Polar-Alpinismus: Expedition Jura-Grönland 1973
Louis Froté, Miécourt
An der Ostküste Grönlands: 42 Tage Ganz hinten im Fjord Sangmilik, abgeschnitten von aller Welt durch das manchmal bis zum Ufer vorstossende Packeis, hoffen wir fünfzehn auf die Rückkehr des schönen Wetters. Seit unserer Abfahrt von Reykjavik haben wir ständig entsetzliche meteorologische Bedingungen vorgefunden.
Während ich in meinem Schlafsack liege und der Regen auf das Zeltdach trommelt, vertreibe ich mir die Zeit damit, mir die wichtigsten Ereignisse, die sich seit unserer Abreise aus der Schweiz abgespielt haben, ins Gedächtnis zurückzurufen.
Zehn Tage sind es her, seit wir unsere Familien verlassen haben, ein wenig aufgeregt und, wie ich gestehen muss, bei dem einen oder andern mit Tränen in den Augen. Von überall waren sie gekommen, um unserer Abreise beizuwohnen: zahlreiche Verwandte, Freunde und Bekannte; sogar der Bahnhofvorstand hatte sich der mitfühlenden Menge angeschlossen, indem er uns durch den Lautsprecher viel Glück wünschte.
griffen worden, bis 1973 die Entscheidung brachte. Es war eine Expedition der Indo-Tibe-tan Border Police unter dem Kommando von Joginder Singh, die vom Shayok River über den 30 Kilometer langen Kunchang Glacier vorrückte. Am 5.Juni 1973 und den folgenden zwei Tagen erreichten den Hauptgipfel inmitten dreier Nebengipfel, die alle über 7300 Meter hoch sind: Y. C. Khanna, G. S. Bhangu, Temba Tarkey, Dawa Temba, Roshan Lai, Bidhiman, Rinjee und Rabgias, also acht Mann. Die indisch-tibetische Grenzpolizei kann mit Recht auf diese Leistung stolz sein.
Quellen: AAJ 1974, p.215/216; AJ 1974, p.254; Kamal K. Guha, Himalayan Club.
Nun flitzt der Zug gegen Luxemburg. An unsern Augen zieht die Landschaft des Elsass vorbei: Mülhausen, Colmar, Strassburg, dann Saverne, Sarreguemines, Thionville und die luxemburgi-sche Grenze.
Die Stadt Luxemburg ist mir unbekannt. In dieser Ferienzeit wird sie von Passanten überschwemmt und entspricht gar nicht unserem Wunsche, mit fremden Ländern vertraut zu werden. Aber Geduld... Jedes Ding zu seiner Zeit. Schon morgen wird unsere Neugierde einigermassen gestillt werden.
Wer gestern abend Pinten und Bars besucht hat, findet das Aufstehen ziemlich grausam. Überdies brennt die Sonne so heiss, dass uns fast der Kopf platzt. Wenn das keine Ironie ist, verglichen mit dem, was uns erwartet!
Im Flughafen betreiben wir beim Aufgeben des Gepäcks unsere Frühgymnastik, indem wir uns möglichst schwer machen, damit unsere Säcke leichter scheinen. Ich muss allerdings zugeben, dass die Angestellten höflich und voller Verständnis sind. Wenn sie einen schweren Sack vor sich haben, drücken sie ein Auge oder sogar beide zu.
Durch die Luken der DC-8 können wir aus einer Höhe von ungefähr i o 000 Metern die Küsten Englands erkennen, die wie auf einer Geographiekarte eingezeichnet sind. Manchmal spielt das Flugzeug mit den unter uns schwebenden Wolken Verstecken. Bald landen wir in Keflavik.
Der Bus, der uns nach Reykjavik bringt, muss sich zwischen gemütlich der Strasse entlang trot- tenden Ziegen und Schafen hindurchschlängeln. Auf beiden Seiten ist der Boden wie eine Wüste mit karger Vegetation. Die Erde scheint in einem furchtbaren Vulkanausbruch geborsten zu sein.
Reykjavik ist eine malerische « Gross»-Stadt von etwa 90000 Einwohnern. Die Häuser sind bunt, vor allem grün und gelb angestrichen. In den Schaufenstern der Läden kann man prächtige, aus der weltbekannten Schafwolle geschnei-derte oder gestrickte Kleider bewundern. Erste Überraschung: die Dämmerung dauert an; wohl verdunkelt sich der Himmel, und es ist fast Nacht, aber ganz finster wird es nicht. Trotzdem sind die Strassenlaternen angezündet. Das Wetter ist unfreundlich und mit i °C kalt für die Jahreszeit. Unaufhörlich fällt leichter Regen. Wir übernachten in der Nähe des Flugplatzes.
