Mistbiene auf Reisen Das Zugverhalten von Schwebfliegen
Im Text des Volkslieds Übere Gotthard flüged Bräme steckt mehr Wahrheit als gedacht: Zahlreiche Insektenarten zeigen ein ähnliches Migrationsverhalten wie Zugvögel. Auf dem Col de Bretolet im Wallis wird dieses Phänomen erforscht. Ein besonderer Fokus richtet sich dabei auf die Schwebfliegen.
«Super! Wir haben Südwind», sagt der Biologe Myles Menz, als er sein Auto am Fusse der Dents Blanches im Wallis über das Plateau de Barme steuert. Am Horizont ist bereits der Col de Bretolet sichtbar. Hier liegt die Grenze zu Frankreich. Wer genau hinschaut, erkennt, dass auf dem sanften Hügelzug meterhohe Netze aufgespannt sind. Die Schweizerische Vogelwarte Sempach fängt auf dieser Passhöhe seit 1958 zwischen Juli und Oktober alljährlich bis zu 20 000 Vögel, um sie zu beringen und ihr Zugverhalten zu erforschen. Was nur wenige wissen: Auch zahlreiche Insektenarten nutzen gerne Pässe wie den Bretolet als Reiseroute. Denn auch sie verbringen den Winter in den wärmeren Zonen des Mittelmeers. Dazu zählen verschiedene Fliegen- und Schmetterlingsarten – beispielsweise der Admiral.
Einer Insektengruppe widmet Menz derzeit besondere Aufmerksamkeit: den Schwebfliegen (Syrphidae). Gemeinsam mit den Bienen gehören sie zu den wichtigsten Bestäubern von Pflanzen. Eine im Frühling 2020 publizierte Untersuchung über die Befruchtung von 105 weltweit relevanten Nahrungspflanzen hat gezeigt, dass Schwebfliegen mehr als die Hälfte davon besuchen und damit als Befruchter einen Wert von über 300 Milliarden Dollar pro Jahr generieren. Angesichts des Bienensterbens, das seit rund zehn Jahren weltweit für Schlagzeilen sorgt, gewinnt die Erforschung von möglichen alternativen Bestäubern zunehmend an Bedeutung.
Anpassungsfähige Flugkünstler
Weltweit gibt es rund 6000 bekannte Schwebfliegenarten. Aufgrund ihrer Fähigkeit, wie ein Helikopter fix an einer Stelle zu verharren, werden sie auch Steh- oder Schwirrfliegen genannt. In der Schweiz kommen rund 450 Arten vor; ein Dutzend davon zählt zu den migrierenden Arten – so etwa die Mistbiene (Eristalis tenax) oder die Hainschwebfliege (Episyrphus balteatus). Beide sind recht häufig und gelten als wichtige Bestäuber von Nutzpflanzen. Die verschiedenen Schwebfliegenarten sehen sehr unterschiedlich aus: Manche tarnen sich als gelb-schwarz gestreifte Wespe, andere sehen fast aus wie eine Stubenfliege und wieder andere gleichen Hummeln, Bienen, Hornissen oder Bremsen. Es wäre also durchaus möglich, dass es Schwebfliegen waren, die den Willerzeller Komponisten Artur Beul zu seinem Hit Übere Gotthard flüged Bräme inspiriert haben. Denn die echten Bremsen zeigen nach dem bisherigen Stand der Wissenschaft kein Wanderverhalten.
Von 0 bis 1400 Meter über Grund
Seit 2015 untersucht Myles Menz auf dem Col de Bretolet das Migrationsverhalten der Schwebfliegen und knüpft damit an Forschungsarbeiten aus den 1960er-Jahren an. Über den Südwind freut er sich, weil die Schwebfliegen dann besonders gut zu beobachten sind. «Man erkennt sogar von blossem Auge, dass es sie massenweise Richtung Mittelmeer zieht», erklärt der gebürtige Australier, der heute am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz tätig ist. Bei Südwind herrschen höhere Temperaturen, dann sind Insekten generell etwas aktiver. Und weil sie gegen den Wind fliegen müssen, wählen sie eine Flughöhe, die nahe am Boden liegt. Bei Rückenwind ziehen Schwebfliegen dagegen in grossen Höhen. Im deutschen Mittelgebirge, über der Schwäbischen Alb, konnten Forscher dank speziellen optischen Geräten noch in Höhen von 1000 bis 1400 Metern über Grund starken Fliegenzug feststellen. Auf der Schwäbischen Alb befindet sich die Forschungsstation Randecker Maar. Dort werden die Wanderungen von Schwebfliegen seit 1970 dokumentiert.
