Mosso: Der Mensch auf den Hochalpen
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Mosso: Der Mensch auf den Hochalpen

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Das Buch des Turiner Physiologie-Professors ist ein gediegenes Sammelwerk über Höhenphysiologie, das verdiente, neben Humboldt's „ Ansichten der Natur " in der Bibliothek jedes Clubisten zu figurieren. Das Resultat einer vierwöchentlichen Forschung in der Hütte Regina Margherita auf dem Monte Rosa im Juli 1894 findet sich darin niedergelegt. Es verbindet das 480 Seiten zählende Werk die Annehmlichkeit des großen Druckes mit einer sehr ansprechenden innern Ausstattung mittelst unzähliger Phototypien am Kopfe und Ende jedes Kapitels und auch mitten im Text; bald ist es ein alpinistischer Ausrüstungsgegenstand, bald ein Lagerplatz, ein Panorama, der Abstieg einer Expedition oder die Abbildung eines Apparates zur bessern Verständlichmachung eines vorgenommenen Experimentes. In der Schreibweise reiht sich „ Der Mensch auf den Hochalpen " würdig den früheren Publikationen desselben Gelehrten an. In anziehendster Weise sind allgemeinere Betrachtungen mit specifisch medizinischen verflochten, so daß das Überschlagen irgend eines Kapitels stets die Gefahr in sich schließt, daß irgend eine interessante Mitteilung oder Erfahrung Übergängen wird. Das Inhaltsverzeichnis und die Anlage des Werkes sind der Art, daß man ein beliebiges Kapitel, das besondern Reiz bietet, herausgreifen kann und dasselbe alsdann für sich als ein abgeschlossenes Ganzes über die betreffende Frage vor sich hat. Nichts, was das Leben des Alpinisten auch nur im Entferntesten angehen könnte, ist unberücksichtigt geblieben; die Atmung, der Puls, die Körpertemperatur, die Schneeblindheit und sonstigen Augenkrankheiten auf den Bergen, das Nasenbluten und die Blutungen von Zahnfleisch und Haut, die Hochgebirgs-Lungenentzündungen, der Murmeltierschlaf und das Schnarchen in den Clubhütten, das ewige Ausgehen von Pfeife und Cigarre, das Grashälmchen im Munde oder die trockene Zwetschge, das Reden beim Bergansteigen, das Indieseitestützen der Arme und Vorgebeugthalten des Kopfes, die Grenzen der menschlichen Widerstandsfähigkeit gegen Anstrengungen, die Wirkungen von Kälte, Wind und Dunkelheit, die prächtigen Lichteffekte in den Bergen, die schlagenden Wetter, das Ge-summ und Gezische der Luftelektricität, die Gletscherflöhe, die Vorteile der Langbeinigen gegenüber den Kurzleibigen, das Blau des Himmels, die Clubhüttenausstattung und die Touristenausrüstung, die Ausdünstung, sowie das Körpergewicht, die Befähigung zum Bergsport etc.

Ebenso reichhaltig wie der Stoff ist auch die benutzte Litteratur, die der Autor in bescheidener Art jeweilen unten an den betreffenden Seiten in Kleindruck anbringen ließ. Über 100 medizinische und 45 alpinistische Publikationen lassen sich zusammenstellen. Französische, englische, deutsche, italienische, skandinavische und Schweizerforscher sind citiert.

