Schaufeln oder denken?
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Schaufeln oder denken? Den Aufbau von Schneedecken zu testen, ist wieder in

Mal hiess es, Schneedeckentests seien zwingend, dann lehrte man, sie seien unnütz. Nach zwei radikalen Richtungswechseln hat man in der Lawinenausbildung einen Konsens gefunden. Denken: ja. Schaufeln: warum nicht?

Spitzbergen, 78° N. Wir sind am Helvetiafjellet auf Skitour. Mehrere Gipfel ziehen uns mit ihren traumhaften Flanken magisch an. Zögerlich erreichen uns nach Wochen der Dunkelheit die ersten Sonnenstrahlen. Auf der anderen Talseite sind die Hänge blank gefegt. Der Wind war drin! Eine Vorhersage der Lawinengefahr gibt es hier nicht. Die Karte ist im Massstab 1 : 100 000. Ein bisschen «blind» fühlen wir uns daher schon, wenn wir an die gewohnt gute Datengrundlage für Skitouren in der Schweiz denken. Solche Situationen lassen die Skitourengänger immer häufiger wieder zur Schaufel greifen, um den Schneedeckenaufbau vor Ort zu untersuchen oder mit einfachen Methoden zu testen.

Denken statt schaufeln

Bis in die 1990er-Jahre hatte man sich auf Rutschblöcke verlassen. Dabei wurde ein Schneeblock freigelegt und belastet. Rutschte ein Teil des Blocks ab, galt dies als Zeichen für eine instabile Schneedecke. Nicht selten beruhte die Beurteilung eines ganzen Hangs auf einem einzigen Rutschblock – oft mit fatalen Folgen. Denn selbst im instabilsten Hang finden sich Stellen, an denen die Schneedecke auch bei heftigen Belastungen nicht abgeht. Wer ausgerechnet dort gräbt, findet keine Hinweise auf die Gefahr, die nur wenige Meter daneben lauern kann.

Munter setzte deshalb ab den 1990er-Jahren auf einen anderen Ansatz: «Denken statt schaufeln», propagierte der «Lawinenpapst». Seine Reduktionsmethode versucht, das Risiko aufgrund statistischer Grössen abzuschätzen, die auf der Auswertung tatsächlich geschehener Unfälle beruhen. Das sorgfältige Kombinieren von Risiko- und Reduk­tions­faktoren ersetzte das Graben im Gelände weitgehend. Das Erstellen von Schneeprofilen überliess man fortan den Experten.

Früh übt sich

In den letzten Jahren haben Schneedeckentests ein leises Comeback erlebt. Mittlerweile sind sie in der Schweiz auch auf allen Niveaus integriert. Und wird denn wirklich wieder mehr geschaufelt? «Es wäre schön, dies sagen zu können», meint dazu Bruno Hasler, Fachleiter Ausbildung beim SAC. «Während der Ausbildung kommen die Untersuchungen der Schneedecke gut an, alle finden es spannend. Im Gelände sieht man die Skitourengänger allerdings selten beim Schaufeln.» Die Bedeutung eines Stabilitätstests einzuordnen, sei insbesondere für Laien schwierig, gibt er zu bedenken. Um so wichtiger sei es, die Stabilitätstests auf allen Ausbildungsstufen zu thematisieren.

In Übersee, insbesondere in Kanada und in den USA, ist der Stellenwert der Schneedeckentests seit je höher. Kurt Winkler vom WSL-Institut für Schnee und Lawinenforschung (SLF) in Davos erklärt: «Es liegt in der Natur der Sache, dass die Lawinenwarnung in Ländern wie Kanada oder Amerika mit einer viel schlechteren Datengrundlage auskommen muss als hier in der Schweiz.» So sind Tourengänger dort viel mehr auf eigene Beobachtungen angewiesen. Bei uns ist aber der Winterurlaub in abgelegenen Regionen sehr populär: Kirgistan, Nordnorwegen, Island oder die Rocky Mountains. Wer sein erstes Schneeprofil nicht in diesen Ländern gräbt, in denen auch sonst nur spärlich Informa­tionen vorhanden sind, ist unweigerlich im Vorteil.

Wann ergibt ein Schneedeckentest Sinn?

Es gibt viele Tests, mit denen sich Skitourengänger vor Ort einen Einblick in die Schneedecke verschaffen können: Rutschblock, Nietentest oder der Extended Column Test (ECT, siehe Kasten). Doch was taugen diese überhaupt? Und wann und wo soll man zur Schaufel greifen?

Grundsätzlich können die simplen Stabilitätstests zwei Dinge: Sie können Bruchflächen in der Schneedecke aufzeigen sowie deren Ausbreitungsfähigkeit testen. Weit verbreitet ist heute der ECT, bei dem durch Schläge auf die Schaufel getestet wird, ob in der Schneedecke Schwachschichten vorhanden sind.

