Pfingsttage am Sustenhorn
Von Georg Steinmann.
Im Verlauf einer vom Wetter überaus begünstigten Skifahrt auf den Zwächten — nach Mitte Mai — regte sich der alte Wunsch, auch das Sustenhorn im Bergfrühling aufzusuchen.
Am 3. Juniabend trafen wir uns in der heimeligen Voralphütte. Die Schneegrenze hatte sich des milden Winters wegen bis hierher zurückgezogen. Bis lang über Mitternacht erschienen neue Skifahrer, und die meisten fanden es überflüssigerweise nötig, so spät noch den Kochherd mit viel Geräusch in Betrieb zu setzen. Leider eine nicht seltene Unsitte.Von Schlaf infolgedessen kaum die Rede. Dass einige Frühgänger nicht früh genug wiederum für Lärm sorgten, ist ja klar. Erst gegen 6 Uhr verliessen wir zwei die Hütte.
Ah, wolkenlos der Himmel! In der feiertäglichen Stille erlebten wir F. Meyers Dichterworte aus « Engelberg »:
« Die Firne fangen an zu glimmen, Zu leuchten und im Licht zu schwimmen, Und von den hundert weissen Spitzen Herüber kommt 's wie Flügelblitzen, Die Tiefe tönt, die Höhen klingen... » Die Morgenkühle spornte zu rüstigem Ausschreiten, und rasch gewannen wir an Höhe. Der Schnee trug uns leicht, und erst im prallen Sonnenschein unter der Kehlenlücke wurden die Ski angeschnallt. Einige Spitzkehren in der Schneekehle, und schon öffnete die Lücke den freien Blick nach Süden zum Dammastock und seinen wächtengekrönten Trabanten. Bald belebten sich die sanften Firnhänge gegen die Sustenlimme zu: zahlreiches Skivolk stieg von der Kehlenalphütte herauf dem Sustenhorn zu.
Unser erstes Ziel war das Gwächtenhorn, 3428 m. Da die Abfahrtslinie auf dessen Ostseite liegt, durften wir auf dieser von den ersten Sonnenstrahlen bestrichenen Strecke führigen Sulz erwarten. Die frische Brise auf dem schneeigen Gipfelgrat erlaubte leider keine lange Rast, dafür genossen wir in kurzen vollen Zügen eine Fernsicht, wie sie sonst nur Herbsttage gewähren.
Die Abfahrt — eigentlich erst das Präludium der nachfolgenden Genüsse — dünkte mich leicht und schön, und schon lenkten wir die Bretter über das flache Firnfeld Richtung Sustenhorn. Der Aufstieg ist hier gegeben. Die weit nach Osten überhängende Gipfelwächte bot einen unerhört packenden Anblick. Die Fernsicht war noch umfassender als die vom Gwächtenhorn. Ringsum ein unendliches winterliches Gipfelmeer. Gegenüber, in der schroff abweisenden Nordflanke des Eggstockes, zieht eine kühne Aufstiegsspur gipfelwärts — wer wohl die trittsichern Mannen?
Endlich schlägt die Abfahrtstunde, und sie hält, was wir uns von ihr versprochen. Wieder in der Kehlenlücke angelangt, besehen wir das zur Voralphütte führende Abfahrtsgelände, die eigentliche pièce de résistance der Sustenhornfahrt: es ist noch unbeschrieben, nur unsere Aufstiegspur vom frühen Morgen zeichnet sich schwach ab.
Erste Bergschatten wachsen über die Ostseite. Der Schnee zieht leise an. Wir machen uns ans Werk. Bogen an Bogen zeichnet der telemark-schwingende Ski. Unbeschwert gleiten wir durch ein Traumland. Kein Laut als das leise, gleichmässige Rauschen der Schneekristalle unter dem talwärts eilenden Ski. So bietet diese Fahrt über den Brunnenfirn durch eine Höhe von etwa 1200 m alles und letztes.
Die Hütte steht verlassen da. Siehe, erscheint da nicht ein kapitaler Hase — mühsam humpelnd — in Griffnähe? Seine rechten Läufe sind blutig, von Knochen und Sehnen ist das Fell abgerissen. Armer Lampe! Doch wie hässlich, unser Mitleid wandelt sich sonderbar schnell in Gier: ein ernsthaftes Gespräch über die verschiedenen Möglichkeiten, die sich unserer Kochkunst so unerwartet eröffnen, hebt an, während der Unglückliche den Urteilsspruch über sein weiteres Schicksal ergeben auf einem aperen Geröllfleck erwartet. Aber — das vegetarische Gewissen meines Kameraden ruft pfui, und Lampe lebt weiter. Ich schäme mich, doch leider nur ein bisschen. Wie angenehm ist die Kühle der Hütte nach der heissen Sonne!
Am andern Morgen stehen wir zeitig wieder in der Kehlenlücke mit der Absicht, die Abfahrt im Christianiaschwung nochmals auszukosten. Die tragsichern Schneebrücken des Brunnenfirns können unbesorgt befahren werden. Und wieder spendet die Hütte erwünschten Schutz vor der flimmernden Glut des Mittags.
Der Abstieg zu Tal wird auch zum Genusse. Der Schnee allein macht nicht ganz glücklich. Mager sind die Weiden des Voralptales und gar oft von Steingetrümmer bedeckt. Aber der Frühling hat sich darauf niedergelassen und streut seine weissen, gelben, roten und blauen Blumen ans. Von den jähen Bergflanken rinnen silberne Wasser. Und hoch über den wilden Granittürmen des Salbitschyns wölbt sich ein unvergleichlicher Himmel. Das alles ist ein so klares und farbiges Lenzland, durchsummt von weichen Melodien des Windes und der glücklichen Seele. Die Schultern spüren kaum Bretter und Rucksack. Leicht und nur zu rasch schreiten wir hinab nach Göschenen.
Leser, du bist wohl enttäuscht von meinem Berichte. Aber darf man in « Die Alpen », die schon von so vielen kühnen und stolzen Bergfahrten Kunde gegeben, nicht auch einmal ein Schlichtes, Bescheidenes kurz erzählen?