Mit neuen Zielen unterwegs Sascha Lehmann
Im November hat Sascha Lehmann in Moskau trotz EM‑Gold und -Silber das Olympiaticket denkbar knapp verpasst. Mittlerweile hat der Burgdorfer ein Physikstudium begonnen – und will im Leadweltcup und bei der Weltmeisterschaft voll angreifen.
Nur wenn oben in den Gräben des Emmentals kräftige Gewitter niedergehen, schwillt die Emme zu einem reissenden Fluss an. An heissen Sommertagen aber zieht es die Menschen in Burgdorf auf die Steine des Flussbettes. Im Winter ist es an der Emme wesentlich ruhiger: Lediglich ein paar Stockenten geniessen die Vormittagssonne, die über dem Schloss am Himmel steht. Die imposante Burg aus dem elften Jahrhundert ist das wohl bekannteste Wahrzeichen des Städtchens mit rund 16 000 Einwohnern. Ein weiteres liegt auf der anderen Seite der Emme: Direkt am Fluss erheben sich die Gisnauflüe aus dem Wald. Die kahlen und steilen Felswände fallen sofort ins Auge. «Klettern kannst du hier aber nicht», sagt einer, der es wissen muss: Sascha Lehmann, 23-jährig, in Burgdorf aufgewachsen. Der Sandstein der Gisnauflüe ist in der Tat nicht das, was sich Kletterer wünschen. «Er ist brüchig. Zudem ist es verboten, hier zu klettern», sagt der Physikstudent.
Elf Sekunden fehlten
Sascha Lehmann gilt als grosse Hoffnung der Schweizer Sportkletterer. Im November hat er an der Europameisterschaft in Moskau die Silbermedaille in der Kombination geholt. Der zweite Platz war für den jungen Burgdorfer doppelt bitter: Bis kurz vor Schluss lag er in Front. Erst der Israeli Yuval Shemla kletterte im Lead ebenfalls das Top und war zudem schneller als der Emmentaler. Sascha Lehmann musste sich schliesslich in der Kombinationswertung gegenüber dem Russen Alexei Rubtsov geschlagen geben. Dieser sicherte sich nicht nur die Goldmedaille, sondern auch das letzte Ticket für die Olympischen Sommerspiele 2021. Elf Sekunden fehlten dem Schweizer am Ende. Umso länger dauerte die Verarbeitung der verpassten Olympiaqualifikation: «Gerade, dass es so knapp war, machte es für mich schwierig», sagt er.
Nur zwei Tage zuvor hatte sich Sascha Lehmann in der Einzelwertung seiner Paradedisziplin Lead den Europameistertitel gesichert. Keiner der acht Finalisten war in der Route höher geklettert als der Burgdorfer. Bei der Olympiapremiere in Tokio liegt für die Sportkletterer allerdings nur ein Medaillensatz bereit. Dies in der Kombination, die die Disziplinen Speed, Lead und Bouldern vereint. Trotz der verpassten Qualifikation freut sich Sascha Lehmann auf das Olympiadebüt seines Sports: «Die mediale Aufmerksamkeit hilft sicher, dass den Kletterern mehr Mittel zur Verfügung stehen.»
Sascha Lehmanns Weg an die Weltspitze im Klettern ist nicht selbstverständlich: Die Eltern waren beide als Turner aktiv. Vater Markus nahm an den Olympischen Spielen in Los Angeles teil. Auch Sascha war aktiver Geräteturner. In den Campingferien hatte die Familie aber immer die Klettersachen dabei. Früh zeigten sich Saschas Talent fürs Klettern und seine Liebe zu diesem Sport. Doch das lokale Kletterangebot ist beschränkt: «Als junger Kletterer in der Region Burgdorf bist du sehr stark auf die Unterstützung der Eltern angewiesen», sagt Sascha Lehmann. Heute ist er vorwiegend mit dem Generalabonnement unterwegs, wohnt aber weiterhin bei seinen Eltern. «Das ergibt für mich auch finanziell am meisten Sinn», sagt der Spitzenkletterer.
An Fingerkraft zulegen
Auch ohne die Reise nach Japan hält das Jahr 2021 für Sascha Lehmann einige Herausforderungen bereit: «Als Sportler ist es wichtig, dass man immer Ziele hat», sagt er. Nicht nur an der Kletterwand, sondern auch im Kopf: Der Burgdorfer steht im ersten Semester seines Studiums. Physik im Hauptfach, Mathematik im Nebenfach. Es hat lange gedauert, bis sich der Spitzenkletterer für ein Studienfach entscheiden konnte: «Es gibt so vieles, was mich interessiert. Doch Physik hat mich schon immer fasziniert. Schliesslich geht es dabei um die grundlegenden Zusammenhänge unserer Welt.» Trotz dem Studium steht der Sport an erster Stelle. Rund 25 Stunden wendet Sascha Lehmann pro Woche für das Training auf. Er trainiert mit der Nationalmannschaft im nationalen Leistungszentrum in Biel. «Gerade im Bouldern haben wir ein paar Athleten auf ähnlich starkem Niveau. Das pusht im Training enorm», so der Burgdorfer. Immer wieder reist er auch nach Innsbruck, wo der Fokus auf das Leadklettern gerichtet ist. Dreimal in der Woche stehen Hangboard-Sessions mit Maximalkraft an, denn er weiss: «Bei der Fingerkraft muss ich trotz Fortschritten weiter zulegen.» Wo seine grossen Stärken liegen, hat er bei der Europameisterschaft in Moskau eindrücklich bewiesen: Auch unter Druck kann Sascha Lehmann Höchstleistungen abrufen – ohne dass seine Kraft an der Wand dabei zu schnell verpufft. Seine Bewegungen blieben selbst in den Finaldurchgängen geschmeidig und äusserst effizient.
Mit der Weltmeisterschaft, die in diesem Jahr wiederum in Moskau stattfindet, steht für die Kletterelite ein weiterer Höhepunkt auf dem Programm. Dazu kommt der Weltcup im Lead, wo Sascha Lehmann erneut angreifen möchte: «Mein Ziel sind Podestplätze», sagt er selbstbewusst. Und sein Blick richtet sich noch etwas weiter in die Zukunft: Bei den Olympischen Spielen in Paris kommt es zu einem Moduswechsel. Die Kombination besteht dann aus den Disziplinen Lead und Bouldern. Speed erhält einen eigenen Medaillensatz. Während in Tokio noch insgesamt 40 Startplätze bei den Männern und Frauen zur Verfügung stehen, steigt diese Zahl in Frankreich auf 68. Eine Umstellung, die dem Leadspezialisten entgegenkommt. «Ich habe versucht, den Trainingsaufwand beim Speed im Vergleich zu den anderen Disziplinen gering zu halten. Nun werde ich wohl ganz auf Speedtrainings verzichten», sagt Sascha Lehmann, steigt auf sein Velo und radelt in Richtung Schloss davon.