Meine Monte-Rosa-Rundtour
VON PAUL SCHMID, HÜNIBACH/tHUN
VON ZERMATT NACH SAAS FEE VOM 15. BIS 20. SEPTEMBER 1957 Mit 8 Bildern ( 260-267 ) Nach nur vier schönen Septembertagen erlebten wir am Allalinhorn in eisigem Sturmwind, aber bei freier Sicht das grossartige Schauspiel eines neuerlichen Wettersturzes. Im Windschatten der Gipfelfelsen verschnaufend, musste ich erkennen, dass in den nächsten Tagen keine Hochtouren mehr zu machen seien, aber die Gelegenheit gekommen sei, den seit unbekannter Zeit in mir schlummernden Wunsch nach einer Reise um den Monte Rosa auszuführen.
Es gibt wahrscheinlich mehr Schweizer, die sich in Hinterpommern auskennen, als solche, die an der Südabdachung unseres höchsten Gebirgsmassivs herumgestiegen sind; Grund genug, einmal dorthin vorzustossen. Mein Führer Theodor, trotz seiner fünfundsechzig Lenze immer bereit, unbekannte Gebiete zu begehen, hatte mir erzählt, dass die Rundtour um den Monte Rosa früher häufig gemacht worden sei. « Früher » bedeutet in diesem Fall: vor jener Epoche, da die Italiener ihr Heil unter der autoritären Herrschaft eines romagnolischen Spiessbürgers zu finden meinten. Dieser, aus den alten Geschichtsschreibern über die ständigen Schwierigkeiten unterrichtet, denen sich die von ihm bewunderten römischen Diktatoren am germanischen Limes gegenübergestellt sahen, riegelte die Grenzen seines Staates bis auf die Strassen- und Bahnübergänge vollständig ab und vergällte damit den Engländern und andern Touristen die Tour um den Monte Rosa.
Diese Beschränkungen sind nun wieder dahingefallen, und wir setzten unsere Abreise von Zermatt auf den Sonntag fest, vormittags 10 Uhr, jene berühmte Stunde, da Theodor seinen kirchlichen Pflichten für eine Woche Genüge getan und das Wetter sich nach der einen oder andern Laune entschieden haben würde. Ich war aber entschlossen, unter allen noch zu verantwortenden Umständen aufzubrechen.
Um von Zermatt nach Breuil zu gelangen, kann der Bergsteiger ausser der Überschreitung des Matterhorns zwischen drei Übergängen wählen: dem Breuiljoch, hart am Fuss dieses Berges, dem Furggjoch etwas weiter südöstlich, und dem altbekannten Gletscherjoch des Theodulpasses.
Theodor hatte mir vorgeschlagen, auf der durch eine Luftseilbahn mit Breuil verbundenen Testa Grigia südlich dieses Passes zu übernachten und über den Passo di Ventina Nord nach dem Val d' Ayas abzusteigen. Ich wollte aber Breuil nicht abseits liegen lassen, und so wurden wir einig, das Furggjoch zu überschreiten und in Breuil über Nacht zu bleiben.
Sonntag, 15. September. Über das Furggjoch, 3273 m, nach Breuil, 2000 m Nach einem trüben und regnerischen Samstag lag am Bettagmorgen eine dünne Schicht flaumigen Schnees auf den Dächern von Zermatt, die jedoch verschwunden war, als wir mit der neuen Schwebebahn zum Schwarzsee hinauffuhren. Um das Matterhorn tobte der Nordwestwind, ohne aber die in der zunehmenden Kälte immer dichter werdenden Wolken zerreissen zu können. Unter der langen Felswand des Hörnli zogen wir im Windschatten durch die leicht verschneite Moränenlandschaft und über den zum Teil sonnebeschienenen Furgg-Gletscher den abweisenden Felsen des Furgg-Grates entgegen. Das Weglein durch die steile Wand hinauf schien mir in schlechterem Zustand zu sein als vor sieben Jahren, da ich mit Max Jungi vom Theodulpass her über Theodulhorn, Furgghorn und Joderhorn den Grat beging und wir hier hinunterstiegen. Vielleicht habe ich mich getäuscht, des Schnees wegen, der jetzt auf den Bändern lag, vielleicht fehlt es aber doch am Unterhalt, weil die Matter ihren Reis nicht mehr in Breuil holen müssen.
