Pilier d'Angle: Bonatti/Gobbi-Führe
Michel Vaucher, Genf
( Bilder 24-29 ) Liebt der Alpinist die freie Natur? Daran könnte man zweifeln, wenn man an den Mode-Tourismus denkt, nicht zu reden von der Überschwemmung mancher Alphütten. Auch ein Un-geübter kann einen Hammer handhaben, was dazu führt, dass man selbst bei den grossen Routen anstehen muss. Ausserhalb der Saison ist ein leichtes Abflauen festzustellen, aber trotzdem! Man höre und staune: vom 25.Dezember 1974 bis Ende Februar 1975 allein im Mont-Blanc-Massiv sechzig ausgeführte Rettungsaktionen! Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich mit dieser Übervölkerung abzufinden und zu versuchen, Routen zu entdecken, die noch nicht in Mode oder schon aus der Mode gekommen sind.
Vor einigen Jahren hatte ich das Glück, auf mehreren Routen die italienische Seite des Mont Blanc zu besteigen: den Peuterey-Grat, die Poire, die Major, und ich habe ganz besondere Erinnerungen an die kleine Schutzhütte der Fourche und den grandiosen Hang des Mont Blanc, wo wir fast allein waren. Wir hatten den Eindruck, ein gehei- mes, abseits des Touristengebietes liegendes Universum zu entdecken. Aus dieser Zeit stammt die mit grossem Respekt verbundene Anziehungskraft dieser Wand, die eigentliche Himalaya-Dimensionen aufweist. Mit einer Höhe von 1500 Metern zwingt sie einen, zuerst bis auf den Gipfel des Mont Blanc zu klettern, bevor man den Abstieg in Angriff nehmen kann; auch sollte man sich nur bei sicherem Wetter hinaufwagen.
Alle diese Betrachtungen gehören der Vergangenheit an. Eine neue Schutzhütte ist auf dem Trident-Pass errichtet worden; dreissig Personen können dort übernachten. Als wir vor zwei Jahren den Pilier du Frêney bestiegen, wimmelte es in der Hütte von etwa achtzig Alpinisten. Man kocht sich eine Suppe, döst in einer Ecke genau wie im überfüllten Wagen einer transkontinentalen Eisenbahn mit dem ganzen Durcheinander von Sprachen, Gerüchen und angehäuftem Material. Die beste Lösung ist, so schnell als möglich aufzubrechen. Von allen Seiten wird der Berg überschwemmt, überall leuchten Stirnlampen auf... Werden wir wohl auf dem Pilier de Frêney allein sein? Blödsinnige Frage! Vor uns befinden sich acht Personen, welche bald die am Vorabend Ge-starteten einholen. Trotz der Schönheit der Route kehrt man enttäuscht und verärgert zurück. Und doch gibt es noch schöne Routen, die einen locken, zum Beispiel die Bonatti/Lobbi-Führe. Man mache sie nicht oft, hat mir ein Führer aus Chamonix gesagt.
Und so befinden wir uns an einem Augustnachmittag auf dem Géant-Pass. Wir sind unser drei: Armand Sarrasin, Yvette und ich. Ruhig seilen wir uns an, als ich unter den Touristen plötzlich Walter Bonatti erkenne. Seit zehn Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen. Umarmungen, Erinnerungen... Walter hat weisse Haare bekommen. Seine Arbeit als Forscher-Reporter führt ihn in wenig bekannte Gegenden unseres Planeten. Er interessiert sich immer noch für die Berge, aber über manche « Heldentaten » muss er lächeln, denn er bleibt einer gewissen Ethik des Alpinismus treu.
Zu schnell ist eine Stunde vergangen. Wir müssen zur Hütte hinauf. Walter will mit seinen Photoapparaten auf dem Géant-Pass biwakieren. Die Begegnung mit dem grössten Vertreter des traditionellen Alpinismus hat uns sehr gefreut.
