Piz Grisch im Winter
Mit 2 Bildern.Von Eugen Wenzel.
Am Eingang ins Avers, dort wo die Bäche aus der Val Storierà und Valle di Lei in den Averserrhein münden, erhebt sich nördlich der tiefen Schluchten der Piz Grisch. Der Talkessel von Ausserferrera wird ganz von diesem durch den klotzigen Vorbau des Piz Mazza noch wuchtiger erscheinenden Felsberg beherrscht. Jedesmal, wenn wir das Ferreratal hinaufzogen, war uns die massige Gestalt aufgefallen, und zuletzt, als wir auf manch herrlicher Skifahrt die ganzen Averserberge erforscht hatten, drängte sich der Wunsch, den Berg kennen zu lernen, von selbst auf.
Dem Rind, das im Frühling zum erstenmal aus der Enge der vier Stallwände ins Freie gelassen wird, kann nicht wohler zumute sein als uns, die wir nach stundenlanger Bahn- und Autofahrt in Ausserferrera endlich wieder festen Boden unter die Füsse bekommen. Spürt man nicht Lust, über ein paar Zäune und Misthaufen zu setzen, aus lauter Freude, endlich die eigenen Beine wieder betätigen zu können. Die schweren Rucksäcke dämpfen jedoch rasch solchen Übermut. Der Alpweg schlängelt sich in kurzen Kehren am Sonnenhang empor. Trotz der Wärme halten wir uns an einen ausgiebigen Schritt, um möglichst bald die Säcke los zu werden. Schon vom Tal aus erblickt man etwa 300 m höher das Bergkirchli von Cresta, ein Marschziel, das in einer schwachen Stunde zu erreichen ist. Man kann sich kaum einen idealeren Platz für ein paar Ferientage ausdenken als dieses Cresta. Auf breiter Terrasse stehen die 50 Häuser und Ställe, von welchen die meisten nicht mehr bewohnt und gebraucht werden. Etwas erhöht, am äussersten Rand eines flachen Hügels, steht das Kirchli, das allein durch sein bescheidenes Dasein einen Menschen umzustimmen und ihm den innern Frieden zu geben vermag. Von dort erfreut man sich des Talblicks auf das sich in der Frühlingssonne wärmende Ausserferrera, des dunkelgründigen Waldes und der darüber liegenden weissen Spitzen der Timunkette, die ihrerseits weit draussen über dem Hinterrheintal in der stumpfen Pyramide des Piz Beverin ihr Gegenstück finden. Die ersten Ferienstunden gehören ganz dem Erlebnis dieses lauteren Bergvorfrühlingtages.
Erst am Nachmittag überfällt uns plötzlich die Lust zum Skifahren, und da die Sonnenhänge des Piz Mazza den besten Schnee versprechen, gehen wir diesen Trabanten des Piz Grisch an. Zwei Stunden später geben wir auf einem dem Gipfel nordwestlich vorgelagerten, etwa 2500 m hohen Hügelzug den weiteren Anstieg auf. Die vorgerückte Zeit mahnt zur Rückkehr. Die freie Lage des erreichten Punktes bietet uns ausser dem Blick in die Valle di Lei dieselbe Rundschau wie der Piz Mazza selbst. Besonders erfreut sich das Auge des Tiefblicks ins Ferreratal mit seinen geschlossenen Waldungen. Auf den Wiesen des über 1000 m tiefer liegenden Dorfes treiben sich Schafe herum. Als kleine helle Punkte sehen wir sie ruckartig herumjagen und plötzlich wieder im Rudel zusammenstehen. Das bleibt die einzige und nur dem scharfen Auge ersichtliche Bewegung im ganzen Landschaftsbild. Wem es gelingt, und sei es nur für ein paar stille Augenblicke, seinen unsteten Geist dieser Ruhe und Bewegungslosigkeit einzuordnen, wird alsbald ein beglückendes Gefühl der Erholung und Ausgeglichenheit empfinden. Ein plötzlich aufspringender Nordostwind wird unangenehm und treibt uns in die grosse, am Nordfuss des Piz Grisch eingebettete Mulde hinab. Unregelmässig verblasene Harschhänge vereiteln richtiges Schwingen, aber weiter unten erreichen wir die Sulzzone und finden in flüssiger Fahrt nach Cresta zurück.
