Piz Lischana - Val d ' Uina
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Piz Lischana - Val d ' Uina

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

S. Wieland, Samedan

« Scuol-Schuls-Tarasp! Alles aussteigen, bit-te»Diese Worte beschliessen die lange, genussreiche Fahrt durch das im farbenfrohen Herbst-gewand aufwartende Engadin. Erwartungsvoll entsteigen jung und alt der Rhätischen Bahn, um in die verschiedensten Richtungen auseinander-zuströmen. Unternehmungslustig reckt der Wanderer seine ausgeruhten Glieder, schaut bedächtig zu den aufstrebenden Bergkämmen hinauf und rechnet sich in Gedanken die Zeit für den Anstieg zur Lischanahütte aus, welche für den Kundigen sichtbar auf der runden Kuppe zwischen Piz San Jon und Piz Lischana thront. Eine knappe Wegstunde oberhalb Scuol, auf offener Waldlichtung, empfängt der Hof San Jon den bergwärts Steigenden. Einst Eigentum der Herren von Tarasp, wurde San Jon im Jahre 1461 durch die Vögte von Matsch dem Schlosspfleger auf Tarasp um 40 Pfund Berner jährlich überlassen.

In engen Kehren schlängelt sich der Hüttenweg durch das Val Lischana hinauf. Weit liegen bereits die goldenen Lärchenwälder zurück, und lange, schwere Schatten künden das nahe Ende des herrlichen Herbsttages. Nach Einbruch der Nacht verraten winzige Lichtchen, dass der Aufstieg bald beendet ist und dass die heimelige Hütte, im Jahre 1926 von der SAC-Sektion Unterengadin erbaut, Besuch erhalten hat. Leise breitet sich die stille Oktobernacht über die Berglandschaft. Hell beleuchtet der Vollmond, eben über dem Vadret da Lischana aufgegangen, die malerische Szene, während aus dem vom gleissenden Mondlicht noch unbeschienenen Talgrund unzählige Punkte in die Abgeschiedenheit herauf-funkeln. Deutlich sichtbar zeichnen sich die dunkeln Konturen des Silvrettamassivs am nächtlichen Horizont ab. Nicht alle der wenigen Hüttenbesucher aber haben Zeit und Auge für dieses grandiose Naturschauspiel, das sich an den mächtigen Kulissen des Firmaments darbietet. Bei einem gemütlichen Hock füllen Erinnerungen und Erlebnisse die kurzen Abendstunden aus, bevor es in erquickendem Schlaf Kräfte für den folgenden Tag zu sammeln gilt.

Schon um 04.30 Uhr verrät knisterndes Herdfeuer einige Frühaufsteher, welche, emsig um Kaffee und Tee bemüht, ein Frühstück zuberei- ten. Noch bei dunkler Nacht verlässt eine Stunde später das erste Grüppchen die so gastlich anmutende Unterkunft, verhaltenen Schrittes das Weglein Richtung Vadret da Lischana bergan-stolpernd. Machtvoll verdrängt der aufkommende junge Tag das zaghafte Dämmerlicht, und die letzten Überreste von Verschlafenheit schwinden. Glutrot züngeln die ersten Sonnenstrahlen den Gipfel und Graten entlang und lassen Fels und Eis in dem in frühen Morgenstunden so eigenartigen feurigen Glanz erscheinen. Ein Rudel Gemsen zieht flüchtend über das nahe Firnfeld. Gurrende Schneehühner schrecken mit hartem Flügelschlag die zeitigen Störenfriede, welche beschwingt dem Übergang zum Vadret da Rims entgegenstreben, wo sie die Sonne mit wärmendem Licht ermuntert. Über Schnee und Geröll führt der Pfad in anregender Gratwanderung zum Piz Lischana, P. 3105. Grossartig und überwältigend ist die Rundsicht, welche sich von dem talwärts vorgeschobenen Aussichtsberg offenbart. Eindrucksvollste Bergriesen der nahen Ötztaler, Ortler- und Silvrettagruppe geben hier die sonntägliche Aufwartung. Über vier Landesgrenzen hinweg heben die monumentalen Gebilde gemeinsamer Vergangenheit in unnachahmlichem Stolz die würdigen Häupter, selbstherrlich ihrer Einheit und Zusammengehörigkeit bewusst. Über alles erhaben, in makellosem Weiss, grüssen Gletscher und Firne einander zu.

