Schreckhorn-Nordwand im Winter.
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Schreckhorn-Nordwand im Winter.

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Kurt Güngerich, Bergführer, Gurzelen

Sechs Beine, drei Hosenböden und drei riesige Rucksäcke - so sehe ich meine Kameraden, wie sie ihre Spur in die unberührte grosse, weisse Fläche des tiefverschneiten und zugefrorenen Grim-sel-Stausees legen. Unser Ziel, der Gipfel des Schreckhorns, liegt noch sehr weit weg. In Luftlinie gemessen, beinahe 17 Kilometer und dazu 2200 Meter höher. Unsere grösste Sorge gilt dem Wetter; wenn es nicht mindestens drei Tage gut bleibt, müssen wir unverrichteter Dinge zurückkehren. Doch der tiefblaue Himmel und die warme Sonne vertreiben unsere Sorgen. Der vorderste Mann tritt zur Seite, und die mühsame Spurarbeit liegt für 20 Minuten beim nächsten.

Vorjahren habe ich die Wand zusammen mit meiner Frau bestiegen. Seither hat mich der Gedanke einer Winterbegehung dieser grossartigen Eiswand nicht mehr losgelassen. Die winterlichen Aufstiegsmöglichkeiten zum Berg wurden studiert, die Ausrüstung sorgfältig zusammengestellt. Meine Kameraden waren begeistert von dem Unternehmen - und nun hat das Abenteuer begonnen!

Das Tal biegt nach rechts ab. Die Staumauer und das Grimsel-Hospiz mit den letzten Häusern entschwinden unseren Blicken. In der Ferne, hoch oben auf einer Felsecke, taucht ein kleiner grauer Punkt auf. Es ist unser heutiges Ziel, die Lauteraarhütte des SAC. Nach zweistündigem Marsch wird die weisse Fläche bucklig, Risse und Spalten werden sichtbar. Wir nähern uns dem Ende des Sees. Durch den stetig absinkenden Wasserspiegel wurde die schwimmende Eis- und Schneedecke auf den unebenen Grund gelegt -eine seltsame Landschaft. Für kurze Zeit entledigen wir uns der schweren Säcke. Am rechten Talhang stehen die letzten Bäume. In ihrer Ruhe ge- stört, bewegen sich einige Gemsen aufwärts, gemächlich dahintrottend und auf die vier « Lastesel » hinunteräugend. Was doch so ein Rucksack alles zu fassen vermag! Seile, Haken, Eisrohrspi-ralen, Kletterkarabiner, Steigeisen, Helm, Pickel, Hammer, Lawinenschaufel, Kocher, Biwaksack, Schlafsack, Stirnlampen, Kerzen, vier Paar Handschuhe, warme Ersatzwäsche, Photoapparat und Essen für fünf Tage. Nicht umsonst wiegt er gute 25 Kilogramm!

Bald beginnt die erste Steigung: Wir betreten den Unteraargletscher. Inzwischen ist es Mittag geworden, Zeit, unsere Rucksäcke etwas zu erleichtern. Eine phantastische Landschaft liegt vor uns. Weit und breit kein Mensch, nur Schnee, Eis, Fels, Sonne, Wind und tiefblauer Himmel.

Allzu schnell ist die gemütliche Mittagspause zu Ende, die Teeflasche leer. Der Sack wird hoch-gestemmt, die Spur weitergezogen. Bald kommen wir zum Steilhang, der zur Hütte hinaufführt. Die Sonne brennt heiss, der kühlende Wind hat sich gelegt. Die Rucksäcke werden immer schwerer; wir meinen es wenigstens. Ziemlich ausgepumpt erreichen wir die Hütte um 15 Uhr. Der vom Dach gerutschte Schnee hat die Eingangstüre fast bis zum oberen Rand verschüttet. Unsere Lawinenschaufeln leisten hier gute Dienste, und nach beendeter Arbeit dringen Sonne und Leben ins schöne, gastliche Haus.

Die Zeit vergeht viel zu rasch. Wir beschäftigen uns mit Kochen, Rucksäcke-Auspacken, Schneeschaufeln. Mit Hilfe einer Feile will Rolf seinen Steigeisenzacken den letzten Schliff geben. Mein neuer Rucksack hat die schwere Last schlecht vertragen; er ist bereits reparaturbedürftig.