Die zur Expedition und zur Verarbeitung der Forschungen nötigen Finanzen hat sich Prof. Mosso bei der italienischen Regierung, bei der Universität von Turin und nicht zum geringsten Teile bei der Königin Margherita selbst, der rühmlichst bekannten Alpengängerin, zu beschaffen gewußt. Ausgerüstet mit kostspieligem Instrumentarium und begleitet von einer auserlesenen Truppe von Hilfspersonal, machte sich der Ge- lehrte im Juli 1894 auf nach dem Monte Rosa, und es ist schon die Art und Weise des Vorgehens, wie er es in der Einleitung und später auf Seite 148—152 wiedergiebt, höchst interessant; während nämlich der eine Teil der Expedition bei 2500, 3000, 3600 und 4500 Metern Halt machte, Lagerstätten aufschlug und sich allmählich an die jeweiligen Verhältnisse gewöhnte, erklomm der andere Teil der Expedition in möglichst kurzer Zeit den höchsten Punkt. Es war Mosso eben hauptsächlich darum zu thun, die Erscheinungen beim langsamen Sichanpassen von denen beim raschen Aufstieg, d.h. die Zeichen der akuten Bergkrankheit von denen der chronischen Hochalpenluftvergiftung zu trennen. Zu den vielen schon aufgetauchten Theorien über die Bergkrankheit hat der Autor noch die seine von der sogenannten Akapnie oder dem Kohlensäuremangel hinzugesellt. Weder der zu geringen Lungenkapacität noch der allzutrockenen und allzureinen Luft, weder der Ermüdung noch der Kälte, weder den Blutlaufstörungen noch der Grellheit des direkten und reflektierten Lichtes, weder dem verminderten Luftdruck noch dem Sauerstoffmangel wollte er die Schuld allein beimessen, nein, er sieht den Grund der Bergkrankheit in zu raschem und zu intensivem Abgeben der Kohlensäure, bedingt durch die Luftverdünnung, deshalb sei es günstiger, wenn möglichst viel Leute in einer Clubhütte zusammentreffen, weil jeder Einzelne alsdann die von den übrigen Insassen ausgeatmete Kohlensäure für sich selbst wieder in Anspruch nehmen könne. Wie das Zuviel an CO2, so schade auch das Zuwenig an CO2.

Für den Praktiker von größerer Wichtigkeit ist das Kapitel von den Unfällen im Hochgebirge, in welchem Mosso die nervöse Depression, die Gleichgültigkeit, wie sie so bald nach angespannter Aufmerksamkeit Platz greift, in unserem Gehirn als Ursache so vieler Katastrophen anspricht. Ermüdungsprodukte, die im Blute cirkulieren, schädigen das Centralnervensystem; deshalb ereignen sich die Unfälle auch meist nicht an den gefährlichen Stellen selbst, sondern nach ihnen, und mehr beim Abstieg als beim Aufstieg. Der Stumpfsinn, der hier als Folge der Gehirn-ermüdung auftritt, wird dem Menschen zur Gefahr, während er beim Kamel der Wüste zur Tugend wird.

Über eventuelle Charakteränderungen als fernerer Wirkung der Ermüdungsprodukte beim Bergsteigen auf unser Gehirn werden die wenigsten Clubisten sich bisher Rechenschaft gegeben haben, und doch wie häufig sind die Exaltations- und Depressionszustände bei den ankommenden Hüttengästen, bei denen der italienischen Seite des Monte Rosa häufiger als bei den von der Schweizerseite herkommenden, weil der Aufstieg hierseits weniger anstrengt. Tanzen, Singen, Beten, Weinen sind kejne seltenen Beobachtungen an den Ankommenden.

Was man auf Hochtouren essen und trinken soll, das überläßt Mosso dem individuellen Gutdünken; er meint, es sei am besten, oben mit dem fortzufahren, an was man unten gewöhnt war; man solle ferner essen, wenn sich Hunger zeige, und trinken, wenn der Durst sich kundgebe; nur gesalzenes oder geräuchertes Fleisch sei mitzunehmen; das Anheizen der menschlichen Lokomotive am Tage zuvor sei auf jeden Fall ein zweckmäßigeres Vorgehen, als deren Überheizen mittelst opulenter Gelage und schwerer Weine am Vorabend einer größern Tour. Die Thatsache, daß der Wein, wie jedes andere alkoholische Getränke, auf den Alpen an Berauschungskraft verliert, soll ja nicht herausfordern zum Mitschleppen eines ganzen Bouteillers, denn auch Mosso's Erfahrung geht dahin, daß ein Gemisch von Zucker und Wasser, 1:11, krafterzeugender wirkt, als 3 Deciliter Ville de Lausanne. Nach einer Tour benimmt ein Bad und nachherige gehörige Massage unter dem Strahl am besten die Müdigkeit und allfällige Muskelschmerzen.