Dem noch schattigen Haupttal verleiht das dunkelblaue Band des Inn, welcher in ungezählten Windungen den nahen Landesmarken entgegen-fliesst, sein Gepräge.Von sonnigen Terrassen herab winken schmucke, anmutige Engadiner Dörfer. In der Mitte des Tales, auf einer markanten Erhöhung, erhebt sich das trutzige Schloss Tarasp, einst Sitz und Mittelpunkt der ausgedehnten gleichnamigen Herrschaft, die sich von St. Moritz bis Landeck sowie übers Paznauntal und den Vintschgau erstreckte. Abstammung und Herkunft der taraspischen Edlen sind säuberlich eingehüllt im geschichtlichen Dunkel des hohen Mittelalters. Historiker sehen in den Ta- raspern italienische ( langobardische ?) Grafen, die im untern Engadin Zuflucht vor Unterwerfung suchten. Eingenommen von rühmlicher Vergangenheit südlicher Lande mit weiten, fruchtbaren Ebenen, fristeten sie in ungewohnter Schwere rätischer Gebirgswelt, umgeben von Macht und Reichtum, ihr Dasein. Eine Blutschuld der Ahnen lastete mächtig auf ihnen und beeinflusste massgeblich ihr Handeln. Sie wurden Begründer des Klosters zu Scuol — heute in St. Marienberg im Vintschgau - und bedachten dasselbe mit grosszügigen Schenkungen. Ihre Erben, die Vögte von Matsch, sollten das begonnene Stiftungswerk fortsetzen. Doch stellt die Geschichte den Matschern diesbezüglich ein sehr bescheidenes Zeugnis aus, da dieselben alsbald in Abhängigkeit der Grafen von Tirol verfielen und von nun an bestrebt waren, den eigenen Machtbereich im Vintschgau, Tirol und Unter Engadin auf Kosten des Klosters St. Marienberg und des Bistums Chur zu festigen und zu vergrössern. Die « terra aspera » ( rauhes Land ) brachte weder den Taraspern noch deren Erben Glück; trotzdem herrscht ihr Wahrzeichen heute noch unmissverständlich, wie eh und je, über der « Engiadina Bassa »!

Das war ein kurzer gedanklicher Abstecher in frühere Jahrhunderte. Die geschichtliche Entwicklung jener Zeit bildete bereits den Grundstein zum heutigen Staatenwesen, aus welchem einzig das tapfere und fröhliche Volk im Einzugsgebiet der Etsch, trotz uralter Tradition und Gesinnung, verdrängt wurde. Ein warnendes Beispiel, wie sich auch in der westlichen Hemisphäre Bodenständigkeit und Volkstum vergewaltigen und untergraben lassen!

Nun geht es den Pfad zurück zum Gletscherplateau von Rims. Sehr beschränkt sind heute die Ausmasse dieses Gletschers, der sich einst bis gegen die Täler hinunter erstreckte. Tiefblau, Sonne und Berge widerspiegelnd, zieren einige Bergseelein die Gegend und erfreuen das Herz des Vorüberziehenden. Bald künden braunverseng-te, vom kalten Herbstreif gezeichnete Weiden das Ende der einstigen Eisregion an. Beim weiteren Abstieg in die Talmulde von Sursass huschen die Blicke zum Pass di Slingia ( P.2296 ), dem Tor nach Süden, hinüber. Noch heute sind Wegspuren sichtbar, die vom einstigen Transitverkehr Pass di Slingia—La Stüra—Uina Dadaint—Sent erzählen. Auch die kriegerischen Horden der Tiroler benützten im Jahre 1499 diesen Pass, um ins Unter Engadin einzufallen. Sie trafen sich bei Ramosch mit den Oberinntalern, welche über den Fimberpass gezogen kamen. Gemeinsam wurden nun die Dörfer geplündert und zum Teil gebrandschatzt.