Mit dem Flugzeug, das uns nach Grönland bringen soll, einer Fokker mit einer Kapazität von vierzig Plätzen, reist noch eine andere Schweizer Expedition. Nun beginnt das grosse Abenteuer. In der Maschine schreiben wir die letzten Postkarten. Nur noch ein paar Stunden, und wir werden dieses seit langem erträumte Land betreten.
Drei Jahre lang haben wir an der Organisation dieser Expedition gearbeitet, haben Tag um Tag zusammengefügt. Heute ernten wir endlich die Früchte unserer Arbeit. Aber was gab es vor dem Tag X für Probleme: Reise, Verpflegung, Material, Ausrüstung, Schiffahrt, Photographie, Kine-matographie, nicht zu reden von den finanziellen und administrativen Aufgaben!
Mit einem freundschaftlichen Rippenstoss reisst mich unser Expeditionsleiter aus meiner Träumerei. Er zeigt mir durch die Luke die unermessliche weisse, von Eisbergen übersäte Fläche des Packeises. Dann erblicken wir die ersten Bergketten. Die Fjorde, von denen wir so oft gesprochen haben, ziehen und winden sich ins Innere des Landes hinein. Je mehr das Flugzeug an Höhe verliert, um so deutlicher wird das Relief; die Bergketten treten hervor und erinnern uns ganz eigenartig an die europäischen Massive. Jetzt taucht das erste Eskimodorf auf. Vielleicht um uns die Überraschung zu ersparen, verkündet der Pilot lakonisch:
« Kulusuk, Temperatur + 4° !» Gestern gab der Kapitän beim Abflug in Luxemburg + 330 an. Das ist doch ein spürbarer Unterschied, und wir werden uns danach richten müssen.
Kulusuk: ein Wartsaal von ungefähr 30 Quadratmetern, einige Baracken, eine einmalige, auf einer Moräne angelegte Piste, und schon haben wir den ganzen Flugplatz gesehen. Brr... trotz der Sonne ist der Wind eiskalt. Die schweren Säcke auf dem Rücken, gehen wir zu Fuss nach Kap-Dan hinunter. Kein einziger Baum, nur ein paar Grasbüschel. Der aus Granit und Moränen bestehende Boden ist von Schneefeldern bedeckt, die sich bis zu den Fjorden hinziehen. Auf diesen bilden vereinzelte Packeisplatten einen schönen Kontrast zu dem reinen Blau des Meeres. Weiter hinten erheben sich überraschend und majestätisch die Eisberge. Da und dort ein mit einem schneeweissen Kreuz geschmücktes Grab. Oft ist der Tote nur auf den Boden gelegt und mit schweren Steinen zugedeckt worden. Es kommt sogar vor, dass man zwischen den Steinen das Skelett des Verstorbenen erkennen kann.
Im Dorf werden wir von Kindern und Erwachsenen jeden Alters empfangen. Unsere Anwesenheit macht sie etwas nervös. Wir benützen die uns zur Verfügung stehende Zeit, um uns die Umgebung anzuschauen. Hier gibt es keine Strassen und sicher auch keine Autos. Die Häuser sind aus importiertem Holz gebaut. Vor jedem sehen wir mehrere Hunde, die berühmten Schlittenhunde der Arktis-Bewohner. Gegen 21 Uhr kommt das Boot in Sicht, das uns nach Angmagssalik bringen soll. Voller Freude begrüssen wir zwei unserer Kameraden, die eine Woche vorher abgereist sind. Auf dem für so viele Leute zu kleinen Schiff zusammengedrängt, schaukeln wir gegen die Hauptstadt. Da wir wegen des Packeises einen Umweg machen müssen, kommen wir erst um t Uhr morgens endlich am Ziel an.
Nach einigen Stunden wohlverdienter Ruhe benützen wir den Rest des Tages, das per Schiff beförderte Material und die Nahrungsmittel zusammenzustellen. Welche Arbeit! Im Hafen geht alles drunter und drüber, und zu unserem Ärger fehlt ein Boot. Nach einigen Stunden nutzlosen Suchens kaufen wir ein neues, um das verlorengegangene zu ersetzen. Am nächsten Morgen fahren wir von Angmagssalik nach Quernertivartivit, dem Ziel der ersten Etappe. Das Fahren in den Fjords ist mühsam, da die Boote überladen sind und der Platz beschränkt ist. Es ist unmöglich, sich zu bewegen. Nach vier bis fünf Stunden Fahrt sind die Männer schon ganz steif vor Kälte. Ein eisiger Regen peitscht uns unaufhörlich ins Gesicht. Dichter Nebel liegt über dem Wasser. Die Temperatur beträgt kaum + 2 °C. Was ist aus der heissen Sonne von Luxemburg geworden?
