Prekäres Leben in der Hochgebirgswüste. Unterwegs mit Ladakhs Nomaden
PREKÄRES LEBEN IN DER HOCHGEBIRGSWÜSTE
PREKÄRES LEBEN IN DER HOCHGEBIRGSWÜSTE
Unterwegs mit den Herden auf der Suche nach Futter in den kargen Bergen von Kharnak. Die Schaf- und Ziegenherden verlassen jeden Morgen das Lager auf der Suche nach Gras. Eine durchschnittliche Herde zählt 200 bis 300 Schafe und Ziegen.
Foto: Thomas Zwahlen T E X T / F o T o sThomas Zwahlen, Parpan
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er 85-jährige Meme Sonam reibt sich die kalten Hände. Es ist halb vier Uhr morgens im September, und die Temperaturen hier auf fast 5000 Metern im Changthang, einem kargen Hochplateau in Ladakh, liegen weit unter dem Gefrierpunkt. Bereits zum dritten Mal zurrt er seine selbst gewobenen und prall gefüllten Säcke fester auf den grossen, schwarzen Yak. Er will sein Hab und Gut nicht verlieren. Ein Pfiff gellt durch die Nacht, 400 schwer beladene Yaks setzen sich in Bewegung. Die 25 Familien der Kharnak-Nomaden machen sich mit Hab und Gut auf den Weg, sie suchen nach Gras, das dieses Jahr auf den Hochebenen Ladakhs nur sehr spärlich wächst.
Ladakh ist ein kleines, ehemaliges Königreich im indischen Himalaya. Es ist eine landschaftlich spektakuläre Hochgebirgswüste. Unzählige, steile Bergketten, tiefe Schluchten und weite Hochplateaus prägen die Landschaft. Der Monsun, der Indien im Sommer beherrscht, wird von den hohen Gebirgsketten ferngehalten. Wegen des mangelnden Niederschlags haben sich die meisten Einwohner Ladakhs an Fluss- und Bachläufen niedergelassen. Das Wasser für die kleinen Felder wird kilometerweit durch Kanäle geleitet. Die wenigen Siedlungen leuchten wie grüne Oasen in der braunen Landschaft. Der Hauptsiedlungsraum liegt in einer Höhe zwischen 3500 und 4500 Metern.
Die « Porsches » von Ladakh: Die kleinen, überraschend schnellen Pferde sind das ideale Fortbe we-gungsmittel auf dem weiten Hochplateau des Changthang.
Phuntsog, die kleine Tochter des Nomadenführers Tsering Angchuk, wird für den Lagerumzug warm eingepackt und auf einen Yak gebunden.
Informationen zu Ladakh Land und Leute Ladakh ist eine dünn besiedelte Region im indischen Himalaya. Rund 150 000 Einwohner leben auf einer Fläche, die anderthalb Mal so gross ist wie die schweiz. Der grösste Teil der Bevölkerung folgt dem tibetischen Buddhismus. Klima Ladakh ist sehr niederschlagsarm. Auf einen kurzen, heissen sommer folgt ein langer Winter, während dessen Temperaturen unter –40 Grad Celsius in den Bergen keine seltenheit sind. Changthang Changthang ist ein karges Hochplateau in Ladakh, das bis weit nach Tibet reicht. Kharnak ist eine Region dieses Gebiets. Nur einige Noma den durchstreifen die Gegend auf der suche nach Gras für ihre schaf-, Ziegen- und Yakherden.
AbwanderungVor zehn Jahren lebten über 90 Familien in Kharnak, jetzt sind noch 25 übrig. Es hat eine grosse Abwanderung stattgefunden, und viele Nomaden haben ihren Lebensstil aufgegeben. Thomas und Martina Zwahlen haben während Monaten die Nomaden der Changpa Ladakhs begleitet. Auf ihre Initiative hin wurde im sommer dieses Jahres eine mobile Zeltschule eröffnet.