Am nächsten Morgen sind wir früh auf den Beinen. Einer jener herrlichen Ostertage ist aufgezogen, wo man durch das besondere über den noch in der Dämmerung liegenden Bergen sich ankündende Licht den Vorfrühling zu ahnen beginnt. Während der ersten Anstiegsstunden sind wir dazu verurteilt, im breiten, das ganze Tal ausfüllenden Schattenkegel des Piz Grisch anzusteigen, aber die Schlussfolgerung, dass grosse Ereignisse auch grosse Schatten vorauswerfen müssen, lässt uns unentwegt den Höhen zustreben. Noch bevor wir nach dem flachen Talboden der Alp Moos den obersten Talabschnitt in Angriff nehmen, trifft uns unvermittelt der erste Strahlenblitz der aufgehenden Sonne. Wie durch Zauberschlag hat dadurch die ganze Landschaft Leben erhalten. Gibt es wohl etwas Herzerfreuenderes als so einen Aufstieg durch ein stilles Hochtal. Die mechanische, gleichmässige Betätigung der Beine erlaubt den Gedanken auszuschwärmen und den am Himmel segelnden Wölklein gleich in alle Ferne zu ziehen. Was mag während solcher Anstiegsstunden schon alles erdacht und erfühlt worden sein.
Ganz plötzlich haben sich unsere Gedanken aber wieder auf einen gemeinsamen Nenner vereinigt. Der Piz Grisch ist ins Blickfeld gekommen. Aus einem weiss ausgelegten Talkessel erhebt sich die felsige Spitze unseres Berges, und die der Sonne zugekehrten Firnflecken der Ostflanke werfen wie Spiegel das Licht zurück. Durch die Erfahrung einer früheren Besteigung gewitzigt, streben wir heute sofort dem Nordostgrat zu. An geeigneter Stelle lassen wir die Ski zurück und machen uns sofort an den Gipfelanstieg. Einige Felsbänder überschreitend, kommen wir an den grossen Firnhang, der ohne Mühe zur Kammhöhe leitet. Die weniger hohen Kulissen des Schmorrasjochgrates und des Piz Mez sind scheinbar in der Tiefe versunken, und am Horizont sind mit jedem Schritt neue Berge erschienen. Jetzt sind zuhinterst schon deutlich die Spitzen der Silvretta zu erkennen.
Einmal auf dem Grat, nimmt die Besteigung einen andern Charakter an. Die Felsen fallen beidseitig jäh in die Flanken ab. Besonders nach der Westseite blickt das Auge ungehemmt direkt auf den Sut-Foina- Gletscher. Ein kurzes Stück wird der First verfolgt, dann drängt uns eine Felspartie in die Ostseite, aber weiter oben rückt man am sichersten wieder auf der Grathöhe vorwärts. Die folgenden Zacken eignen sich weniger für eine Winterbesteigung und werden links in der Ostflanke umgangen. Über ein stark geneigtes Firnband queren wir so lange in die Wand hinaus, bis wir in einem steilen Schlusshang direkt zum Gipfelgrat ansteigen können. In geradliniger Stufenleiter erreichen wir den Steinmann.
Die Aussicht des Piz Grisch weist die Besonderheit auf, alle umliegenden Täler so zu beherrschen, dass sich diese sternförmig um diesen Berg herum zu gruppieren und direkt auf ihn zuzulaufen scheinen. Am eindruckvollsten ist der Einblick in die Valle di Lei mit ihrem unvergleichlich prachtvollen Talabschluss des Pizzo Stella. Während sich ostwärts in einer verwirrenden Vielzahl die Averser- und Bergellerberge anreihen, schliessen sich westwärts die Berge der Timunkette und des Surretta- und Tambohornmassivs an und vervollständigen das herrliche Panorama. Dass wir es zum zweitenmal an einem Glanztag geniessen dürfen, werten wir als besonderes Glück. Leider wird das zwei von Tigia angerückten Bergsteigern nicht auch zuteil, da sie, wie wir früher einmal, über den vermeintlich leichteren Südostgrat zum Gipfel vorzudringen versuchten und nun ebenfalls abgeschlagen den Rückzug antreten. Wir selbst finden leichten Sinnes in der sicheren Aufstiegsspur zu unseren Ski zurück und machen uns sofort auf den Weg zum Piz Alv 2859 m.
Fast ist es schade, den tiefen Eindrücken vom Grischgipfel heute noch etwas beifügen zu wollen. Da es aber noch früh am Tag ist und in allernächster Nähe die schöne Spitze des Piz Alv lockt, lassen wir uns nicht abhalten, diesen dankbaren Abstecher zu machen. In weitem Bogen durchziehen wir die Mulde und erspuren uns durch eine steile Rinne den Sattel im Ostgrat. Von hier ab folgen wir der Piste der Tigia-Skifahrer, deren letzte Nachzügler den Gipfel aber schon längst wieder verlassen haben. Die Besteigung dieses Nachbargipfels des Piz Grisch hat sich gelohnt. In seiner ganzen Grosse erhebt sich gegenüber im Gegenlicht aus gleissenden Schneehalden die stolze Felsburg, die wir jetzt während der bequemen Nachmittagsrast in Gedanken nochmals erobern können.