Oft'und viel kommt der Autor auf den Vergleich zwischen dem Bergsteigen dem Radfahren zu sprechen, ist ihm bei beiden Sportarten „ the Training ", das Sichtrainieren, die Hauptsache. Herz, Lungen, Muskeln, Gelenke, selbst der Geist, müssen sich der Arbeit allmählich anpassen. Übung macht den Meister; nur die stete Übung des ganzen, lieben Ichs macht unsere Führer fähig, wochenlang schwerbeladen die schwierigsten Touren mit Kaltblütigkeit und Vorsicht auszuführen. Mangel an Übung ist es, was den Sonntagskletterer so mlide macht und die Bergkrankheit heraufbeschwört. Dazu kommt, daß nicht ein jeder tauglich ist für diesen Sport. Eine vorgängige Musterung durch den Arzt und eine Probetour wären hier ebenso angezeigt, wie beim Militär.

Was wir der Reinheit, Trockenheit, Bakterienfreiheit unserer Berge zu verdanken haben, das fiele auch nicht jedermann gleich ein, wenn Mosso nicht auch diesen Punkt der Berücksichtigung für wert gehalten hätte. Die an den Felsen angebrachten Seile bleiben ewig neu, die eingeschlagenen Eisenstücke rosten nicht, ein toter Körper bleibt unendlich lange kenntlich, und wer sein Fleisch und Käse auf eines Berges Zinne liegen ließ, der kann es füglich ein Jahr später wiederfinden und erst dann genießen. Die Bündner nutzen diesen Vorteil längst schon aus zur Herstellung von luftgedörrtem Fleisch; die Mumifikation in Ägypten beruht auch auf nichts anderem, als dem Fernbleiben der Fäulnisbakterien, auf der Sterilität und Trockenheit der Luft. Von der Wirkung indirekten und direkten Sonnenlichtes in den Bergen sprechend, empfiehlt Mosso zur möglichsten Verhütung des sogenannten kalten Brandes das Braunanstreiclien des Gesichtes mit Sepia u. dgl. oder Schwärzung mittelst Kohle. Interessant ist ferner seine Auffassung vom Alpenglühen und die Erklärung, warum die Alpenpflänzlein saftiger, wohlriechender und dunkler in den Farben sind. Er führt es auf die Wirksamkeit gewisser Teile unseres Sonnenspektrums zurück, die noch nicht durch den um die Erde lagernden Dunstkreis Schwächung zu erleiden hatten.

Die sportliche Ausrüstung betreffend, empfiehlt der Autor seinen Lesern, in kalten Clubhütten den Rucksack als Fußsack zu nehmen, die Schuhe, gut umwickelt, als Kopfpolster, als Ohrenschutz ein Taschen-oder Halstuch zu brauchen und sich mit seinem ausgezogenen Rocke den Leib zu decken.

In alle Geheimnisse des Lebens im Hochgebirge wird der Leser eingeführt, und manchen guten Rat kann er sich aus dem Buche holen für künftige Touren; jeden regt es zur eigenen Beobachtung und zur Nachprüfung dieses oder jenes Ausspruches an. Für alles, gar alles um ihn her hatte Mosso ein offenes Auge; dabei entpuppt er sich auch als ein Mann von tiefem Gemüt und idealem Schwünge; man lese nur sein Kapitel über den Alpinismus und dessen Zukunft, wo er sagt: der Alpinist soll nicht nur ein Mensch sein mit innern krankhaften Gelüsten, sondern auch ein Naturforscher, wie sich 's gebührt, im Hinblick auf die Hehre und Großartigkeit der Natur und deren geniale Einrichtungen. Man möge die Jugend hinausführen in die Thäler und Berge und sie in der Höhe der letzten Weideplätze unter einem Zelte einem ruhigen Naturgenusse sich hingeben lernen. Ein Volk, das seine Berge liebt, wird an Sittlichkeit und Körperkraft sicherlich nur gewinnen.

Dr. Kwsteiner ( Sektion Bern ).

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