Die ersten Bewohner Ladakhs waren nicht sesshaft, sondern Nomaden. Von Tibet herkommend durchstreiften sie mit ihren Herden die Hochebenen Ladakhs. Ackerbau ist hier wegen der durchschnittlichen Höhe von mehr als 4500 Metern und der eisigen Winter nicht möglich. Die Nachfahren dieser ersten Bewohner Ladakhs sind auch heute noch mit ihren Herden unterwegs. Ihr Leben hat im Verlauf der Jahrhunderte kaum Veränderungen erfahren. Auch die Changpa aus der Region Kharnak leben so wie Generationen ihrer Vorfahren. Die Familien Kharnaks wohnen einen guten Teil des Jahres in selbst gewobenen Nomadenzelten. An ihren Winterlagerplät-zen aber haben sich die Nomaden in den letzten Jahren kleine Steinhäuschen gebaut, zwar nicht an den Komfort der geräumigen Nomadenzelte heranreichen, aber sicherlich einen besseren Schutz vor der Witterung bieten. Jede Familie besitzt eine Herde von 100 bis 300 Schafen und
Auf grossen Yaks wird Hab und Gut vom letzten ins neue Lager transportiert.
Fotos: Thomas Zwahlen
Ziegen und ein, zwei Dutzend Yaks. Ihr ganzer Stolz sind aber die Reitpferde. Ein schnelles Pferd ist immer noch das beste Fortbewegungsmittel auf den weiten Hochebenen und als Statussymbol ebenso viel wert wie hierzulande ein Ferrari.
Jeden Tag verlassen die Hirten mit ihren Herden die Lager auf der Suche nach Futter. Wenn die Tiere am Abend zurückkommen, werden sie in langen Reihen aufgestellt und gemolken. Die Milch wird zu Joghurt, Butter oder Käse verarbeitet. Beim Buttern wird die Milch in einem aufgeblasenen Schafsmagen so lange von Hand geschüttelt, bis sie zu Butter geworden ist. Das dauert Stunden! Die meisten Güter des täglichen Bedarfs werden selber hergestellt, aber schon immer war der Handel ein wichtiger Nebenerwerb für die Nomaden.
Weisses Gold
Meme Sonam und die Seinen haben die Zelte im neuen Lager aufgeschlagen. Die erste Nacht ist um. Früh am Morgen herrscht grosse Betriebsamkeit. Bald ist der Grund dafür zu sehen. Ein klappriger Pick-up holpert aufs Lager zu und zieht eine lange Staubfahne hinter sich her. Die vor einigen Jahren gebaute Jeeppiste besteht nur aus Schlaglöchern, hat die Nomaden aber ein bisschen näher an die Zivilisation gebracht. So kommt nun auch der Händler hierher, um die Wolle der Schafe und Ziegen abzuholen. Schnell schleppen die Nomaden prall ge-stopfte Säcke herbei. Besonders begehrt ist die Kaschmir- oder Paschminawolle der Ziegen, die hier produziert wird. Beides kommt von der Kaschmirziege, mit Pasch-mina wird lediglich die beste Qualität bezeichnet. Diese Wolle wird den jungen Tieren aus dem Brustbereich gekämmt. Die langen Winter mit Temperaturen von bis zu –40 Grad Celsius lässt den Ziegen in Ladakh eine spe-
Ein Teil der Yak-, Schaf- und Ziegenwolle wird von den Nomaden selber weiterverarbeitet. Aus den gewobenen Stoffbahnen entstehen Zelte, Kleider oder Vorratssäcke. Auf einer Höhe von 4500 Metern schlagen die Nomaden ihr neues Zeltlager auf, das für ein bis zwei Monate ihr Zuhause sein wird. Dann ziehen sie erneut weiter zu anderen Weidegründen.
Fotos: Thomas Zwahlen Tsering Angchuk, der junge Führer der Nomaden, kämmt die feine Paschminawolle aus dem Fell seiner Ziegen.
