Jagd finde in einem sehr strengen Rahmen statt, sagt Nicolas Bourquin. «Unsere 46 Kolonien (insgesamt rund 17 000 Tiere, Anm. d. Red.) werden von den Kantonen verwaltet, die jährlich Zählungen durchführen. Anschlies­send senden sie uns die exakt ausgearbeiteten Abschusspläne, die wir sehr genau überprüfen, bevor wir die Bewilligung erteilen.»

Die Abschussbewilligung für die Jäger wird ebenfalls sehr streng geregelt. «Im Kanton Bern muss man mindestens 18 Jagdpatente erworben haben, bevor man einen Steinbock schiessen darf», so Bourquin. Ausserdem würden viele Jäger bei der Steinbockjagd von Wildhütern begleitet: «Wir praktizieren keine Ausbeuterkultur.»

Dass das Schweizer Modell Vorteile birgt, gibt Dominique Gauthier gerne zu. Aber er denkt nicht, dass der traurige Vorfall von Bargy die Behörden dazu bewegen wird, das gleiche System wie die Schweiz einzuführen. Allerdings spüre man die steigende Bereitschaft, unsere Wildtiere von nun an besser zu überwachen.

Akut in der Schweiz: Gemsblindheit

Mehr als die Brucellose beschäftigen die Schweizer Behörden zwei andere Krankheiten: die Infektiöse bovine Keratokonjunktivitis («Gemsblindheit») und die Bovine Tuberkulose. Bei Ersterer handelt es sich um eine Entzündung der Hornhaut im Auge, die zur Erblindung führen kann. Die befallenen Tiere sterben oft an Hunger oder infolge eines Absturzes. Letzten Sommer wurde bei den Steinböcken ein Aufflammen dieser Krankheit festgestellt, und Anfang Herbst bemerkte der Schweizer Nationalpark auch bei den Gemsen eine Ausbreitung. «Wir waren beunruhigt, da sich die Krankheit bei den Gemsen tendenziell schlimmer auswirkt», meint der Betriebsleiter des Parks, Flurin Filli. Das Gebiet, in dem die betroffenen Tiere lebten, wurde für Wanderer zeitweilig gesperrt. «Letzten Endes haben wir nur wenige Tiere verloren, da die meisten sich von selbst erholten», freut sich der Leiter. Was die Bovine Tuberkulose betrifft, so bleibt sie der Schweiz momentan erspart. Wegen Fällen im Ausland ruft das Bundesamt für Umwelt aber zu erhöhter Wachsamkeit auf.

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