Oben in der Mulde spazieren vier Japaner ohne Seil. Einer von ihnen spricht französisch und erklärt uns, dass sie die Nordwand des Pilier d' Angle machen wollen. Zwei von ihnen haben eben eine neue Route in dieser Nordwand entdeckt. Sie führt senkrecht an dem ungeheuren Eisturm neben der Poire hinauf... Kein Zweifel, die Rinne ist durch die vom Turm abgesprengten Eisblöcke gut markiert. Dass die Hütte zum Überlaufen voll ist, stört unsere Japaner nicht im geringsten, denn sie gehen sofort weiter gegen den Moore-Pass hinauf. Es ist 19 Uhr. Nachträglich habe ich erfahren, dass sie am Fusse der Wand plötzlich bemerkten, dass sie die Seile vergessen hatten! Da sind sie hin-tereinanderdie Sentinelle-Route hinaufgeklettert...
Mit grösster Mühe haben wir uns aus der Hütte hinausgezwängt. Nach dem Moore-Pass führt uns ein heikler Abstieg auf ein mit Türmen bedecktes Eisfeld. Tausende von Kubikmetern Eis bilden richtige Hügel, die man umgehen muss. Ich denke an den Tschechen, der mir in der Hütte gesagt hat:
« In diesem Gletscher liegen sechs meiner Freunde. » Bei Sonnenaufgang sind wir am Fusse des Pilier. Ein herrlicher Tag! Und während die Nordwand der Blanche de Peuterey in ihrem schönsten Glänze erstrahlt, steigen wir in die Wand ein. Ein ansteigendes Band, unsichere Felsen... wir zögern... und da ein deutlicher Riss, aber er benötigt mindestens drei Haken, und ich kann nicht glauben, dass keine da sind. Doch es ist so. Wir sind allein eingestiegen, und es gibt ganz wenige Haken!
Wir geniessen diesen Traumzustand. Die Kletterei ist schwierig und der Fels oft brüchig; aber mir gefällt es ausnehmend gut. Ich bemühe mich, möglichst wenige Haken einzuschlagen. Wir steigen rasch, Yvette und Armand zusammen. Dièse « Pfeil»-Sicherungstechnik ist schnell und angenehm. Zu unserer Rechten gibt es einen Heidenlärm, weil eine neue Serie von Eistürmen auf den Gletscher stürzt. In der Ferne sehen wir einige Seilschaften auf der Sentinelle und eine ganze Prozession auf dem Eperon de la Brenva. Von Zeit zu Zeit kollern Steine zu uns herunter, aber die zum Glück kerzengerade Wand schützt uns. Am Ende des Kamins ändert sich die Neigung der Wand, und ich entdecke 200 Meter weiter oben eine Seilschaft, die am Tag vorher aufgebrochen ist. Siebefindetsichaufeiner sehr steilen Platte, und der erste der Seilschaft scheint nicht gerade schnell vorwärtszukommen. Ich mache mich durch deutliche Zeichen bemerkbar. Der zweite antwortet mir, und von da an fallen keine Steine mehr.
Wir steigen drei Längen weiter, während sich über uns nichts gerührt hat. Ich sage mir, da oben werde eine verdammt schwierige Passage kommen. Endlich haben sie es geschafft und befinden sich nun in leichterem Gelände. Ich wundere mich, was ihnen solche Mühe gemacht hat. Es handelt sich um senkrechte, sehr zerklüftete, aber brüchige Platten. Man kann sie ohne Hilfsmittel nehmen, wenn man entschlossen und nicht zu ängstlich ist. Es sind Stellen, die einige Minuten... oder einige Stunden erfordern, wenn man Haken einschlagen muss.