Der kleine Eisenofen ist der Mittelpunkt in jedem Zelt. Das rare Brennmaterial besteht vor allem aus Yakmist.
ziell gute, sprich dichte Wolle wachsen. Wegen der hohen Preise für Paschminawolle haben viele Nomaden ihre Schafe gegen Ziegen eingetauscht, mit weitreichenden Folgen für die Weidegründe. Die Ziegen reissen beim Fressen das Gras mitsamt den Wurzeln aus. Die sowieso sehr dünne Humusschicht verliert so den Halt und wird von den häufigen Sturmwinden weggetragen. Ehemals gute Weidegründe werden zu Wüstenlandschaften.
Die Nomaden und der Wollhändler kommen in Fahrt. Eifrig wird über die Qualität diskutiert und noch engagierter um den Preis gefeilscht. Die Paschminawolle, das weisse Gold der Steppen des Changthang, ist heute genauso begehrt wie früher. Die Wolle wird noch viele Male weitergehandelt werden, bevor sie dann zu Schals oder Kleidern verarbeitet bei uns im Laden hängt.
Salzkarawanen
Meme Sonam schaut dem emsigen Treiben zu. Er seufzt. Mit den Preisen des Wollhändlers ist er nicht zufrieden. Früher hat er die Wolle auf dem Rücken von Schafen nach Leh, dem Hauptort von Ladakh, oder südlich über den Himalaya gebracht und gegen Waren wie Mehl, Zucker oder getrocknete Aprikosen eingetauscht. Und dabei mit zähem Handeln immer einen guten Gegenwert bekommen. Aber seit Jeeppisten viele Winkel des Himalaya miteinander verbinden, nehmen die Jungen die wochenlangen, beschwerlichen Märsche nicht mehr auf sich und geben sich lieber mit einem niedrigeren Wert zufrieden. Der Höhepunkt des Jahres waren für Meme Sonam die Salzkarawanen nach Tibet. Auf monatelangen Märschen hat er früher Salz auf dem Rücken von Schafen nach Zanskar transportiert. Der Reichtum lag in Tibet auf dem Boden und musste nur noch in Säcke geschaufelt werden. Für ein Kilogramm Salz hat er damals zwei Kilo Getreide erhalten. Das waren noch Zeiten!
Der Einmarsch der Chinesen in Tibet 1950 und die darauf folgende Schliessung der Grenze zu Indien setzten dem Salzhandel ein jähes Ende. Meme Sonam seufzt beim Gedanken daran tief, steht auf und klopft sich den Staub aus seinem Schafwollmantel, der nicht ebenso alt ist wie
er. Er dreht seine Gebetsmühle und murmelt leise das buddhistische Mantra « Om mane padme hum ». Dann läuft er bedächtig zu seinem Zelt, in Gedanken versunken an die gute, alte Zeit.
Auf der Suche nach Gras
Tsering Angchuk, ein junger Führer der Nomaden Kharnaks, macht sich Sorgen. Dieses Jahr hat es kaum Gras. Vor zwei Jahren hatten Heuschrecken das Gebiet heimgesucht, und im letzten Winter ist nur wenig Schnee gefallen. Jetzt fehlt das Schmelzwasser, das Gras wächst schlecht. Auch um das neue Lager herum ist das wenige Gras bereits abgefressen. Das heisst weiterziehen. So früh haben die Nomaden diesen Weideplatz noch nie verlassen müssen. Angchuks Leute ziehen auf die für die harten Wintermonate reservierten Weidegründe. Nachdem aber auch der « Onpo » der Astrologe, in den Sternen Zeichen gesehen hat, die für einen frühen Lagerwechsel sprechen, brechen die Nomaden auf. In der Hoffnung auf einen nicht allzu strengen Winter.
Drama im Winter
Alle Hoffnung war vergebens. Das zeigt sich bei meinem nächsten Besuch im Winter. Bereits in Yagang, eigentlich einem Herbstlager der Nomaden, treffe ich überraschend auf Hirten mit Herden. Sie erzählen, dass dieser Winter aussergewöhnlich schneereich und kalt sei. Wegen des wenigen Grases im Winterlager haben sie den gefährlichen Marsch über den Yar La gewagt. Yar La, das heisst
Fotos: Thomas Zwahlen Meme Sonam beim Lesen der heiligen buddhistischen Schriften.