Im Höhersteigen fiel der Nebel wie ein Schleier über uns nieder, und von den obersten Felsen tappten wir blindlings nach rechts in die flache Firnmulde des Furggjochs hinein, wo uns der Sturm mit voller Wucht fasste und fast im Laufschritt über die tiefste Stelle der Senke trieb.
Jenseits hat der stark zurückgegangene Ghiacciaio della Forca einen wüsten Trümmerhang blossgelegt, über den wir weglos ungefähr in der Fallirne abstiegen. Der Wind war hier weniger fühlbar und die Sonne Italiens drang ab und zu durch die treibenden Wolken. Nach einer kleinen Stunde richteten wir unseren Abstieg gegen ein graues Dach, das sich nur durch die geraden Linien seines Umrisses von den mannigfach gebrochenen grauen Felsblöcken abhob. Es gehört zu einer neueren Hütte, die an der nahegelegenen Seilscheibe eines Skiliftes unschwer als Winterwirtschaft zu erkennen war. Wir fanden sie verschlossen, aber der winkelförmige Grundriss des Bauwerks umschloss einen Vorplatz, der uns willkommenen Schutz vor dem Sturm gewährte.
Dieser wirbelte an der Kette der Grandes Murailles, die mit den zackigen Gipfeln der Jumeaux und des Château des Dames das oberste Val Tournanche westlich begrenzt, gewaltige Schneefahnen auf. Im Süden, über den Bergen jenseits des Aostatales, war der Himmel heiter. In bestem Vertrauen auf das Wetter der nächsten Tage stiegen wir auf dem Kamm der steilen, schwach begrasten Seitenmoräne, die hier ihren Anfang nimmt, in die ausgedehnten Weidegründe von Breuil hinunter.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Natur mit dieser weiträumigen, zwischen Waldgrenze und Schneegrenze in das Hochgebirge eingetieften Mulde einen der prächtigsten Talabschlüsse geschaffen hat. Zu vorübergehendem oder dauerndem Aufenthalt hat der Mensch die nötigen Einrichtungen erstellt. Am Ende einer 24 Schritte breiten Asphaltstrasse breiten sich Bauten mit und ohne Stil in willkürlichem Durcheinander aus, von der neuen Kirche in romanischer Manier bis zum achtstöckigen Rundbau des Hotels Gran Baita. Wir stiegen im bescheideneren Albergo Marmore neben der Brücke über den gleichnamigen Bach ab, wo Theodor erstmals mit der Télévision Bekanntschaft machte. Zuerst zeigte er sich etwas beeindruckt von den lebhaften Bildern, die den Sportbericht begleiteten, aber als wir zum Nachtessen gingen, erklärte er, das Fernsehen sei eine ermüdende Sache.
Als richtiger Matter ist er aber technischen Neuerungen durchaus nicht abhold, und so hatte er als Fortsetzung unserer Tour vorgeschlagen, mit der Schwebebahn auf die Testa Grigia zu fahren und die Gletschertour über den Passo di Ventina Nord zu machen, was ich angenommen hatte.
Montag, 16. September. Über den Col des Cimes Blanches, 2982 m, nach St-Jacques d' Ayas, 1689 m Nach Fahrplan hätte der erste Kurs um 8.30 Uhr fahren sollen. Wir waren eine Viertelstunde früher auf der Station, wo die Personenkabine durch eine offene Materialbühne ersetzt war, die mit einiger Verspätung auf die Reise geschickt wurde.Von der Umsteigestation Plan Maison kam die Gegenkabine mit dem Kondukteur herabgeschwebt, der die Meldung brachte, dass das obere Teilstück von Plan Maison nach dem Plateau Rosa, wie die Endstation auf der Testa Grigia heisst, unmöglich in Betrieb genommen werden könne, da der Wind zu stark sei. Einige elegant gekleidete Autotouristen zogen sich enttäuscht zurück. Wir hätten uns über die Normalroute des Col supérieur des Cimes Blanches, den wir nun wohl oder übel auf unser Programm nehmen mussten, aus dem Staube machen können. Am Wegweiser hatte ich als Marschzeit zwei Stunden abgelesen. Das mag für junge Springinsfelde ohne Gepäck berechnet sein, und wir hätten ja ruhig drei oder noch mehr Stunden für diesen Aufstieg verwenden können. Aber Theodor würde es fast als Sünde empfunden haben, eine Bahn nicht zu benützen, welche alle Führer gratis fahren lässt, und mich interessierte es, den Betrieb anzusehen. Also liess ich mir 400 Lire zurückzahlen, und nach geduldigem Warten fuhren wir in Gesellschaft eines Grenzwächters und eines Arbeiters mit nahezu einstündiger Verspätung endlich ab.