Am Steilhang über der Hütte treiben ganze Rudel von Gemsen ihr Spiel. Man könnte sie tagelang beobachten. Drinnen in der Hütte kocht das Wasser in der Pfanne, und begierig machen wir uns hinter die ersten fünf Liter Tee. Draussen werden die Schatten länger, und allmählich übernimmt der Vollmond die Aufgabe, die Gegend beinahe taghell zu erleuchten.

Nach einem kräftigen Nachtessen tragen wir >5 uns im Hüttenbuch ein. Die letzten Besucher waren anfangs Januar hier. Heute schreiben wir den 7. März 1974. Nochmals bestaunen wir die grossartige, hell erleuchtete Gipfelwelt. Vielleicht tönt unser Jodel nicht ganz fachmännisch, aber irgendwie müssen wir einfach unserer Freude Ausdruck geben. Noch ein Jauchzer - dann ziehen wir uns unter mehr oder weniger grosse Berge von Wolldecken zurück.

Einer erwacht. Wie spät ist es? Genau 5 Uhr. Also auf! Zuerst wird das Wetter begutachtet. Kalt schimmern die Sterne am Firmament, weit und breit ist kein Wölkchen zu sehen. Rasch wird es lebendig im Hüttlein; schon knistert das Feuer, und bald stehen unsere dampfenden Frühstücks-getränke auf dem Tisch.

Um 6.30 Uhr verlassen wir die Hütte und fahren hinab zum Unteraargletscher. Rolf bewältigt die Abfahrt mit den Steigfellen, und so kann er unten gleich losziehen, während wir andern schon den ersten Halt zum Anschnallen der Felle einlegen. Es ist kalt, die ersten Sonnenstrahlen berühren die Bergspitzen, und nur ganz langsam senkt sich der goldene Schein hinab in die Gletschertäler. Wir betreten den grossen Eisstrom: Der lange Marsch hinauf zur Nordwand beginnt. Das Spuren ist heute weniger mühsam; ab und zu wird die Führung gewechselt. Links taucht das Finsteraarhorn mit seiner imposanten Ostwand auf, rechts weit- hinten der Lauteraarsattel. Nach jeweils einer bis eineinhalb Stunden Marsch wird eine Verschnauf- und Verpflegungspause von zehn Minuten eingelegt. Schnell vergeht die Zeit, es rückt schon gegen Mittag.