Der Astrologe der Kharnaknomaden bestimmt den Zeitpunkt des Lagerwechsels.
Im Schneesturm und bei –30 Grad überqueren die Nomaden den 5000 Meter hohen Pass Yar La, um eingeschlossenen Tieren zu helfen.
Sommerpass. Ohne triftigen Grund sollte er wegen der Schneemassen im Winter nicht begangen werden.. " " .Wegen des fehlenden Futters haben die Nomaden die Hälfte der Tiere über den 4970 Meter hohen Pass getrieben, um sie hier einige Wochen weiden zu lassen. Kaum hatten sie aber Yagang erreicht, hat ein gewaltiger Schneesturm das Land mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Die Situation ist dramatisch. Unter dem Schnee ist kaum Futter zu finden, und so sind einige ältere Tiere bereits verhungert, und die vor wenigen Tagen geborenen Zicklein saugen hungrig an den leeren Eutern ihrer Mütter. Der Schnee liegt auf dem Yar-La-Pass nach dem Sturm zu hoch, als dass die Hirten mit den Schafen und Ziegen zurück zu den anderen Nomaden ins Winterlager gehen könnten. Es muss zuerst eine feste Spur gestapft werden. Ein Nomade will auf der anderen Seite des Passes Hilfe holen, und ich begleite ihn. Nach einem tagelangen Marsch in hüfttiefem Schnee erreichen wir völlig erschöpft das Winterlager. Dieses liegt zwar geschützt in einem Seitental, es hat aber wirklich nur sehr wenig Gras auf den Weiden. Die Nomaden freuen sich, uns zu sehen, aber schon bald werden ihre Gesichter ernst. Als sie von der Situation auf der anderen Seite des Passes hören, beschliessen sie, mit Pferden eine Spur durch den hohen
Die Changpa ( ladakhische Bezeichnung für Nomaden ) verlassen ihre Winterplätze und ziehen mit ihren Herden während Tagen zu neuen Weidegründen.
Schnee des Passes zu treten und die anderen Hirten und Tiere ins Winterlager zurückzuholen. Mit einer ganztägigen Gebetszeremonie bitten die Nomaden um den Beistand der Götter für das schwierige Unterfangen.
Am folgenden Tag kurz nach drei Uhr morgens macht sich ein Dutzend Nomaden mit Pferden auf den Weg. Jemand drückt mir die Zügel eines Pferdes in die Hand. Den ersten, kleinen Pass überqueren wir zu Fuss in einem Sandsturm. Der kalte Wind zerrt und reisst an meinem Schaffellmantel. Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich keine zwei Meter weit. Meine Finger spüre ich schon lange nicht mehr. Langsam wird es heller. Jetzt erst steigen wir auf die Pferde. In Einerkolonne reiten wir durch die einsame Schneelandschaft, und immer wieder versinken die Pferde bis zum Bauch im tiefen Pulverschnee. In Sturm und Nebel ist auch für die ortskundigen Nomaden die Orientierung schwierig. Wir reiten seit acht Stunden ohne Pause, und noch immer ist der Pass nicht in Sicht. Da reisst plötzlich der Nebel auf, und wir sehen den « Chörten », einen tibetischen Kultbau, der den Pass Yar La markiert. Die Götter sind mit uns.
Am Abend treffen wir nach einem 16-stündigen Mam-mutritt in Yagang ein. Die Nomaden sind froh, uns zu sehen. Am nächsten Morgen machen sie sich mit ihren Herden auf den Rückmarsch ins Winterlager, und die Pferde gehen zum Anspuren vorneweg. Der Weg führt aus der schlimmsten Not in eine ungewisse Zukunft. a
Foto: Thomas Zwahlen
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