«Mit den Bergen lassen sich Brücken bauen» Alpines Museum der Schweiz
Für die neue Ausstellung «Let's Talk about Mountains» war Direktor Beat Hächler während insgesamt fünf Wochen gemeinsam mit einem Filmteam in Nordkorea unterwegs. Seine Erlebnisse und Eindrücke schildert er in einem Gespräch über Menschen, Berge – und Politik.
Bei Nordkorea denkt man normalerweise nicht als Erstes an die Gebirge. Wie kamen Sie auf die Idee, eine Ausstellung über die Berge in einer Diktatur zu machen?
Der Begriff der «Diktatur» verweist auf das politische System. Wir versuchten mit den Bergen einen «unpolitischen» Zugang zu finden. Am Anfang stand für mich die Entdeckung, dass Nordkorea ein sehr gebirgiges Land ist. Das ist banal, aber viele sind sich dessen gar nicht bewusst. Einem schwer zugänglichen und abgeschotteten Land auf diese Weise näherzukommen, fanden wir eine spannende Idee. Sie sollte uns Türen öffnen, die sonst gerne verschlossen bleiben.
Ist das nicht ein zu naiver Zugang zu einer Diktatur wie in Nordkorea?
Nein. Die Bedeutung der Berge ist in einem gebirgigen Land immer sehr vielschichtig und mehrdeutig. Das wissen wir aus eigener Erfahrung in der Schweiz. Die Berge sind fester Teil unserer Identität, unserer Wirtschaft, unserer Energieversorgung, unserer Möglichkeiten, Landwirtschaft zu betreiben, unserer militärischen Geschichte, vor allem aber unseres Kulturerbes. Das ist in Nordkorea genauso. Das Politische schwingt in diesen Bergbedeutungen immer mit. Auch das ist in Nordkorea genauso. Für uns waren die Berge ein Türöffner, neugierig zu beobachten, Fragen zu stellen und zuzuhören.
Wie haben Sie die Begegnungen mit den nordkoreanischen Menschen erlebt?
Als Westeuropäer wird man schnell als ausländischer Gast erkannt. Das löst bei den Menschen aber eher positive Gefühle aus. Sie kommen auf einen zu, suchen das Gespräch oder möchten ein Foto machen. Nordkorea hat zweifellos eine schwierige Vergangenheit, zu der die internationalen Grossmächte ihren Teil beitrugen, es ist aber auch ein Land, das uns heute mit einer schwer verständlichen Politik konfrontiert. Dahinter drohen die Menschen immer zu verschwinden. Doch Nordkoreanerinnen und -koreaner haben ähnliche Bedürfnisse wie wir. Für ein Kennenlernen sind die Bergregionen geradezu prädestiniert – mit den Bergen lassen sich Brücken bauen. Die Menschen sind viel mehr sich selbst, lockerer und offener als im städtischen Alltag.
Welche Rolle spielen die Berge in Nordkorea?
Nordkorea ist drei Mal so gross wie die Schweiz, und 80% der Fläche sind Bergregionen. Abgesehen von einigen Grossstädten wohnen viele Menschen in Berggebieten, das Gebirge ist eine Lebensrealität, die entsprechend auch im Denken und in der Kultur der nordkoreanischen Bevölkerung verankert ist.
Sie waren sowohl in Süd- als auch in Nordkorea unterwegs. Wie gross waren die angetroffenen Unterschiede in den Bergen?
Die Südkoreaner sind in der Regel sehr gut ausgerüstet. Die Berge könnten – gemessen an der Ausrüstung – noch ein paar Tausend Meter höher sein (lacht). Dort geht man ähnlich wie heutzutage bei uns oftmals im sportlichen Sinne wandern. Kommt man nach Nordkorea, erlebt man eher ein Ausflüglertum, das mich an die eigene Kindheit der 1960er-Jahre erinnert hat. Familien, Vereine, Betriebsgruppen sind da unterwegs und machen sich einen schönen Tag in den Bergen.
Wie haben Sie persönlich die Berge in Nordkorea erlebt?
In der Bergregion Kumgangsan im Südosten Nordkoreas, nahe der Grenze zu Südkorea, wähnt man sich im Tessin. Die Wälder und Berge erinnern stark ans Maggia- oder ans Bavonatal. Die Gipfel sind maximal 2000 Meter hoch, es gibt sowohl schroffe Felsflanken als auch eher liebliche Bergzüge. Dort sind die Besucher in Gruppen auf sehr gut ausgebauten Pfaden – teilweise mit Treppen und Geländern – unterwegs. Die Kontrollen sind hier weniger präsent als in der Stadt, es herrscht eher Schulreiseatmosphäre.
Stark ausgebaute Wege, ein Zeichen für die Kontrolle und Regulierung der Diktatur?
Nicht zwingend. Denn auch in Südkorea sind die Wanderpfade im gleichen Zustand oder sogar noch stärker verbaut. In Südkorea haben wir auf einem Gipfel sogar Lautsprecherdurchsagen gehört, die einen ermahnen, wann es Zeit zur Umkehr ist. Ich denke, dies ist mehr kulturell als politisch bedingt. Man möchte sich in den Bergen regelkonform verhalten, wie man es auch aus anderen Lebensbereichen kennt.