Bei Verdacht auf Altschnee schaufeln

Stabilitätstests könnten in bestimmten Situationen sehr nützlich sein, meint Winkler und nennt dabei hauptsächlich eine «latente Altschneesituation» als wichtigen Grund, um zur Schaufel zu greifen. «Wenn bereits alle Alarmglocken läuten – Wumm-Geräusche, frische Lawinen, Risse in der Schneedecke –, dann kann man sich das Schaufeln sparen.» Auch Neuschnee- und Triebschneesituationen seien für Geübte in der Regel ohne Graben einigermassen gut zu erkennen, erklärt er. Nützlich sei ein Test dann, wenn die offensichtlichen Warnzeichen ausbleiben, der Verdacht auf ein Altschneeproblem aber trotzdem besteht.

Das Schaufeln sollte aber das Denken keinesfalls ersetzen – darin sind sich die Experten einig. Während früher im Einzelhang der geschaufelte Rutschblock als einziges Entscheidungskriterium für die Weiterfahrt oder den Rückzug herhalten musste, ist heute klar, dass dies fatal enden kann. «Wenn man sich dafür entscheidet, die Nase mal etwas tiefer in den Schnee zu stecken, so darf dies lediglich als ein weiteres Puzzleteil in der Beurteilung der Situation gewertet werden», betonen Hasler und Winkler. Hinzu kommt, dass der Test für einen grösseren Hang nur aussagekräftig ist, wenn der Standort bestimmte Kriterien erfüllt. «Schneearm, mit ungestörter Schneedecke und meist schattig», nennt Winkler die wichtigsten Punkte und ergänzt, dass ein ECT die erste Wahl sein sollte: «Der ETC ist weniger aufwendig als der Rutschblock, testet durch die asymmetrische Belastung aber ebenfalls, wie leicht sich Brüche in der Schneedecke ausbreiten.»

Denken, schaufeln, lernen

Es zieht also einen Nutzen aus der Schneedeckenanalyse, wer sich immer wieder mit ihr auseinandersetzt. Insbesondere dort, wo keine oder wenige Informationen vorliegen, kann es hilfreich sein, selber noch etwas tiefer zu graben. Gleichzeitig ist es aber gerade in abgelegenen Gegenden wichtig, die Lage umfassend zu betrachten: Wettersituationen, Schneemengen und Temperaturverläufe müssen immer in die Beurteilung einfliessen.

Wer versteht, wie die grossräumigeren Schneemuster mit der Entwicklung in der Schneedecke zusammenhängen, und seinen Stabilitätstest in den erweiterten Kontext einordnen kann, der vermag auch die Aussagekraft seines Puzzleteils zu bewerten. Beim tausendsten Anlauf bestimmt besser als beim ersten. Und so sind wir an den Traumhängen Spitz­ber­gens froh, als schon Geübte zur Schaufel greifen und einen Blick ins Innere der Schneedecke werfen zu können.

Nase in den Schnee stecken: Extended Column Test (ECT)

Der Extended Column Test (ECT) ist auf Skitouren der beste Stabilitätstest. Er gibt Hinweise darauf, ob Schwachschichten vorhanden sind und ob sich ein Bruch ausbreiten kann. Um brauchbare Resultate zu erhalten, wählt man eine eher schneearme, schattige und unverspurte Stelle. Der Testort muss ungefährlich, wenn möglich aber über 30° steil sein. Sonst rutscht ein gebrochener Block nicht ab, was die Beobachtung schwierig macht. So geht’s:

Säule graben und belasten

1. Rechteckigen Block mit 90 cm Breite und 30 cm nach hinten freischaufeln (1

2.

Einschätzung

Als wirklich instabil gilt der Test, wenn spätestens beim ersten Schlag aus der Schulter folgendes geschieht:

– die Säule bricht in einem Schlag ganz durch, oder

– ein Bruch erfolgt zuerst nur unter der Schaufel, breitet sich aber bereits im nächsten Schlag durch die ganze Säule aus.

Braucht es mehr Schläge, bis sich ein Riss durch die ganze Säule ausbreitet, oder bricht die Säule erst beim zweiten Schlag aus der Schulter oder noch später, sind die Bedingungen für ein Schneebrett grundsätzlich immer noch erfüllt. Vorsicht ist nach wie vor angebracht.

Gibt es gar keinen Bruch oder breitet sich dieser nicht durch die ganze Säule aus, deutet der Test auf günstige Verhältnisse hin.

Achtung: Schneedeckentests lassen sich nur beschränkt vom Testort auf die Umgebung übertragen. Sie dürfen nicht als einziges Kriterium zur Beurteilung eines Einzelhangs herangezogen werden.

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