Punta Ishinca und Ranrapalca
Wir sind auf 4900 m Höhe, bereit für das grosse Abenteuer, beglückt und doch etwas beunruhigt. Die Hütte, die uns als Basislager dient, ist noch einigermassen benutzbar, trotz den mit Steinwerk ausgemauerten Fensteröffnungen und dem Dach, durch das stellenweise die Sterne herein-sehen können. Sie steht auf einer Moräne, die zwei Gletscherseen trennt. Der obere entleert sich durch einen Kanal, der vor Jahren auf Anordnung des staatlichen Dienstes der Seenkontrolle gegraben wurde. Die von den Gletschern beim Rückzug hinter den Moränen geschaffenen Seen bilden für die Einwohnerschaft des Rio Santa-Tales bei Ausbrüchen eine grosse Gefahr. Man zählt in der Cordillera Blanca 230 Seen mit ein bis sechzig Millionen Kubikmeter Wasserinhalt ( was einer 10 cm Wasserschicht des Lac Léman entspricht ), und dies auf einer Höhe zwischen 4000 und 5000 m! Diese Seen sind meistens durch Moränen gestaut, die bei kleinsten Überschwemmungen zusammenbrechen können, so dass sich die Wassermassen in die Täler stürzen ( Ausbruch bei Huaras 1941, ca. 5000 Tote ).
Der grandiose Bergkessel, der an das Massiv des Mountet erinnert, macht auf uns einen gewaltigen Eindruck: vor uns die Punta Ishinca, 5500 m, die unsere Träger mit dem höheren Palcaraju, 6274 m, verwechseln. Sie berichtigen den Irrtum schalkhaft, indem sie ihn von da an als ihren « Palcaraju des dames » bezeichnen! Sodann der Ranrapalca, 6160 m, dessen Nordwand einen imposanten Eindruck macht. Talauswärts schaut man auf eine grosse Zahl von steilen Eisbergen.
Der erste Abend geht schnell vorbei. Rasch ist die Suppe gegessen. Vor Einbruch der Nacht sucht sich jeder in der Hütte zwischen all dem Material einen Liegeplatz.
Den folgenden Tag benützen wir, um die Hütte bestmöglich in Ordnung zu bringen: Reinmachen, Reparaturen, Materialauspacken, Lagereinrichten. Apo ist Maurer, Schreiner, Koch, Werkmeister. Mit Hilfe der dienstfertigen Träger, die in allen Arbeiten sehr geschickt sind, richten wir uns wohnlich ein, wobei sogar ein einfacher Kamin gebaut wird. Alles kostbare Material wird unterm Dach aufgehängt, damit es bestmöglich vor dem Staub - den es hier gar nicht gibtge-schützt sei. Bei aller Arbeit passt man sich dem durch die Höhe geforderten Rhythmus an: man meidet brüske Bewegungen, spricht wenig, unterlässt jede unnötige starke Anstrengung. Und zwischen grossen Blöcken findet ein jeder am See sein eigenes Badezimmer mit Toilette!
Das Wetter ist prächtig. Begeistert breche ich mit Eustaquio zu einer Erkundung auf. Der Träger nimmt sein altes Jagdgewehr mit und folgt der Spur einer Gemse. Auf 5100 m Höhe erreichen wir einen Grat. Herrliche Rundsicht! Aber alle Gipfel erscheinen mir unermesslich und schwer begehbar. Besonders der Ocshapalca, 5800 m, macht Eindruck, dieser unbestiegene Gipfel, den wir erreichen wollen. Sein Nordgrat, als zugänglichster Gipfelweg, endet in einem 200-300 m langen Eishang.
Gesichert steigen wir ab, über Fels und Moränenmassen aus Andesit ( eruptiv ), der in den Anden sehr feinkörnig ist. In tiefern Lagen klammern sich noch Stauden einer Lupinenart an die Felsen.
Auf dem Abendtisch steht kein Gemsbraten. Dafür Corned beef!
Den Abend verbringen wir diskutierend und mit Kartenspiel bei Kerzenlicht, den Rücken dem Kaminfeuer zugekehrt und den Kopf im Rauch, da das Cheminée schlechten Abzug besitzt. Apo weitet es aus, mehr als nötig, was unsere Träger mit Brummen quittieren.
Am nächsten Tag haben wir zur Höhenangewöhnung die Besteigung der Punta Ishinca vor.