Wir können unsere Freizeit frei gestalten. Wie sieht dies in Nordkorea aus?
Die Bevölkerung kann grundsätzlich nicht frei im Land herumreisen. Es braucht Bewilligungen, um eine Stadt zu verlassen und in eine andere Stadt zu gehen. Meist sind die Menschen deshalb in organisierten Gruppen unterwegs. Dennoch finden sich in den Bergen ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. So haben wir Mitarbeitende einer Fabrik, Arbeitsbrigaden, Schulklassen oder pensionierte Lehrerinnen getroffen. Und: Die Emotionen, welche die Menschen in den Bergen erleben, sind vergleichbar mit denjenigen, die wir bei uns in den Bergen haben.
Inwiefern verändern die Berge die Menschen in Nordkorea?
Was mir aufgefallen ist: Wenn man in Pjöngjang aus dem Fenster schaut, sieht man die Menschen zumeist in einer Art Marschgang unterwegs. In den Bergen wirken sie anders. Sie bewegen sich unterschiedlicher, scheinen fröhlicher, unbeschwerter. Fast so, als würden ihnen die Berge ein bisschen mehr Freiraum und Individualität lassen als der Alltag in der Stadt. Vielleicht projizierten wir das mit unserem europäischen Blick auch etwas hinein, aber ich hatte definitiv das Gefühl, den nordkoreanischen Menschen in den Bergen näher zu kommen als in der Stadt.
Eine Familie mit individuellem Ziel allein unterwegs in den Bergen wie bei uns. Vorstellbar?
Es wäre mir nicht bekannt, dass dies gemacht wird. Berge werden prinzipiell nicht individuell begangen. Auch für ausländische Touristen ist dies so nicht möglich. In Nordkorea kennt man auch das Klettern mit Seil nicht – es gibt keinen Alpinclub. In Südkorea hingegen schon– und der nennt sich sogar Korean Alpine Club, mit einem Edelweiss im Logo. Es gab in den 2000er-Jahren ein innerkoreanisches Projekt, bei dem Bergsteiger beider Nationen gemeinsam im Kumgangsan-Gebiet Eisklettern gingen. Die Wirren der politischen Grosswetterlage verhinderten weitere Projekte.
Sind die Filme, die es in der Ausstellung zu sehen gibt, von den nordkoreanischen Behörden abgesegnet worden?
Nein. Die Behörden hätten die Filmaufnahmen gerne durchgesehen, doch wir machten ihnen klar, dass wir das Projekt so nicht machen können. Das wurde akzeptiert. Die Bilder wurden nicht einmal stichprobeweise bei der Ausreise aus Nordkorea gecheckt. Klar ist: Die Inhalte waren den Behörden ja eigentlich bekannt, weil wir bei den Dreharbeiten ständig begleitet waren und unsere Guides auch unsere Dolmetscher waren. Ironischerweise kam es nur bei der Ausreise nach Südkorea zu Komplikationen. Das Filmmaterial aus Nordkorea durfte nicht nach Südkorea eingeführt werden; es blieb unter Verschluss, bis wir wieder ausreisten. Das zeigt, wie gross die Anspannungen zwischen diesen beiden Ländern sind.
Wie frei konnten sich das Team und Sie für dieses Filmprojekt bewegen?
Vor der Reise hatten wir über die nordkoreanische Botschaft die Erlaubnis für das Drehprogramm eingeholt und gegenseitig die Spielregeln definiert. Wir erklärten den Behörden, welche Freiheiten wir brauchen, damit wir dieses Projekt sinnvoll und glaubwürdig umsetzen können. In den insgesamt fünf Wochen im Land konnten wir abgesehen von zwei Schauplätzen alle Orte besuchen, die wir angegeben hatten. Klar, wir waren vor Ort auf die Guides angewiesen, aber sie halfen uns, die Kontakte herzustellen, die wir wünschten. Und das klappte auch.
Das Spannungsfeld ist enorm: Einerseits ermöglichen die Berge ein Gefühl der Individualität und Freiheit, anderseits werden die Gipfel als politisches Symbol der Regierung vereinnahmt.
Während man im Kumgangsan-Gebiet eher die Erholung und das gemütliche Beisammensein zelebriert, erscheint der im Nordosten gelegene höchste Berg Nordkoreas, der Paektusan als politischer Wallfahrtsort. Denn das Gebirge rund um den Paektusan ist integraler Bestandteil des Gründungsmythos des Landes. Der Grenzberg zu China ist als Geburtsstätte der Kim-Dynastie überhöht, und das spiegelt sich heute in einer allgegenwärtigen und eifrigst gepflegten Bildwelt wider. In Pjöngjang ist der Paektusan omnipräsent. Sei das auf den Plakaten von unzähligen staatlichen Produktionsfirmen, auf riesigen Mosaikbildern oder an Bushaltestellen. Übrigens: Dem Paektusan bin ich bereits in der nordkoreanischen Botschaft in Muri bei Bern mehrmals begegnet. Die Bilder des Berges gibt es dort gleich in zwei Räumen zu sehen.