Menschen in den Bergen1: Meme Karma Thondup, Karawanenführer
«Mach, was du kannst, dort, wo du bist, mit dem, was du hast.» Dies könnte der Leitspruch von Même Karma Thondup sein. Der Karawanenführer lebt in einer unwirtlichen, sehr hoch gelegenen Bergwüste im äussersten Norden Indiens. Seine Leidenschaft sind die Pferde. Sie ermöglichen ihm und den Seinen, ein zwar hartes, aber letztlich doch befriedigendes Leben zu führen.
Auf seinen verwegenen Reisen pflegte Sven Hedin den Karawanenführer immer äusserst sorgfältig auszulesen. Erfand seinen Karawanbashi meist in Leh, dem Hauptort des wüstenhaften Ladakh, am Kreuzweg grosser zentralasiatischer Handelswege. Was dem grossen schwedischen Forscher vor hundert Jahren recht war, kann uns für unsere heutigen Trekkingtouren eigentlich nur billig sein. Auf unserer Karawanbashi-Suche in den staubigen, aber belebten und heimeligen Winkeln des Basars von Leh stossen wir bald einmal auf den Namen Même, was auf tibetisch einfach «Grossvater» bedeutet.
«Même? Er hat Erfahrung wie kein anderer !» sagt uns ein Bekannter. « Er kennt jeden Weg, nein, jeden Stein auf jedem Weg, und er ist schlau wie ein Fuchs », weiss eine weitere Auskunftsperson zu berichten. Nicht wenig erstaunt sind wir dann, als ein altes, hageres, graues, zahnloses Männlein vor uns auftaucht. Seine Schritte sind kurz, er spricht kein Wort zuviel. Er schaut uns durch seine schmalen, aber sehr klaren Augen, die er wegen der Sonne und des Staubs halb geschlossen hält, an. Während wir miteinander verhandeln, sitzt er mit gekreuzten Beinen am Boden, zieht unvermittelt eine Schnupfbüchse aus der Brustfalte seines tibetischen Mantels hervor, bü-schelt den Tabak auf seinem Daumennagel, den er zum Schutz gegen den Wind mit seinem Zeigefinger umklammert, und zieht nach einer geruhsamen Weile eine kräftige Prise durch seine schmale Nase.
Même Karma Thondup wurde 1924 in Rudok (Westtibet) geboren. Er erlernte bei seinem Vater und seinem Onkel das harte Handwerk eines Karawanenführers. Er kann gleichermassen mit verschiedensten Tragtieren umgehen: Pferden, Eseln, Maultieren, Yaks, Hybriden zwischen Yak und Rind (dzo), Schafen und Ziegen -ja richtig, Schafen und Ziegen. Diesen werden nämlich im Himalaya kleine Säcke umgebunden, in denen sie Salz oder Mehl transportieren. In seiner Jugend gelangte Même so nach Lhasa, wo er den Potala besuchte, nach Shigatse, wo er den Panchen Lama sah, nach Gyantse, wo damals ein britischer Handelsagent residierte - und auch nach Leh, das viel später seine unfreiwillige Heimat werden sollte. Aber das wusste er damals noch nicht. Sicher wäre Même mit der Zeit ein grosser dzongpön (Führer einer grossen Handelskarawane) geworden, aber dann zwangen ihn die dramatischen politischen Veränderungen in Tibet zur plötzlichen Flucht.
Même traf am 25. Mai 1961 in Remchok (Ladakh) ein, «on foot», wie es in seinem Flüchtlingspass heisst. Seine Frau Abi und seine Kinder brachte er so nach Indien in Sicherheit. Ihnen wurde das Flüchtlingslager Agling zugewiesen, und dort leben sie heute noch. Seine älteste Tochter heiratete bald darauf. Der erste Enkel, Tsewang Gyalzen, kam bereits 1962 auf die Welt. Er ist heute sein bester Freund und Partner. In Ladakh traf Même zwar auf eine Landschaft, die klimatisch und kulturell seiner Heimat sehr ähnlich ist, aber die Einheimischen sind gegenüber den Neuankömmlingen misstrauisch, was das Leben miteinander nicht einfach macht. Auch ist es Même nicht gelungen, aus dem Ghetto des Flüchtlingslagers auszubrechen.
Ein Karawanenführer muss gleichermassen gut mit Mensch und Tier umgehen können. Das Handwerk ist hart, aber die Freiheit gross. Frühmorgens geht Même vom Nachtlager hinüber zu den Pferden, begutachtet sie und nimmt dann mit seinen Helfern das Frühstück ein, meist tsampa ( geröstetes Gerstenmehl ) oder Brotfladen und gesalzenen Buttertee. Das Lager wird abgebrochen, die Lasten den Pferden aufgebunden - der Ablauf ist klar geregelt. Um die Vierbeiner zu beruhigen, rezitiert Même gerne seine Gebetsformel, oder er singt. Même geht voraus, führt das Leitpferd an der Leine, die anderen Pferde und Helfer folgen. Meist wird die Tagesetappe durch die menschenfeindlichen Steppen landschaf-ten ohne Pausen bewältigt, ausser man trifft unterwegs auf eine sehr gute Weide oder hält an, um die Tiere zu tränken. Die Pferde werden in der Regel mit Pfiffen und johlenden oder auch monotonen Gesängen angetrieben. Am Tagesziel werden die Schützlinge sofort entladen, die Tragsättel und Decken säuberlich für den nächsten Tag sortiert, dann stellen Même und die Seinen ihr Zelt auf. Später werden die Pferde angebunden und mit Gerstenkörnern gefüttert. Nach dem Essen senkt sich eine sternenklare Nacht über alles, und eine unerbittliche Kälte krallt sich in den Boden.
Die Zeit der Handelskarawanen ist längst vorbei. Lastwagen und Flugzeug haben Pferde und Yaks verdrängt. Der Trekkingtourismus bietet in Ladakh einen temporären Ersatz für jene, die am alten Handwerk festhalten. Même gehört zu diesen Menschen. Sein Reichtum sind die Pferde, aber er besitzt nur deren vier. « Mehr sind nicht nötig », erklärt er, «viele Pferde kosten zu viel.» Land und Felder für den Anbau von Kartoffeln und Gerste besitzt er nicht. Die Trek-kingsaison in Ladakh ist kurz, nur im Juli und August können Même und Tsewang mit Vollbeschäftigung rechnen. Kommt eine grosse Gruppe, die 20 oder 30 Pferde benötigt, beschäftigt Même seine Freunde aus dem Camp und beansprucht dafür eine Vermittlungsprovision. Das muss reichen, und es reicht. Er und seine Familie können überleben, nicht sehr gut, aber auch nicht schlecht.
Même spricht Tibetisch, Urdu und Ladakhi, Tsewang spricht zudem gut Englisch. Doch alles, was die Fremden mit dem bald 40-jährigen Enkel besprechen, beredet dieser minutiös mit seinem Grossvater. Dies ist nicht etwa ein Zeichen von Unselbststän-digkeit, sondern geschieht im Wissen um Mêmes immense Erfahrung. Manchmal sind die beiden nicht gleicher Meinung. Divergieren die Auffassungen, so hat Même stets das letzte Wort. Trotzdem ist er kein Patriarch, sondern ein Vorbild. Kaum gönnt er sich Ruhe, dauernd sind seine Gedanken bei der Sache und seine Augen bei den Pferden, deren bester Freund er ist. Nachts schläft er auch bei der grössten Kälte draussen, um seine Schützlinge - sein Kapital - zu bewachen. Wölfe hat es viele in Ladakh, ihr Heulen ist Warnung genug. Und das weiss der Fuchs.