Langsam nähern wir uns auch unserem Ziel, dem Schreckhorn. Der Gletscher wird steiler. Um den Wandfuss zu erreichen, haben wir noch 700 Höhenmeter über die Steilhänge zur Linken aufzusteigen. Im Süden ziehen einige Föhnwolken auf. Die Sonne brennt. Einmal mehr haben wir zehn Minuten Pause verdient. Der Höhenmesser zeigt 2800 Meter. Das Lawinenbulletin: Lawinengefahr an Nord- und Osthängen mit Triebschneeansammlungen. Wo sollen wir weiter auf- t Schreckhorn-Nordwand: Im unteren Wandteil 2Biwakbau 3Im Biwak steigen? Links, der steilen, aber beinahe schneefreien Bergflanke entlang, wäre die Gefahr am geringsten; doch auf halber Höhe scheinen einige Eisbrüche den Weg zu versperren. Das Risiko, dort viel Zeit zu verlieren, wollen wir nicht eingehen. Der lawinensichere Umweg nach rechts wurde uns Stunden kosten. Nachdem alle Vor-und Nachteile der möglichen Varianten gegeneinander abgewogen sind, entschliessen wir uns für den direkten Aufstieg. Mit einem Sicherheitsabstand von i oo Metern von Mann zu Mann geht es steil aufwärts. Der Schnee liegt hier tief; zeitweise stecken wir fast bis zu den Knien im weissen Pulver. Eine Stunde später liegt das steilste Stück unter uns. Die Zickzackspur führt vorbei an Gletscherbrüchen und über verschneite Spalten. Die obere Hälfte der Nordwand wird sichtbar. Noch bleiben 200 Höhenmeter bis zu ihrem Fuss. Allmählich wird der Gletscher flacher. Die grossen, verschneiten Spalten werden uns zu gefährlich, so dass wir uns lieber anseilen. Es ist 14 Uhr, und wir sind froh, schon jetzt im Schatten des Berges weitersteigen zu können, obschon es hier empfindlich kalt ist. Etwas höher oben führt die Spur nochmals hinaus an die wärmende Sonne, doch nur für kurze Zeit, dann umfängt uns endgültig der eisige Hauch der Schreckhorn-Nordwand. Offen, steil und abweisend liegt sie über uns. In der Mitte klebt der grosse Eispanzer; die Verhältnisse scheinen jedoch nicht schlecht zu sein. 15 Uhr. Für heute können wir uns der schweren Rucksäcke entledigen. Eine anstrengende Etappe liegt hinter uns. Hier, unmittelbar am Fuss der Wand, auf beinahe 3500 Meter Höhe, soll unsere Behausung entstehen. Ein kalter Wind bläst; also werden rasch Daunenjacken und Sturmhosen angezogen. Der heisse Tee aus der Thermosflasche spendet etwas Wärme; dann beginnt die Arbeit. Wir bauen eine Kombination von Schneehöhle und Iglu; abwechselnd wird gearbeitet, und eine Stunde später beginnt der Kocher im Eingangs-graben zu surren. Inzwischen hat sich das Wetter im Süden verschlechtert, Wolken ziehen heran und reichen auf etwa 3000 Meter Höhe. Doch der Glanz im Norden verheisst weiterhin gutes Wetter. Die Täler liegen schon im Dunkeln; bald verlassen die letzten Sonnenstrahlen auch die umliegenden Berge. Langsam kriecht die Nacht aus den Tälern herauf zu den Gipfeln. Um 19 Uhr ist unsere Arbeit beendet. Wir sind recht müde. Tief in den Schnee gegraben, steht ein kleiner, aber komfortabler Raum mit vier Schlafplätzen. Auf die sauber geglätteten Schlafstellen wird eine etwa drei Zentimeter dicke Schicht Kunststoffplatten gelegt. Sie isoliert die Kälte vollständig, so dass uns ein warmes Lager zur Verfügung steht. Während zwölf Stunden mussten wir die Lasten auf unserem Rücken dulden; nun sind wir froh um das Material. Ski-, Rucksack- und Materialdepot sind eingerichtet, die Kochnische bereit. Das Kerzenlicht gibt dem Raum eine gemütliche Stimmung. Der Mond taucht die Landschaft in ein silbernes, kaltes Licht; die von Süden heranziehende Wolkendecke reicht nun hinauf bis über den Lauteraarsattel. Überwältigt vom grossartigen Spiel der Natur, stehen wir draussen in der einsamen, eisigen Gebirgsnacht. Wie wird das Wetter morgen aussehen?

Bald verschwinden wir durch den kleinen Ein-gangstunnel in unsere Behausung. Hier drinnen ist es angenehm warm. Hans und Peter verkriechen sich in die Schlafsäcke und geniessen so ihr Nachtessen. Rolf und ich beschäftigen uns mit Kochen. Zuerst gibt 's einige Liter Tee, dann Suppe und zuletzt werden die Thermosflaschen mit Tee nachgefüllt. Um 22.30 Uhr ist « Lichterlöschen ».

Um i Uhr weckt mich ein gleichmässiges Tropfen. Die Decke unseres Hauses ist trotz der Kälte draussen nass, das Tropfwasser rinnt zwischen Peters Biwacksack und meiner Schutzdecke auf die Unterlage und bildet hier einen kleinen See. Auch der Schlafsack hat schon etwas abbekommen. Von den sechs brennenden Kerzen werden rasch fünf gelöscht und die Wasserlache aufgetrocknet.

4 Uhr. Wir könnten noch herrlich weiterschlafen, wollen aber so bald als möglich in die Wand. 1 4Im oberen Wandteil 5Rückkehr - und nochmals ein Blick auf die Wand Photos Kurt Güngerich, Gurzelen Das Wetter interessiert uns brennend. Zuerst wird der Kocher in Betrieb gesetzt, dann die Decke, die als Vorhang den Wind vom Eingang abhält, beiseite geschoben. Ich krieche ins Freie: Über uns ein glanzvoller Sternenhimmel - leichter Wind, grosse Kälte, weit und breit kein Wölkchen.