Bei der Ankunft auf Plan Maison musste der Kondukteur mit Hilfe des Stationspersonals zuerst die seitliche Pendelbewegung unserer sturmgeschaukelten Kabine abbremsen, damit wir überhaupt zwischen die Treppen einfahren konnten.
Abgesehen von dichten Wolken, die den obern Teil des Matterhorns und die Berge im Westen hartnäckig verhüllten, konnte das Wetter als sehr gut angesehen werden. Pullover und Windjacke boten genügend Schutz gegen den kalten Rückenwind, und ohne Aufenthalt stiegen wir über magere Weiden in der Richtung an, wo wir den Col des Cimes Blanches vermuteten, der nun im Südosten lag.
Nach einer Stunde wurde die Weidelandschaft durch ausgedehnte hügelige Schuttfelder abgelöst. In diesem weglosen Gebiet stiessen wir etwa auf der Höhe der Zwischenstation Cimes Blanches unweit eines kleinen Seeleins ganz unerwartet auf eine Tafel, deren lapidare Aufschrift:
Pericolo Bombe inesplose besser als jeder Wegweiser bestätigte, dass wir uns auf der richtigen Route befänden. Drei Grenzwächter, die ausser Sprechweite an uns vorbeizogen, zeigten kein Interesse an unserer Erscheinung. Einzig ein grosser schwarzer Hund kam uns beschnuppern, wurde aber alsbald zurückgepfiffen.
Etwas später tauchte der Horizont mit dem breiten Sattel unseres Passes aus den Steinhügeln empor, und bald darauf stiessen wir auf das vom Lac Goillet und von Breuil heraufführende Weglein.
Der Ausblick von der Passhöhe war überraschend. Da mir eine genaue Karte fehlte, hatte ich erwartet, der Weg würde sofort zu fallen beginnen. Statt dessen breitete sich eine Hochebene vor uns aus, umrahmt von einigen Felsgipfeln mit kühnem Aufbau, vermutlich Kalk, eben die Cimes Blanches.
Die Wasserscheide war nicht so ohne weiteres auszumachen, und wir begriffen im hellen Sonnenschein das Abenteuer eines Kollegen von Theodor ganz gut. Dieser wollte mit einem Amerikaner den Pass überschreiten, wo sie eingenebelt wurden. Mit einigen Schwierigkeiten gelangten die beiden ins Tal und erreichten glücklich ein grosses Dorf. Als sie sich nach dem Namen erkundigten, mussten sie erfahren, dass es - Valtournanche sei.
Für uns stellte sich kein Problem, wir folgten der schwachen Wegspur gerade über die kahle Ebene bis an den Rand eines tiefen Felskessels, in dessen Grund ein schöner blauer See liegt, der Gran Lago. Das schmale Passweglein, das von Zeit zu Zeit durch eine mit dem Pinsel schwungvoll auf die Steine hingeschmissene gelbe Drei markiert ist, führte uns an den Ausgang des fast zweihundert Meter tiefen Kessels, wo wir, etwas weniger dem Wind ausgesetzt, Rast hielten. Etwa hier wären wir aus dem jenseitigen Felshang herausgekommen, wenn wir den Ventinapass überschritten hätten.
