Mit fremden Augen sehen.
Hermann Kornacher, D-Unterpfaffenhofen
Hast Du schon einmal eine Bergfahrt oder auch nur eine kurze Wanderung mit einem - Blinden gemacht? Nein? Dann tu diesen Gedanken bitte nicht gleich als etwas ab, was für Dich gar nicht in Frage kommen könne; mach bitte erst einmal den Versuch. Die Möglichkeit dazu wird sich bei gutem Willen überall finden lassen.
Allerdings: es gehört dazu schon ein wenig Liebe und etwas mehr Geduld.
12 Fernand Nathan, 1974.
Es sage aber keiner, dass ein blinder Mensch von all den Schönheiten am Wege, von dem Wunder der Farben und Formen ja doch nichts habe. Dafür können eben wir, die Begleiter, alles klar und deutlich sehen, es dem Menschen an unserer Seite sagen und beschreiben. Du wirst zwar bald merken, dass dies gar nicht so einfach ist. Doch der blinde Mensch hat gelernt, einen um so besseren Gebrauch von seinen vier anderen Sinnen zu machen, und vielleicht nimmt er damit sogar mehr in sich auf als wir mit unseren fünf gesunden.
Das Rauschen des Wasserfalls, der zarte Duft der Bergblume am Wegrand, der Geschmack der Waldhimbeere und das rauhe, verwitterte Holz des Gipfelkreuzes - das alles vermag ihm vielleicht mehr zu sagen als uns, die wir.unsere Augen oft nur oberflächlich überall diese Herrlichkeiten hingleiten lassen.
Sehen wir einmal ab von der grossen, seltenen Freude, die wir durch so eine gemeinsame Wanderung einem blinden Menschen bereiten können. Unermesslich ist doch der Gewinn, den wir selbst bei einer solchen Fahrt davontragen. Es ist der Blinde, der uns das rechte Schauen erst richtig beibringt, uns dazu zwingt durch seine Fragen und seine schier unerschöpfliche Wissbegierde.
Wir werden gewahr, dass wir selbst bisher auf all den vielen Wanderungen und Fahrten an so manchem wie Blinde vorübergelaufen sind. Da sind Wege, die wir eben schon zu oft gegangen, deren Schönheiten uns dadurch schon zu vertraut, ja zu alltäglich geworden sind, als dass wir sie noch mit empfänglichen Sinnen in uns aufnehmen könnten.
Ja, die Gewohnheit, die Wiederholung und die Trägheit des Herzens, sie sind die grössten Gefahren des Bergsteigers und Wanderers, und er erliegt ihnen immer mehr, von der Zeitnot gehetzt und vom Hunger nach neuen Eindrücken getrieben. Zuletzt müssten wir uns — wenn wir ehrlich sind - fragen, wer da in Wirklichkeit blind ist; sind es die, denen das Augenlicht versagt ist, oder sind es-wir?