Rolf und ich wollen als erste in die Wand. Unsere Kameraden sollen eine Stunde später folgen. Also können sie ein wenig schlafen. In unserem kleinen Haus wäre es ohnehin unmöglich, gleichzeitig alles bereitzumachen. Nach dem Frühstück werden die Säcke gepackt, die Steigeisen angeschnallt; der Helm wird aufgesetzt, eine ganze Menge Eisenzeug umgehängt, angeseilt. Alles unnötige Material kann im Biwak zurückbleiben. Um 6.15 Uhr ziehen wir los. Es ist noch ziemlich dunkel. 600 Meter hoch bäumt sich die Eiswand über uns auf. Nach 30 Metern Aufstieg versperrt uns schon ein senkrechter Bergschrund den Weg. Er bildet die untere Begrenzung der Wand und zieht sich über ihre ganze Breite. Der Wind bläst kleine Schnee- und Eiskörner über die Wand herab. In hohem Bogen überspringen sie den Schrund und bleiben unten liegen. An einer günstigen Stelle packt Rolf das Hindernis an, sein Pickelhammer dringt tief ins Eis, und eine Viertelstunde später kann ich bereits nachsteigen.

Rolf hat 20 Meter höher ein schmales Podest aus dem Eis gehackt; eine Eisrohrspirale dient der Sicherung. Ein 40-Meter-Seil verbindet uns, und, nach jeder Seillänge wechselnd, gehen wir voran. Hier, im unteren Teil der Wand, liegt eine dünne, harte Firnschicht auf dem Eis. Mit Hilfe der Steig-eisen-Frontzacken gelingt der Aufstieg aber relativ gut. Das Herrichten der Standplätze beansprucht zwar viel Zeit, und um die Sicherungen anbringen zu können, müssen wir den harten Firn weghacken. Stellenweise ist er nur zwei Zentimeter dick, manchmal jedoch 20. Dann werden zwei Rohrspiralen ins glasharte Eis eingeschraubt -eine mühsame Sache.

Die ersten drei Seillängen liegen hinter uns.

Peter und Hans verlassen das Biwak und begin- 5 nen den Aufstieg. Die Morgensonne beleuchtet die umliegenden Gipfel. Eine herrliche Welt hier oben!

Wir erreichen den unteren Rand des Eisabbruchs, etwa 250 Meter weiter unten lacht unser Biwak in der Sonne. Unsere zwei Gefährten haben uns eingeholt und das Sicherungsmaterial entfernt; wir sind froh über den Nachschub. Die Wand wird steiler. Es gilt nun die nächsten too Meter im vollständig blanken, blauen Eis zurückzulegen. Stellenweise müssen kleine Stufen gehackt werden. Über dem Eisbruch legt sich die Wand wieder etwas zurück; hier liegt wieder eine Firndecke auf dem Eis. Seillänge um Seillänge geht es aufwärts. Immer die gleiche Folge: Aufsteigen auf den Frontzacken, Standstufe hacken, Sicherungen einschrauben und den Seilgefährten nachsteigen lassen. Ganz flach scheint die Sonne in die Wand. Gegen Mittag verschwindet sie. Ab und zu wird ein kurzer Halt eingelegt, ein Schluck aus der Thermosflasche genommen, einige Photos werden geknipst. Ein Teebecher macht sich selbständig und verschwindet in rasender Fahrt auf Nimmerwiedersehen in der Tiefe.