Insektenfalle Marke Eigenbau
Das Herzstück von Menz’ Forschung auf dem Col de Bretolet ist ein – mithilfe des Zeltherstellers Spatz – selbst gebautes Fangzelt von rund zwei Metern Höhe und vier Metern Breite. Es handelt sich dabei um die Rekonstruktion der Falle, die in den 1960er-Jahren von Jacques F. Aubert, einem Genfer Insektenforscher, erfunden wurde. «Aubert hat damals – am selben Standort wie wir – etwa zwölf Jahre lang ein Insektenmonitoring betrieben», erklärt Menz. «Dank seiner Arbeit steht uns ein weltweit höchst seltener historischer Datensatz zur Verfügung.» Um diesen nutzen zu können, musste ein Mitglied von Menz’ Team allerdings ein spezielles Computerprogramm schreiben, denn ein grosser Teil von Auberts Daten wurde noch als Lochkarten gespeichert.
Vergleicht man die Anzahl der von Menz und Aubert gefangenen Insekten, zeigt sich, dass heutzutage deutlich weniger Schwebfliegen in die Falle gehen. Menz: «Das ist vermutlich auf die Intensivierung der Landwirtschaft seit den 1960er-Jahren zurückzuführen.» Aktuellere Datenreihen, die er selbst oder andere Schwebfliegenforscher in den letzten Jahren vor allem in Grossbritannien erhoben haben, deuten glücklicherweise darauf hin, dass zumindest in einigen Gebieten die Population derzeit nicht weiter zurückgeht.
Wie Nadeln im Heuhaufen
Doch wie lässt sich eigentlich der Beweis erbringen, dass die kleinen Insekten tatsächlich in eine Richtung ziehen und nicht einfach wild herumschwirren? Myles Menz sagt, dass es verschiedene Methoden gebe, um dies zu belegen. So stellt er mit seinem Team jeweils auch Fallen auf, die sowohl in Richtung Süden wie auch in Richtung Norden über eine Fangvorrichtung verfügen. Dabei zeigt sich, dass im Herbst Richtung Süden rund zehnmal so viele Insekten in die Falle gehen wie Richtung Norden. Man wisse, dass die Insekten im Frühling auch wieder in den Norden zurückkehrten, fügt Menz an, doch weil im Frühling in den Bergen noch viel Schnee liege, sei die Erforschung dieses Phänomens viel schwieriger. «Jacques Aubert hat damals gemeinsam mit seinen Assistenten in mühseligster Kleinarbeit Zigtausend Schwebfliegen mit Farbe markiert und versucht, sie in südlicheren Lagen wieder einzufangen», erzählt Menz. Damit habe der Wissenschaftler wichtige erste Erkenntnisse über das Migrationsverhalten dieser Insekten gewonnen. Auch er selbst arbeite ab und an mit dieser Technik, doch der Aufwand für solche Untersuchungen sei enorm. «Den Fang eines markierten Insekts feiern wir jeweils wie einen Lottogewinn!»
Heutzutage kommen vielfach auch spezielle Radargeräte zum Einsatz, um die Zugrouten der Schwebfliegen zu verfolgen. Mithilfe dieser Technik konnte Menz gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam den Nachweis erbringen, dass bis zu vier Milliarden Schwebfliegen saisonal zwischen Grossbritannien und dem europäischen Kontinent hin- und herpendeln. Laut Hochrechnungen des Forschungsteams transportieren die Tiere dabei Milliarden von Pollenkörnern. «Es wird noch eine Weile dauern, bis wir auch für die Schweiz entsprechende Zahlen präsentieren können», sagt Menz. Er hofft, dass es Ende 2021 so weit ist.