Dem Gran Lago entströmt ein ansehnlicher Bach, der Cortot, und fliesst südostwärts durch ein schönes Hochtal mit den Alpen Masé und Vuarda ab. Auf der Alp Ventina, die von dem matterhornähnlichen Grand Tournalin beherrscht wird, von dem Theodor meinte, er böte eine schöne Trainingstour, beginnt der Weg stärker zu fallen, und bald nahm uns ein lichter Lärchenwald auf.
Durch die schwingenden und schaukelnden Äste leuchtete ein weisses Gebäude, das Hotel Bellavista im Alpgebiet von Fiéry. Die Aussicht auf den waldbestandenen Taleinschnitt des Val d' Ayas mit einem braunen Berg im Hintergrund ist zwar eher bescheidener Art, aber die Ruhe der ganzen Landschaft mag einem Großstadtmenschen paradiesisch vorkommen. In den offenen Fenstern des Hotels hingen die Wolldecken an der Sonne, aber kein Mensch war zu bemerken. In der Tiefe, halb zwischen Lärchen versteckt, lag ein kleines Dörfchen, das musste St-Jacques sein. Ungesäumt stiegen wir über den holprigen Pfad ab, da eine fahrbare Strasse nicht zu finden war.
Das erste Gebäude links am Weg oberhalb des Dorfes ist ein samtbrauner Speicher mit den charakteristischen Granitplatten zwischen Fundamentstützen und Balkenlage, ein prächtiges Denkmal der Walser, die einst auch hier kolonisiert haben. Rechter Hand folgt ein steinernes Bethäuschen mit der Madonna und dem Gekreuzigten. Im Giebel eingemauert findet sich eine Holzleiste, braungebeizt von Sonne und Regen und die Farbe der sauber eingekerbten Inschrift bis auf geringe Reste ausgewittert:
SI DANS TON CŒUR MON NOM EST GRAVÉ SOUVIENS-TOI PASSANT DE DIRE UN AVÉ.
Theodor hält einen des Weges kommenden Einheimischen an, der versteht jedoch kein Deutsch. Aber auch Französisch kann der junge Mann nicht. Auf meine Frage nach einer auberge schüttelt er verständnislos den Kopf. Als albergo hingegen empfiehlt er mir ein kleines Haus, auf dessen bekiestem Vorplatz die Gartenstühle entweder vom Wind oder von drei grossen Gänsen umgeworfen worden sind. « Bar Ristorante Fior di Roccia » ist sein poetischer Name, und die Wirtin versteht und spricht noch so gut Französisch, dass eine Unterhaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist. Von ihrer hübschen Tochter Claudina kann man das leider nicht behaupten, bei ihr fährt man besser mit Italienisch.
Theodor erklärte mir nun, warum er so sehr darauf bedacht war, eine Unterkunft zu finden. Sein Kollege Perren, der den Wirtschaftsbetrieb auf der Testa Grigia gepachtet hat und als eine Art Spezialist für italienische Fragen gilt, habe ihm eine Wette von hundert Franken angeboten, wir würden in Fiéry keine Unterkunft mehr finden und müssten bis Champoluc hinuntergehen. Gegen seine Gewohnheit bleibt Theodor nicht beim Glase sitzen, sondern begleitet mich ins Dorf, um sich über den « Einstieg » für morgen zu vergewissern.
Das Dorf St-Jacques d' Ayas, obschon nur klein, weist fast alle Bauformen auf vom Walser Speicher bis zum ausgedienten, auf Sockel gestellten Schmalspurbahnwagen. Die Kirche ist klein, aber prächtig ausgestattet und erregt die Bewunderung Theodors. Ebenfalls seinen Beifall finden die beiden grossen Orientierungstafeln, auf denen die von St-Jacques ausgehenden Wege mit Angabe von Höhen und Marschzeiten der Tourenziele vermerkt sind. Jede Route ist mit einer Zahl bezeichnet, die auch als Markierungszeichen dient. So sind keine Verwechslungen möglich und wir haben morgen nur auf die Zahl « 5 » achtzugeben.