Nur im obersten Hang halten wir uns an die bestehenden Skispuren. Über die Fortsetzung des Ostgrates, der immer mehr nordwärts abbiegt, suchen wir in den Grateinschnitt zu kommen, der einen raschen Abgang in unser Tal ermöglichen würde.Vorerst werden wir in den Steilhang auf der Ostseite gedrängt, dürfen es bei den augenblicklich sicheren Schneeverhältnissen wagen, hoch am Hang zu queren, und sind bald darauf in der Gratsenke. Der kleine Umweg war die Mühe wert. Unsere beiden Berge zeigen sich von hier gesehen am schönsten. In strengem Gegensatz zu der schimmernden Talmulde heben sich die tief schwarzen Felsgrate ab, und über ihren Spitzen segeln Föhnwölklein in der unendlichen Bläue und geben dem Bild eine Le- bendigkeit, wie sie kein Pinsel darzustellen vermöchte. Nur ungern treten wir die Talfahrt an.
Die weiten Flächen, welche am Morgen in unzähligen Schritten durchmessen wurden, werden so klein. Unter der Alp Moos wird der Schnee an den der Sonne ausgesetzten Halden fast zu weich, aber weiter unten findet die Abfahrt einen befriedigenden Ausklang. Schlendernden Schrittes bummeln wir über nasse Wiesen zum Dörfchen hinab, in welchem in der Zwischenzeit der Vorfrühling Eingang gehalten hat. Und nun ist uns plötzlich klar geworden, dass dies des Winters letzte Skifahrt war. Vielleicht war es das gelbe Märzenblümchen, das uns schon weiter oben am Wegrand entgegenleuchtete, oder sind es die überall aufgetauchten Krokusblüten, wir wissen nicht, was uns so plötzlich diesen Umschwung brachte.
Am nächsten Tage mögen die Berge noch so schön und verlockend erstrahlen, uns bringen sie nicht mehr vom Frühling hinweg. Gestern haben wir auf der Höhe des Piz Grisch den Winter gefeiert, in Cresta haben wir nun den Ort gefunden, wo sich für dieses Jahr am schönsten von ihm Abschied nehmen lässt. Das Sehnen nach den hohen Bergen ist plötzlich verstummt, es genügt uns, ihre majestätische Schönheit von unten zu bewundern. Wir verbringen den sonnigen Tag in stiller Beschaulichkeit. Während solcher von aller Unrast freier Mussestunden gelingt es uns ja am besten, die eindringliche Sprache der Natur richtig zu erfassen und zu deuten. So wird unser Spaziergang zwischen den zum Teil halbverfallenen Häusern zur kleinen Entdeckungsfahrt, wobei uns die beiden zurzeit belegten Ställe besonders locken. Papa Grischott und Moritz Mani, welche hier ihre Viehhabe betreuen, wissen uns mit wenig Worten Einbück in die Arbeit und das karge einfache Leben des Bergbauern zu geben. Und wie wir dann später von der Anhöhe beim Kirchli auf das Dorf schauen, wird uns bewusst, wie gut es war, sich nach strengen Turentagen mit Menschen und Tier vertraut gemacht zu haben und ein wenig tiefer in ihr Leben und Treiben eingedrungen zu sein. Denn mit unseren Berg-und Skifahrten allein haben wir ein Tal und sein Volk noch lange nicht kennen gelernt, dazu bedarf es eines weiteren Forschens und Entgegengehens. Nur darf uns die Zeit hierfür nicht reuen, und dann erst sind die Ferientage nützlich und befriedigend ausgefüllt.
Am nächsten Vormittag wird das Häuschen in Ordnung gebracht und geschlossen, und jetzt sind wir abmarschbereit. Aber wie merkwürdig, so leicht es uns geworden ist, den winterlichen Bergen für diesmal zu entsagen, wie sonderbar schwer wird es auf einmal, von den kleinen Dingen, die uns umgeben ,'Abschied zu nehmen. Vor der Haustüre steht der hölzerne Brunnen, zeitlos plätschert das klare Wasser aus seinem Rohr, und man steht sinnend dabei und fühlt, wie vieles uns hier oben während dieser Tage vertraut geworden ist und warm zum Herzen spricht.
Über weiss besäte Krokuswiesen talwärts schreitend, lässt uns ein glückliches Gefühl zum Piz Grisch aufblicken, dessen winterliche Besteigung uns wieder einen schönen Winkel unserer Heimat näher gebracht hat.