Wir erreichen nun ein Band, dem wir in nördlicher Richtung folgen. Während einiger Längen werden wir über schwierige Platten klettern müssen, die ganz mit Eis bedeckt sind. Dann haben wir die Seilschaft eingeholt. Es sind zwei sympathische Jugoslawen mit einer recht primitiven Technik. Entsetzt sehe ich, wie der zweite Mann den Standhaken mit der Hand herausreisst und mit den Füssen « à la Chariot » auf einen Eishang von 60° steigt. Sein auf einem kleinen Block sitzender Kamerad sichert mit der Schulter. Ich richte einen soliden Stand ein, getraue mich aber nicht mehr, ihnen zuzuschauen. Bestimmt werden sie uns auf den Kopf fallen. Ich wage keine Bewegung mehr. Sehr beunruhigt bleiben wir beisammen und wissen nicht recht, was tun. End- I lieh sehen wir mit einem Seufzer der Erleichterung, dass der Vordermann den Grat erreicht hat, nachdem er ohne Sicherung von einem nicht vorhandenen Standplatz aus eine Länge auf grünem Eis geklettert ist.
Auf dem Grat kommen wir zu einer kleinen Plattform. Es ist die Stelle, wo die Seilschaft Bonatti/Gobbi das zweite Mal biwakiert hat. Wir könnten noch eine gute Stunde klettern, aber weiter oben ist es leichter. Die grossen Schwierigkeiten sind vorbei, es bleiben nur noch Platten dritten oder vierten Grades. Und da der Tag gut ausgefüllt war, beschliessen wir zu bewakieren. Schon summt der Kocher, und alles wäre in Ordnung, wenn sich nicht über dem Brenva-Becken schwere, schwarze Wolken entleeren würden. Wir sind auf der Höhe der Poire. Der ganze Mont-Blanc-Gipfel steckt in den Wolken, während die Sicht nach unten gut ist.
Da erleuchtet ein Blitz den ganzen Berg. Es ist Nacht geworden, aber eine Stunde lang zuckt ein Blitz nach dem andern. Mit einer Zeltplane zugedeckt, versuchen wir, uns an den Berg zu kleben. Bei jedem Blitzstrahl halten wir einen Augenblick den Atem an. Leise beginnt es zu schneien. Hie und da sehen wir Lampen in der Wand. Eine Seilschaft klettert in den Ausläufern der Major-Route trotz schlechtem Wetter und Lawinengefahr. Wir wissen, was wir an ihrer Stelle tun würden!
Für uns gibt es keinen anderen Ausstieg als den Gipfel des Pilier. Dann werden wir weiter sehen. Es schneit die ganze Nacht. Am Morgen liegt eine Schneedecke von dreissig Zentimetern, und es schneit immer noch. Wo sind die Jugoslawen? Wie werden wir da herauskommen? Keine Antwort auf diese Fragen! Es schneit bis um 13 Uhr, so dass wir achtzehn Stunden auf dem gleichen Fleck geblieben sind.
Als es aufheitert, brechen wir auf. Die schneebedeckten Platten, obwohl kaum vierten Grades, sind fast nicht passierbar. Eine richtige Winterbesteigung! Gegen Ig Uhr erreichen wir den Gipfel des Pilier. Es schneit wieder, also ein weiteres Biwak.
Die ganze Nacht Schnee! Unsere Lage wird kritisch. Nach zwei Biwaks auf mehr als 4000 Metern spüren wir eine gewisse Ermüdung. Da reisst der Wind die Wolken auseinander, und das schöne Wetter ist wieder da, allerdings mit Eiseskälte. Uns gegenüber befindet sich die Chandelle de Frêney und eine Seilschaft, die sich dasselbe fragt wie wir: « Wo ist der Ausstieg? Sollen wir hinauf oder hinunter? » In dem frischen Schnee gibt es fast überall Lawinen. Wir entscheiden uns für den Gipfel des Mont Blanc, 500 Meter weiter oben. Mehrere gefährliche Längen führen uns ans Ende der waagrechten Kante, die den Pilier d' Angle mit dem Peuterey-Grat verbindet.