Nach einer ruhigen Nacht brechen wir schon in der Dämmerung auf und steigen zwischen den Blöcken der Moräne zur Höhe. Es ist kalt, aber klar. Dann folgt der Einstieg durch ein Felscouloir in der Nordflanke, voraus Carlo, dann Apo, Georges, Eustaquio und ich. Über uns hängen Séracs und Wächten. Als wir das Eis erreichen, schnallen wir die Steigeisen an. In geschlossener Seilschaft steigen wir über die Gletscherbänke, sie sind ausgesetzt, aber wenig zerschründet. Der Schnee ist hart. Die Sonne brennt. Der Atem geht kurz. Auf 5200 m schalten wir einen Halt ein, der uns erlaubt, die Berge, die wir gestern gesehen, näher zu betrachten. Dann gehen wir über einen ziemlich steilen Hang den Vorgipfel unseres Berges an. Der Schnee ist von Sonne und Wind stark bearbeitet: wie mit Spitzenfransen bedeckt sieht die Oberfläche aus, die lshinca 5500 m anrapalca 6160 m Camps de base marche d' approche voll Furchen und Gräben ist, und der Aufstieg ist sehr mühsam. Wir erreichen einen exponierten Eisgrat, von dem aus man ins Tal hinabsieht, das nach Huaras führt. Vier Seen von verschiedener Farbe liegen auf Talstufen in der wunderbaren Landschaft. Ein kleiner See nimmt unsere Aufmerksamkeit besonders in Anspruch: es ist der Rest des Sees, der 1941 seine 150 bis 200 m hohe Talmoräne durchbrach und sich auf Huaras ergoss!
Um 11 Uhr stehen wir auf dem Gipfel der Punta lshinca. Infolge der Höhe sind wir etwas hergenommen. Die Rundsicht begeistert uns. Jeder ist von seiner Akklimatisation befriedigt. Da fegt ein Windstoss auf und will Carlos Hut forttragen. Gewandt vermag er ihn mit wendigem Sprung in den pulvrigen Schnee zu fassen!
Glücklich über unsern Erfolg steigen wir frohgestimmt ab. Aber beim Überschreiten der Moräne brummt uns doch der Kopf. Am Abend verspüren wir ein Erdbeben und hören die in den Eisflanken brechenden Séracs.
Am Morgen des andern Tages teilen wir uns in zwei Gruppen. Die meinige macht sich mit den zwei Trägern auf, um Material und Lebensmittel auf einen Übergang hinaufzutragen, 5300 m, der zwischen Punta lshinca und dem Ranrapalca, 6200 m, dem nächsten Gipfel, den wir besteigen wollen, liegt. Der Weg führt uns über eine lange Moräne, anfänglich steinig, dann recht sandig und beweglich. Über einen welligen Gletscher erreichen wir den Sattel und deponieren unsere Lasten auf dem Eis. Die ausserordentlich klare Luft dieser trockenen Winterszeit erlaubt uns, unsere Kameraden zu erkennen, die ihrerseits die Punta Ishinca bestiegen haben. Wir versuchen den direkten Abstieg über die vereiste Nordflanke und über den Ishinca-Gletscher, um die Moräne zu umgehen. Doch zeigt sich in der Folge diese Route als schwieriger: breite Spalten, unsichere Brücken und die offene Gefahr von Serac-Einbrüchen lassen uns das Vorhaben aufgeben, und wir steigen in der Aufstiegsspur ab.
Der Tag endet mit einem prächtigen Sonnenuntergang, ein Schauspiel zwischen Traum und Wirklichkeit.
Am andern, sonnigen und klaren Morgen, mache ich am Seil mit den Trägern in einem Eiltempo den Aufstieg zum Lager auf dem Sattel mit. Und munter beginnen wir, die Träger mit 30 bis 40 kg Gepäck, die ersten Seillängen zum Ranrapalca. Zwischen grossen Eisblöcken steigen wir mühelos auf. Aber mit dem Zunehmen der Sonnenhitze und der Rückstrahlung kommen wir langsamer voran. Die Rundsicht weitet sich. Um 10.30 Uhr erreichen wir die Höhe von 5580 m und errichten auf einem kleinen Plateau zwischen Spalten und Séracs ein Lager. In kurzer Zeit haben die geschickten Träger die Zelte aufgestellt und die Matratzen aufgeblasen. Als Carlo und Georges nachkommen, können wir sie schon im eingerichteten Lager willkommen heissen. Mit einem kameradschaftlichen Handschlag auf den Rücken verabschieden sich die beiden Träger. Wir richten uns völlig ein, alles mit sparsamster Kraftanwendung, reden wenig und geniessen dafür die Rundsicht. Gegen Abend ziehen aus der Richtung des Amazonas her Wolken heran, die unsern Gipfel einhüllen. Trotzdem bleibt die Sicht auf 200-300 km gut und klar.
Wir kriechen in die Zelte und brauchen etliche Minuten, bis wir in unsere Schlafsäcke eingepackt sind. Die Nacht vergeht ordentlich. Hin und wieder wachen wir plötzlich auf, da ein heftiger Wind die Zelte rüttelt. Am Morgen ist der Himmel bedeckt. Wir warten ab und entschliessen uns dann, den Aufstieg zum Gipfel auf den folgenden Tag zu verschieben. Der Tag geht im Sinnen und Dahindösen vorbei. Wir empfinden zutiefst die Weltabgeschiedenheit. Aber rasch vergehen die Stunden, derweil der Hunger wächst, wir halten uns an « peruanische Bonbons », um den etwas knappen Proviant zu strecken.
