Saure Zungen
Ein Freitagabend im August, kurz vor halb sechs. Ein Vater mit Tochter und Sohn im Teeniealter fehlt noch. Es sieht nach heftigen Gewittern aus.
Wie bei jeder telefonischen Anmeldung habe ich nachgefragt, ob sie von der Glarner oder der Bündner Seite starten. Der Blick zur Gewitterfront Richtung Surselva beunruhigt mich. Ich schnüre die schnellen Schuhe und trabe abwärts Richtung Kistenpass. Donner knallt. Blitze zucken. Erste Tropfen platschen auf meinen Kopf.
Ich lege einen Zacken zu. Heftiger Regen setzt ein. 20 Minuten Jogging später entdecke ich drei Gestalten. Eine kurze Begrüssung meinerseits, verstörtes Nicken ihrerseits. Die Tochter liegt weinend und tobend am Boden. Der Sohn steht durchnässt und erstarrt daneben. Der Vater steht da, erzählt, dass sie seit sechs Stunden unterwegs seien. Dann sagt er nix mehr. Die Blitze knallen links und rechts von uns nieder. Ich habe eine zündende Idee und sage zum Mädchen: «Los zue, i 30 Minute simer i de Hütte, und dänn chasch ganz viili Suuri Zunge verspiise.» Das zitternde Mädchen: «Ich hasse Suuri Zunge!»
Ich fühle die elektrische Spannung. Das Gewitter ist genau über uns. Ich versuche es noch einmal: «Ich han verdammt Hunger. Entweder, du laufsch mir jetzt hindena, oder ich fuettere sNachtässe ellei!» Es hat genützt. Zwei(!) Stunden später kaut das Mädchen Saure Zungen. Ihr Bruder auch. Der Papa ebenfalls. Dankbar. Vor dem wunderbar wärmenden Holzofen.