Da - das Surren eines Motors! Es ist der Helikopter der Rettungsflugwacht, der seine Runde fliegt. Diese zwei stürmischen Tage haben verschiedene Seilschaften blockiert. Wenn man an solchen Orten bei schlechtem Wetter biwakiert, hat man das Gefühl, von allem weit weg zu sein. Man denkt an eine endlose und problematische Blockierung, an alle Gefahren und auch an die wunderbaren, vom Helikopter durchgeführten Rettungsaktionen. Wir sind noch nicht aus den Schwierigkeiten heraus; der Ausstieg auf dem Gipfel wird gefährlich und mühsam sein. Die Maschine fliegt zwanzig Meter über uns hinweg, die Versuchung ist wirklich gross: in einer halben Stunde in Chamonix! Aber wir hatten uns vorher abgesprochen und waren uns einig, dass ein dieses Namens würdiger Alpinist nur in äussersten Notfällen eine Rettungsaktion annehmen sollte.
Nun beginnt ein kurzer Zeichendialog:
« Braucht ihr Hilfe? » « Nein, alles geht gut! » ( Na !) Ich mache das übliche Zeichen der Verneinung. Die Piloten wiederholen ihre Frage und entfernen sich erst, als sie die Gewissheit haben, dass alles in Ordnung ist. Nun kreist der Helikopter über der Chandelle des Pilier du Frêney. Dort erkundigen sich die Männer auf die gleiche Weise. Was haben diese Piloten doch für ein wunderbares Berufsethos! Und dabei hat mir der Chef der PSHM versichert, dass es gewissenlose Berg- 24 Mont Blanc: der Pilier d' Angle ( Flugaufnahme ) 25 Am Pilier d' Angle Steiger gibt, welche die Hilfe ohne plausiblen Grund benützen und sich sogar weigern, die Rechnung zu bezahlen!
Wir sind wieder allein. Nach dem Abflug der Piloten ist das Gefühl der Einsamkeit noch stärker geworden. Wir kommen nur langsam vorwärts. Alle vierzig Meter presse ich eine Plattform in den Pulverschnee. Es gibt praktisch keine Sicherung. Der Westwind fegt den Schnee mit unglaublicher Wucht vom Gipfelgrat. In der Wand waren wir geschützt, aber auf dem Gipfel des Mont Blanc de. Courmayeur ist die Hölle los! Es ist unmöglich, aufrecht zu stehen. Wir müssen uns sichern und auf allen vieren vorwärtskriechen. Ein komischer Anblick, der uns aber nicht zum Lachen reizt! Plötzlich wird Yvette buchstäblich weggeblasen: Sie liegt platt auf dem Bauch, und der Wind treibt sie gegen den Abgrund. Armand stösst vor und kann sie an einem Steigeisen packen, während ich mich in die Seile stemme. Etwas weiter vorn werde ich in eine kleine Spalte geschleudert, und Armand muss das gleiche Manöver nochmals ausführen. Wie Tiere kriechen wir gegen den Gipfel. Es ist bekannt, dass auf diesem Gipfelgrat schon verschiedene Seilschaften abgestürzt sind, was erstaunlich scheinen mag, da er relativ harmlos ist. Heute begreifen wir es!
Als wir uns dem Gipfel nähern, flaut der Wind etwas ab. Wohl gibt es noch Windstärken von mehr als hundert Stundenkilometern, aber man kann wenigstens aufrecht stehen. Ohne ein Wort, ganz verstört, beginnen wir rasch den Abstieg. In der Gouterhütte werden wir schlafen können, in Gesellschaft von zweihundert Alpinisten, die vom Mont Blanc träumen...
Am nächsten Tag haben wir uns bei den Männern der PSHM bedankt. Als sie das Mont-Blanc-Massiv absuchten, fanden sie auf dem Gipfel des Mont Blanc du Tacul einen einzelnen Mann ohne Sack und Lebensmittel, der vor zwei Tagen in einer Spalte Unterschlupf gesucht hatte. Mit seinem Feuerzeug hatte er versucht, ein wenig Schnee zu schmelzen, um seinen Durst zu löschenÜbersetzung E. Busenhart ) 26 Die Chandelle des Pilier du Frêney 27 Arête de Peuterey Photos Michel Vaucher, Genf