Allzu rasch vergeht die Zeit; am frühen Nachmittag befinden wir uns im oberen Teil der Wand. Immer steiler bäumt sie sich auf; die Firnschicht ist nur noch zentimeterdick und verschwindet bald. Rolf steht 40 Meter über uns und hackt einen kleinen Stand. Eisbrocken fliegen vorbei. Wieder kommt ein Eisstück in hohem Bogen und landet mitten in Peters Gesicht. Blutüberströmt ruft er Rolf zu, mit dem üblen Spiel aufzuhören. Peters Verletzung ist nicht so schlimm, wie es im ersten Moment aussah. Der Zwischenfall vermag unsere gute Laune und den Auftrieb nicht zu dämpfen. So gut wie möglich schützen wir uns gegen den weiteren Beschuss und steigen dann nach. Im obersten Wandteil erreichen wir die Felsrippen und Eiscouloirs. ioo Meter über uns liegt, noch unsichtbar, der Gipfel; wir sehen nur glatte, schneebedeckte Felsen und blauschwarze Eisrinnen. Für den weiteren Aufstieg haben wir die Wahl zwischen zwei Felsrippen und der dazwi- schen liegenden Eisrinne. Für die spiegelnde Rinne verspüren wir gar keine Lust, also geht Rolf die linke Felsrippe an. Auf jedem Absatz liegt Pulverschnee, und bald wird die Lage hoffnungslos. Hier geht es nicht weiter. Nur noch senkrechte, glatte Platten! Ein Sicherungshaken findet in einer Felsritze Platz. Ich steige nach und bringe im Eiscouloir eine zusätzliche Sicherung an. Stufe um Stufe hackend, quere ich die Rinne hinüber zur Felsrippe. Hier muss es weiter aufwärts gehen; aber der Fels ist brüchig, die Kletterei schwierig. Vorsichtig geht es höher; nach 40 Metern werden zwei gute Sicherungshaken in den Fels getrieben. Meine Kameraden folgen nach. Nach zwei weiteren Seillängen im verschneiten und vereisten Fels liegt nur noch ein kurzes Wandstück über uns. Rolf ist an der Reihe, und mit grossem Elan packt er dieses letzte Hindernis an. Die Stelle ist ausserordentlich kritisch; die Steigeisen kratzen am Fels, die feuchten Finger bleiben am eisigkalten Gestein kleben. Aber bald ist unser Gefährte oben. Hans und Peter entfernen die Haken. Minuten später verlassen wir die schattige Wand und betreten den in der Sonne gleissenden Gipfelgrat. Etwas rechter Hand, greifbar nahe, liegt der 4078 Meter hohe Schreckhorngipfel. Um 16 Uhr ist das Ziel erreicht. Müde, aber glücklich reichen wir einander die Hände.