Mit einemmal verspüre ich, dass der Pickel, auf dem ich sitze, langsam einsinkt. Und wir merken, dass unsere Zelte auf einer Schneebrücke stehen! Da wir aber bereits eine Nacht auf ihr verbracht haben und sie uns stark genug scheint, bleiben wir am OrtDer Tag geht wieder mit dem Schauspiel eines Sonnenunterganges zu Ende, wobei die Sonne hinter Wolken und auf den Gletschern der uns umgebenden Sechstausender Verstecken spielt. Wie am Vorabend wiederholt sich die langwierige Zeremonie des Schlafengehens. Es folgt eine kalte Nacht. Der Atem bildet Rauhreif, der einem auf das Gesicht zurückfällt.
Tagwache um halb 5 Uhr! Wir sind steif vor Kälte. Der Kocher flackert im Zelt. Mühsam schnallen wir die Steigeisen fest. Unter einem Himmel voll unendlich vieler Sterne beginnen wir den Anstieg, Carlo an der Spitze, hinter ihm Georges. Der erste Hang ist sehr steil. Wir gehen langsam, traversieren im Halbdunkel des werdenden Tages eine gewaltige Spalte auf einer schmalen Brücke. Und wir erleben einen prächtigen Sonnenaufgang! Nach dem Überschreiten des Bergschrundes geht der Weg in einen ausgedehnten Schneehang über, der fast bis zum Gipfel reicht. Anfänglich ist die Steilheit mässig, so dass wir gemeinsam gehen können. Der Schnee ist hart. Dann wird der Hang steil und ist von Eis und Felsplatten durchsetzt. Wir müssen hacken und kommen langsamer vorwärts, was uns aber Zeit gibt, die Bergriesen ringsum zu bewundern. Auf 6000 m erreichen wir einen Schneerücken, wo kalte Windstösse uns fast den Atem rauben. Aber das Wetter ist klar. Im langsamen Schritt steigen wir den Gipfelaufbau hinan und erreichen ihn um 10 Uhr: 6200 m. Unsere Freude ist gross! Wir beglückwünschen im besondern unsern Veteranen Georges, der mit Ausdauer voranschritt und uns mitzog.
Die Sicht reicht Hunderte von Kilometern weit. Besonders fesselt uns der Ocshapalca mit seiner unbesteigbaren Südflanke, der Huascaran mit seiner ungeheuren Masse und dem Wald von aneinandergereihten Gipfeln. Näher stehen der Tocllaraju, der Palcaraju, der grosse Huantsan mit seinen 6400 m Höhe, den Terray erreichte. 3000 m unter uns zeigt sich Huaras, hebt sich mit dem weissen Häusermeer aus der Tiefe der Cordillera Negra heraus. Grüne Wellen deuten in der Ferne den Beginn der Urwälder an.
Dann steigen wir ab. Carlo ist vom Ostgipfel des Ranra angelockt, ein vielleicht noch unbestiegener Gipfel, dessen Umriss einem Spitzbogen gleicht, ein 15 m hoher Eiswulst, durch einen breiten Bergschrund abgegrenzt. Aber unser Freund verzichtet! Und bald stehen wir mitten über dem grossen Hang. Mit Sicherung steigen wir über einzelne Pfeiler ab und erkennen bald, winzig klein, unsere Kameraden im Zwischenlager. Und durstig erreichen wir sie und erzählen von der prächtigen Fahrt, welche sie morgen ebenfalls ausführen werden. Wir steigen mit Eustaquio bei drückender Hitze zur Hütte ab; der Schnee ist schwer. Als letzter am Seil lasse ich mich mitziehen, wie halb im Schlaf. Plötzlich brechen die Spuren, welche die Gefährten getreten haben, ein. Ich falle rückwärts - und schon gleite ich ab und reisse Eustaquio mit. Aber Carlo fängt uns beim « Vorbeifahren » auf, einen nach dem andern, so dass unsere Seilschaft nach 50 m Gleitbahn wieder geordnet ist, nur in umgekehrter Reihenfolge. Georges sitzt in stoischer Ruhe im Schnee. Er hat uns abgebremst. Eustaquio ist wütend, da ein Steigeisen seinen Hut durchlöchert hat, lacht aber bald wieder und zeigt dabei seine weissen Zähne.
Mühsam, aber doch triumphierend erreichen wir über die Moräne die Lagerhütte, bereiten uns ein königliches Mahl. Und in der Nacht schlafen wir gut. Es folgt ein Ruhetag mit Toilette im eiskalten, schlammigen See und einem reichlichen Mittagessen. Nachmittags steigen wir wieder zum « Beobachtungsgrat » auf, bei klarem Wetter, das auch unsern Kameraden zugut gekommen ist. Wir sehen sie eben über den letzten Pfeiler absteigen. Da bemerken wir, dass sie am selben Ort, wie wir am Tag zuvor, das gleiche Manöver erleben: der Obere ist unten, der Untere oben! Aber auch für sie: Ende gut, alles gut!
Da von hier aus keine weitern Gipfel zu ersteigen sind, verlassen wir, nicht ohne Bedauern, diesen prächtigen Bergkessel, der uns den ersten Einblick in die Cordillera Blanca schenkte.
Albert Bezing, Lausanne