Auf der Insel Quernertivartivit finden wir ein verlassenes Dorf. Immerhin haben die Eskimos ihre Unterkünfte für die Hunde zurückgelassen, als sie die Insel verliessen. Die armen Tiere sind halb verhungert und bieten einen trostlosen Anblick.
Am Morgen werden die Boote wieder beladen, und die Fahrt geht weiter. Vier Tage lang folgt eine Etappe der andern, von den phantastischen Eisbergen als einzigen Weggefährten begleitet. Die Boote sind trotz der schweren Lasten von erstaunlicher Beweglichkeit und Sicherheit. Auch die Fahrer haben sich gut angepasst. Sie spielen mit dem Packeis mit unglaublicher Fertigkeit.
Nach Quernertivartivit landen wir in Tuno, dann in Sermiligâq und schliesslich ganz hinten im Fjord Sangmilik, wo wir das Basislager aufschlagen wollen.
Wir brauchen zwei Tage, um etwa fünfzehn Meter über Meer das Lager einzurichten. Ein geräumiges Zelt wird aufgestellt und soll den Männern dazu dienen, die Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen und die weiteren Unternehmungen zu organisieren. Das Material und die Reserve-Ver-pflegung werden in einem anderen Zelt untergebracht. Die Rationen werden kontrolliert, gebucht und für die weiteren Lager aufgeteilt.
Es ist vielleicht interessant, hier zu erwähnen, dass eine solche Expedition ausserordentlich schwere Lasten erfordert: Führten wir bei der Abfahrt von Angmagssalik doch wahrhaftig beinahe vier Tonnen Material und Lebensmittel mit, die wir in neunzig Behälter verteilt hatten! Auch mag es den Leser interessieren, zu erfahren, was für alpines Material wir mitgenommen haben: 2000 Meter Seil, 300 Haken, too Eisschrauben, 200 Karabiner, 16 Paar Steigeisen, 16 Paar Ski mit Seehundsfellen, 16 Pickel, 20 Hammer, t Gram-minger-Sitz, pro Mann 2 Paar Schuhe, nicht zu vergessen das kleine Material, das ich unmöglich genau aufzählen kann, das photographische und kinematographische Material und die Apotheke.
Ausserdem verfügt jeder Teilnehmer über ein zweiplätziges Zelt und eine kleine persönliche Küche, was ihm unter diesen Lebensbedingungen eine besonders geschätzte Selbständigkeit erlaubt. Anderseits erweist sich dieses System als sehr vorteilhaft bei der Verlegung der vorderen Lager, denn mit beschränktem Material haben zwei Mann in einem Zelt Platz, und die Küche genügt für die Zubereitung der Mahlzeiten.
Das düstere Wetter der letzten Tage scheint uns sitzenzulassen! Heute werden wir mit einem wolkenlosen Himmel und einer wohltuenden Sonne verwöhnt, aber sobald sie einige Zeit hinter den Gipfeln verschwindet, wird es merklich kälter.
Und natürlich müssen wir uns an den arktischen Tag gewöhnen und auch daran, trotz der fehlenden Dunkelheit zu schlafen. An den ersten Eisdome, die sich im klaren Polarwasser spiegeln 2Basislager 3Der Knud-Rasmussen-Gletscher bricht direkt ins Meer ab 4 Meer und Gebirge in unmittelbarer Nachbarschaft 5Unendliche Gletscherwelt: der Knud-Rasmussen-Gletscher. vom Tsenebjerg aus 6Die Gipfelwelt vom Redebjerg aus Photos Jura-Grönland-Ex pedi tu m Tagen haben wir beim Erwachen geschwollene Augenlider, aber nach einer Woche verschwinden diese Beschwerden.
Tag für Tag müssen wir nun Lasten tragen. Schon ist ungefähr sechs Wegstunden vom Basislager entfernt Lager i aufgeschlagen. Wir erreichen es über aufeinanderfolgende Moränen und einige Felsbarrikaden ohne grosse Schwierigkeiten. Nach anderthalb Stunden Marsch kommen wir durch eine Passlücke auf einen Gletscher, der gegen die Mitte des Massivs hinaufsteigt, soweit das Auge reicht. Da beginnen die endlosen Ski-märsche mit Lasten zwischen 30 und 35 Kilo, die für die Versorgung der Spitzenmannschaften bestimmt sind. Vom Basislager und vom Lager r aus sind uns zwei Besteigungen gelungen.