Ein kalter Wind bläst, wir beschäftigen uns mit Photographieren, Essen und Trinken; dazu geniessen wir die herrliche Aussicht. Doch das Abenteuer ist noch nicht zu Ende; denn wir wollen wieder durch die Wand zurück. Eine halbe Stunde später verlassen wir den Gipfel und kehren zurück an die Stelle, wo wir den Grat erreichten. Für den Abstieg benützen wir zwei t oo Meter lange Seile. Das nicht mehr benötigte Material wird im Rucksack verstaut. Die Seile werden geordnet und für die lange Abseilfahrt vorbereitet. Eine Seilschlinge wird um einen grossen Felsblock als erste Seilverankerung gelegt. Die Technik dieses Abseilmanövers ist bereits in der Lauteraarhütte besprochen worden, und jeder weiss nun genau, was er zu tun hat. Eine letzte Kontrolle — und um i 17 Uhr lasse ich mich langsam an den Seilen in die fast senkrechte Eisrinne hinab-gleiten. to Meter - 20 Meter, dann kann ich meine Kameraden nicht mehr sehen. Rasch geht es nun abwärts; erst nach go Metern wird die Fahrt gebremst. Auf spiegelglattem Eis hange ich an den Seilen. Eine Standstufe wird gehackt, eine Sicherung eingeschraubt. Nachdem ich mich daran befestigt habe, können die Seile gelöst und für den Nächstfolgenden freigegeben werden. Bald erscheint Peter hoch oben, sich über den Abgrund hinausschwingend, und langt einige Minuten später hier unten an. Inzwischen habe ich eine zweite Sicherung angebracht, so dass sich auch Peter einhängen kann. Nachdem Rolf als letzter die Fahrt zurückgelegt hat, müssen die Seile ausgezogen werden. Wir hegen einige Bedenken, dass sie in der engen Fels- und Eisrinne hangenbleiben könnten. Was dann? Zu dritt ziehen wir nun, und langsam kommt das Seil abwärts, das andere Ende verschwindet nach oben. Ohne Mühe lassen sich die Seile ganz ausziehen, und schon bald nehmen wir die nächsten too Meter in Angriff. Wir befinden uns nun unter den Felsen, genau auf der Aufstiegsroute. Es dämmert schon. Hans'Taschenlampe streikt. Erst nach langem, geduldigem Zureden, Schütteln und Klopfen gibt sie etwas Licht von sich. Im Dunkeln arbeiten wir nun doppelt vorsichtig; dafür geht die Sache nur noch halb so schnell. Ein harscher Wind bläst Schnee über die Wand herab. Der Abstieg bringt nur wenig Bewegung, die Kälte macht sich unangenehm bemerkbar. Ein Rest Tee aus der Plastikflasche wäre noch fällig, doch er hat sich längst in einen Eisklotz verwandelt. Fast automatisch arbeiten wir weiter, gleiten Seillänge um Seillänge abwärts, vorbei am Eisbruch. Bald muss der Bergschrund kommen. Man sieht nichts in dieser finsteren Wand; der Mond beleuchtet leider die andere Seite des Berges. Wieder gleite ich am Seil hinab ins Dunkel. Das Seilende ist da; zehn Zentimeter harter Firn liegt auf dem Eis. Die Firndecke wird weggehackt, eineRohrspiraleangesetzt. Aber sie will nicht hinein, das Eis ist zu hart. Im Mund wird sie etwas aufgewärmt; sie bleibt an der Zunge kleben. Dann wird sie ein zweites Mal angesetzt - wieder umsonst. Also nochmals aufwärmen! Eine Viertelstunde vergeht. Meine Kameraden stehen über einem kleinen Eiswulst; ich kann sie nicht hören. An den Seilbewegungen spüre ich, dass sie langsam ungeduldig werden. Beim siebenten Versuch packt die Spirale endlich, und bald sind die Kameraden da. Es geht weiter abwärts. Plötzlich hänge ich über dem lange erwarteten Abgrund. Es ist der Bergschrund, hier etwa fünf Meter hoch und überhängend. Rasch wird dieses letzte Hindernis genommen, und nach siebeneinhalb ioo-Meter-Seillängen stehe ich unter der Wand. « Nachkommen, etwas mehr nach links halten! » rufe ich meinen Gefährten zu und stapfe durch den Pulverschnee dem Biwak entgegen. Kerzen und Kocher werden angezündet, und um 21.30 Uhr kriecht Peter als letzter durch den Tunnel in die schützende Unterkunft. Nach den Anstrengungen und der Kälte in der Wand kommt uns die einfache Schneebehausung wie ein kleines Königreich vor. Hans und Peter übernehmen die Kocherei, während wir andern schon bald in unseren Schlafsäcken verschwinden. Nach einem wärmenden Getränk und kleinen Imbiss höre ich schon bald nichts mehr von meinen Kameraden.

Um 7.30 Uhr erwachen wir. Peter geht hinaus. Sein Bericht stimmt uns nicht eben freudig: Nebel, Schneetreiben und starker Wind! Doch schon bald bessert sich das Wetter, die Sonne bricht hervor, die Wand wird sichtbar. Gemütlich machen wir uns ans Aufräumen und verzichten sogar auf die Kocherei, um dies dann unten in der Lauteraarhütte nachzuholen. Schwer beladen verlassen wir um 8.30 Uhr unser « Heim », um eine lange Gletscherabfahrt zu beginnen. Um 10.15 Uhr sind wir bei der Lauteraarhütte.

Die Ski und das gesamte Material werden unten auf dem Gletscher deponiert, und schon bald rinnt literweise Tee durch unsere durstigen Kehlen, worauf auch noch eine Unmenge dampfen- der Suppe nachfolgt. Dann schauen wir entspannt und gesättigt dem Treiben der Gemsen zu, sitzen an der warmen Sonne vor der Hütte und bestaunen die einzigartige Welt.

Um 13 Uhr, bei schönstem Wetter, wird der Abstieg fortgesetzt. Entlang unserer Aufstiegsspur geht es über den Grimselsee zurück zur Staumauer und weiter abwärts nach Handeck. Es ist gerade 17 Uhr, als wir bei unserem Auto anlangen, womit der gefährlichste Teil unseres Abenteuers beginnt...

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