Paul-Henri Girardin: Magier im Fels Die erste 6b in der Schweiz
In den 1950er-Jahren gelangen dem Bieler Paul-Henri Girardin die ersten 6a-Klettereien im Jura und die erste 6b der Schweiz – « on sight » und mit schweren Schuhen. Seine kühnen Unternehmen machten aus ihm einen Pionier des Freikletterns. Porträt eines wagemutigen Alpinisten.
Der 1936 geborene Paul-Henri Girardin, «Paulet» genannt, kletterte 1954 im Berner Jura eine kühne Stelle in der Wand von La Heutte im Sektor « Paradies » frei. Dieser befindet sich in einer Zone mit kompaktem Fels, der an der Oberfläche kaum Strukturen aufweist. Paulet bewältigte die Schwierigkeit im Vorstieg on sight in groben Schuhen, das Seil um die Hüfte geschlungen, ein paar Haken und Karabiner angehängt, während der Hammerstiel aus der Tasche ragte. Diese etwas in Vergessenheit geratene Stelle wurde im Rahmen eines historischen Buchs über diese Region näher untersucht (1). Dabei stellte sich heraus, dass Girardin der Erste war, der in der Schweiz eine 6b geklettert war. Da die Schwierigkeitsskala im Klettern damals noch nach oben geschlossen war und bei 6a endete, wurde die Stelle von Girardin folgerichtig als eine 6a bewertet – zu Unrecht, wie sich heute zeigt.
Der Exploit war bei einer Wiederholung der 100 Meter hohen Wand von La Heutte gelungen, zusammen mit Hugo Weber (2). Bei der Schlüsselseillänge meinte Paulet zu seinem ihn sichernden Freund: « Sag nichts, ich versuchs. » Am Haken angelangt, den sein Kamerad gesetzt hatte, vermied er einen Faustklemmgriff rechts, packte eine kleine Kante und zog sich in einer Art Piaztechnik hinauf. Dann kletterte er eine leicht überhängende Verschneidung, bevor er sich auf dem Band des vierten Stands erholte. Hugo Weber, der realisiert hatte, dass er seinem Kameraden nicht folgen konnte, blieb auf seiner Linie, die er vorher schon geklettert hatte und die heute mit 6a bewertet wird. Die Variante von Paul-Henri Girardin war aber eine 6b, und es dauerte noch eine ganze Klettergeneration, bis dieser Exploit übertroffen wurde.
Seit Beginn der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts kletterte Paul-Henri Girardin oft allein und machte sich ohne Absicherung an Boulder, die unmöglich zu sein schienen – heute werden diese mit 6a oder 6b gemäss Felskletterskala bewertet. Paulet spezialisierte sich aufs Piazen und senkrechte, griffarme Pfeiler, die ein enormes Gleichgewicht erfordern. Er war sehr talentiert und trainierte viel, um alle überflüssigen Bewegungen zu eliminieren. Er verzichtete auf den Einsatz von Trittleitern, kletterte technische Routen frei und wurde ein bedingungsloser Verfechter des Freikletterns. Immer wieder wagte er sich auch ganz allein und ohne Absicherung in Routen. Im Fels bewegte sich Girardin wie eine Katze, packte die Griffe, ohne zu zögern, und bewegte sich, ohne den Fels zu kratzen. Eine bemerkenswerte Leistung im Zeitalter der schweren, eisenbeschlagenen Bergschuhe. « Girardin war der Beste », so lautete der kurze Kommentar von Hugo Weber. Das sagt alles über seine Wertschätzung und die Freundschaft zu ihm.
Ab 1954 versuchte der Bieler, in der unbestiegenen, massiven und senkrechten Wand von Plagne eine Linie zu finden. Er eroberte sie Seillänge um Seillänge. Nach einem misslungenen Anlauf, den er im dichten Nebel unternahm, erreichte er den höchsten Punkt im November 1955. Es war das erste Mal, dass im Jura eine solche Wand, derart steil, hoch und schwierig (6a), erklettert wurde. Einige Tage später gelang Paulet die Erstbegehung solo, und er eröffnete einen direkten Ausstieg von zwei Seillängen durch einen Kamin. Dann, zusammen mit René Perrenoud, erkletterte er die ganze Wand in nur 50 Minuten.
In der gleichen Wand machte sich der Bergsteiger anschliessend an eine neue Route von rund 100 Metern, deren oberer Teil von beeindruckender Steilheit ist, weshalb sie auch Grand Vide getauft wurde.Er schrieb damit ein weiteres Stück Geschichte: Zum ersten Mal wurde im Jura eine 6a bereits bei der Eröffnung einer grossen Route frei geklettert. Diese Route setzte für eine ganze Generation weitherum einen Massstab. Sie ist Sinnbild für die Ambiance und die Gewagtheit einer ganzen Epoche des Frei kletterns im Jura.
Bei einem Versuch in der Nordwestwand der Rüdigenspitze in den Gastlosen stürzte Paulet schwer ins Seil. Da es – wie damals üblich – nur um den Bauch befestigt war, verursachte der Seilruck einen Nierenriss, und Girardins Erholungszeit zog sich in die Länge. Für den Bieler war das Klettern danach nicht mehr wie vorher, obschon ihm weiterhin zahlreiche Premieren und grosse Routen gelangen, darunter mehrere bedeutende im Jura. Zum Glück blieben seine Leidenschaft und sein Stil unversehrt. Durch seinen Enthusiasmus steckte der starke Raucher, der auf dem Töff genauso schnell und wagemutig unterwegs war wie im Fels, viele Personen mit dem Klettervirus an, darunter seine Söhne Christophe und Boris. Beide sind würdige Nachdolger ihres Vaters und haben ihrerseits bereits viele neue Routen eröffnet.