Auch andere Gruppen stossen vor. Lager 2 ist auf einer Moräne über dem ungeheuren Rasmus-sen-Gletscher aufgeschlagen.
Das schöne Wetter, das uns an den vergangenen Tagen die Aufgabe sehr erleichtert hat, ist dem jetzt tückisch Berge und Gletscher verhüllenden Nebel gewichen. Ein heftiger Wind schüttelt die Zelte. Die Mannschaften werden festgehalten, und der Kontakt ist schwierig. Wir brauchen einen ganzen Tag, um mit den vorderen Gruppen Funkverbindung aufzunehmen. Gerade vor dem Hereinbrechen des schlechten Wetters hat eine Equipe den Platz erreicht, der für die Errichtung von Lager 3 vorgesehen war. Die ins Lager 2 gelangenden Berichte sind beruhigend und machen uns neuen Mut.
Wenn wir vom Lager 3 aus weitere Lager errichten, werden wir die ersehnten Gipfel erreichen und nach anstrengenden Tagen wichtige Berge besteigen können: den Tupilak, den Rode-bjerg, den Henry Léon und andere ohne Namen, die wir je nach ihrer Form taufen werden. So werden wir sechzehn Gipfel erklettern, einige sogar mit Schwierigkeitsgrad V.
Alle Expeditionsteilnehmer sind im Lager 3 versammelt. Noch einmal zwingt uns das schlechte Wetter, drei Tage lang zu warten. Die Moral der Männer hat sich etwas verändert; die Einsamkeit, die Ferne, die Lebensbedingungen, die Kälte und vielleicht auch die Entbehrungen stellen die Nerven auf eine harte Probe.
Die kleinste Meinungsverschiedenheit kann in Streit ausarten. Es ist Zeit, an die Heimkehr zu denken. Sobald das Wetter wieder schön ist, werden die ersten Seilschaften ins Lager 2 zurückkehren. Der Hauptharst der Expedition wird bis ans Ende des Rasmussen-Gletschers gehen und die Rückkehr durch die Fjords versuchen. Wir haben ja unser Ziel erreicht, die Siegerliste ist ganz beträchtlich. Doch stellen sich uns auf unserem Weg noch zahlreiche Hindernisse in den Weg: gefährlich auseinander gebrochene Gletscher, klaffende Spalten, und wir müssen noch vorsichtiger sein. Der Rasmussen-Gletscher bietet einen grossartigen Anblick.
Im Fjord stürzen unaufhörlich ganze Eiswände herunter und verursachen meterhohe Springflu-ten. In diesem Chaos hat uns das Meer ein Boot entführt, und trotz planmässigen Suchens ist es nicht zu finden.
Die Wochen sind vergangen, schon nähert sich der Sommer seinem Ende. Als Vorspiel zur langen Polarnacht hält die Dämmerung länger an, und die Temperatur sinkt von Tag zu Tag. Im Basislager herrscht fieberhafte Tätigkeit. Unsere Tage sind gezählt. Das Packeis dringt gefährlich bis in die Fjorde vor. Sogar die Eskimos, die uns besuchen, bestehen darauf, dass wir diesen Ort verlassen. Der schöne Traum ist vorbei. In einer Woche müssen wir wieder in Angmagssalik sein. Es gibt Zwischenlandungen in den Eskimo-Dör-fern, und wir benützen die Gelegenheit, einige Andenken an dieses liebenswerte Volk mitzunehmen.
Die Gastfreundlichkeit der Eskimos ist ja sprichwörtlich. Überall werden wir herzlich empfangen, die Kinder schenken uns Blumen. In Kungmiut bleibt die Expedition einige Tage, lange genug, um unvergessliche Freundschaften zu schliessen.
1Drus-Westwand: in dergo-Meter-Verschneidung 2Bonatti-Pfeiler und Mont-Blanc, von der « Terrasse des Allemands » aus gesehen 3Die « Dülfer »-Stelle ( VI. Grad ) 4Die Verschneidung links des « Klemmblocks » Photos Claude Stucky, Carouge Am nächsten Tag: Rückflug nach Europa und Wiedersehen mit Familien und Freunden. Die Freude, wieder zu Hause zu sein, wird etwas getrübt durch das Heimweh nach den einfachen, primitiven, aber von wahrer menschlicher Wärme erfüllten Menschen, die wir verlassen haben.
In Grönland haben wir wunderbare Stunden erlebt, unwirkliche Landschaften gesehen, faszi-