Im Talboden bei P. 2157 steht eine Schäferhütte, die allerdings nicht sehr einladend wirkt. Steil und bedrohlich rücken sich nun die Flanken näher. Erst ab 1910 war die wilde, romantische Quarschlucht begehbar. Überdacht von mächtigen Felsbastionen und gewaltigen Abstürzen, zwängt sich der schmale Pfad auf halber Höhe der rechtsseitigen Begrenzung durch die Schlucht hinunter. Mächtig schäumen die Wasser. Unaufhörlich dringt ihr mahnendes Rauschen aus der dämmerigen Versenkung empor, die nur zur Mittagszeit von einigen « gwunderigen » Sonnenstrahlen Besuch erhält. Emsig und unermüdlich arbeitet das Werk der Erosion weiter, sich wenig um die Geschicke der Menschlein kümmernd, die, bedrückt und erstaunt zugleich, diesem phantastischen Wahrzeichen gegenüberstehen. Beinahe widerstrebend treten die beengenden Felswände etwas beiseite und geben allmählich den Blick ins hintere Val d' Uina hinab frei. Nach der Traverse von einigen Geröll- und Grashalden dämpfen saftige Bergwiesen die hartklin-genden Schritte. Fallende Lärchennadeln belegen Weg und Steg mit einem güldenen Teppich. Hier bereitet sich die Natur auf den langen Winterschlaf vor. Bereits grüssen das weissgetünchte Steinhaus und die von Sonne und Wind verwitterten Stallungen von Uina Dadaint ( P. 1781 ). Ein heimeliger Anblick, welcher nach der Durchwanderung der düsteren Schlucht Geborgenheit und Ruhe ausstrahlt. Im oben erwähnten Tran- 1 1 sitverkehr von und nach dem Südtirol wird dieses Gehöft einst eine wichtige Rolle gespielt haben, begann doch hier der mühsame Aufstieg nach La Stüra-Sursass—Pass di Slingia. Von Uina Dadaint führt ein angenehmer Fahrweg talwärts. Unternehmungslustig, in übermütigen Sprüngen eilen die Wildwasser tosend bergab. Sanft schmiegen sich kühlende Wälder an die von langen Geröllfeldern durchsetzten Talseiten, mit Vehemenz in unermüdlichem Kampf gegen Rufen und Lawinen ihr karges Dasein verteidigend. Ein am Wegrand aufgestellter Mühlstein erinnert daran, dass dieses Tal zur Verarbeitung von Getreide eine eigene Mühle besass. Er trägt die Inschrift: « Restanza dal Mulin d' Uina dadoura e dadaint / uschè tuot piglia fin, que tegn a di-maint » und erinnert zudem an den Lehensvertrag aus dem Jahre 1475, worin die Meierei im Val d' Uina mit Weg und Steg, Weid und Wald, Häusern und Ställen in Erblehenspacht vergeben wurde. Erst anfangs des O. Jahrhunderts löste die Gemeinde Sent diesen Vertrag ein und veräusserte 1904 die Rechte erneut.

Bei Uina Dadora ( P. 1495 ), einem stattlichen Hof mit gutem Weid- und Wiesland, mündet das Val Curtinatsch ein. Fröhliches Herdengeläute lockt und ruft, die betörende Stille durchdringend, den Vorbeiziehenden. Azurblau, buntgemischte Herbstfarben ergänzend, wölbt sich das Himmelsdach über der Einsamkeit. Von zerklüfteten Gebirgen umringt, beehrt der auf sanftgeneigter Berglehne erbaute Hof das Landschaftsbild. Eine halbe Wegstunde ausserhalb dieser Ortschaft drängen die Ausläufer von Piz Ajüz ( P.2788 ) und Piz Schalambert Dadaint ( P. 3029 ) gebieterisch hervor. Die hier bestehende Talenge, von den Einheimischen « Val Cha-vorgia » benannt, kann heute ohne grosse Schwierigkeiten durchquert werden; in den Urkunden ist hier von einer grossen « Scala » oder«S-cha-la » die Rede, was auf die frühere Verwendung treppenähnlicher Hilfsmittel schliessen lässt. Freundlich lädt der nahe Weiler Sur En, End- ziel der Wanderung, die Ankommenden zu Erholung und Erfrischung ein.

Unauslöschlich bleiben die Eindrücke dieser Tour, welche 8 bis I o Stunden beansprucht, in der Erinnerung des Wanderers verankert. Scheu hebt sich der schmale Landstrich von seiner stets bevorzugten, an Gestalt und Form erhabenen Umwelt ab. Geprägt von köstlicher Bescheidenheit, grüssen schroffe Höhen in die anliegenden Täler hinunter. Kontrastvoll gestalten und vervollständigen grundverschiedene Aspekte das Bild. Wer nach dem Gipfelreigen vom Piz Lischana die Seen von Rims erlebt, die brausenden Tiefen der Quarschlucht und dann die Heimwesen mit den lieblichen Weiden des Val d' Uina gesehen, findet stets zu diesem Kleinod zurück, das sich in dank-barster Art seinen Bewunderern verschenkt. Abseits grosser Routen werden königlich jene beglückt, die in zauberhafter Runde erhabener Alpenwelt erholsame Stunden verbringen.

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