Es fehlt in der Umgebung von St-Jacques nicht an Felswänden, überhängenden und zurückfliehenden, und das Dorfbild wird im Norden beherrscht von den mächtigen Flühen der Rocca di Verra. Jedoch hat die Natur unterlassen, auch am Dorfplatz eine solche hinzuzupflanzen, so dass die Bewohner selber ein derartiges Gebilde aus Zement errichten mussten, um in einer eingetieften Balm oder Grotte eine Stätte der Marienverehrung schaffen zu können. Es ist eine der scheusslich-sten Imitationen, die man sich denken kann; diese Aufgabe hätte sich durch den Bau einer Apsis ehrlicher und schöner lösen lassen.
Wir kehrten dem Ding den Rücken und setzten uns davor auf eine Bank, um noch eine kurze Weile der Sonne zu geniessen, ehe sie hinter den Bergen verschwand. Im grossen Kinderheim Olivetti gegenüber führten die Lehrerinnen in voller Kriegsbemalung und engen, langen Hosen ihre ähnlich gekleideten Zöglinge spazieren. Eine nach alter Mode gekleidete Einheimische ohne Bemalung, aber in Holzschuhen, ähnlich denen der Holländer, kreuzte zweimal den Platz, wobei sie den Kopf nach uns drehte und mit der Hand zur Stirne fuhr.
« Was hat sie? », frug Theodor.
Über diese Frage erstaunte ich nun doch ein wenig, obschon ich weiss, dass die Matter sich schon lang nicht mehr vor fremden Ketzern bekreuzen; sie knöpfen ihnen zu gern das Geld ab. Ich deutete mit dem Daumen nach hinten und der alte Walliser begriff.
Auch andere Bewohner klapperten in Holzschuhen herum, und die Wirtin belehrte uns, dass diese im Winter von den Männern aus Lärchenholz geschnitzt würden.
Dienstag, 17. September. Über die Bettfurgge, 2672 m, nach Gressoney-la-Trinité, 1624 m Ein leichter Reif lag auf den Wiesen von St-Jacques, als wir auf steilem Waldweg unsere Wanderung begannen. Der Wind hatte sich gelegt, ausser einer leichten Wolkendecke fern im Südwesten war der Himmel klar. Über dem Wald begegnete uns ein Senn mit vielen Goldplomben im Mund, der Französisch sprach und in den landesüblichen Holzfinken ein Maultier zu Tal trieb.
Einige zerfallende Walser Stadel bilden mit dem durch eine vorgebaute Glasveranda verschönerten Rifugio Carrara das Sommerdörfchen Résy, den alten « Canton des Allemands ». Vor dem Rifugio hängt eine Glocke an einer viereckigen Säule, deren Seiten mit roter Farbe beschrieben sind:
Signore! Benedici chi entra in questa casa Proteggi che esce; dai pace a chi resta.
An der Ostwand des Hauses ist ein kleiner Wasserhahn, der leicht übersehen werden könnte. Die gleiche Hand, von der diese Anrufung des Herrn stammt, sah sich dadurch veranlasst, ein schönes Beispiel christlicher Nächstenliebe zu geben, indem sie die Aufmerksamkeit des durstigen Wanderers, ohne Ansehen der Nation, durch ein gross neben den Hahn gemaltes H2O auf diesen zu lenken bestrebt war.
Durch ein massig ansteigendes Hochtal erreichten wir in guten drei Stunden die Bettaforca, wo der Weg nach der Capanna Quintino Sella abzweigt. Diesen Hüttenpfad etwas ansteigend, suchten wir uns, bei einem Seelein rechts abschwenkend, einen runden Felskopf mit freiem Umblick zum Sitz mittäglicher Rast aus. Gewaltig erhebt sich im Nordosten der Monte Rosa, von dem sich ein gipfelreicher Gebirgszug, die Täler des Lys und der Sesia scheidend, weit in den Süden hinunter erstreckt und sich zwischen ähnlichen Ketten im Dunst des Mittags verliert. Vom Bettlinerhorn nördlich der Bettfurgge läuft ein flacher Gratrücken nach Osten aus, dessen Besteigung mir eine Reihe ähnlicher, stufenförmig immer höher steigender Bänke offenbarte, die sich gegen den eisigen Gipfel des Kastors erstreckten.
Durch eine weite Mulde ausgedehnter, schon herbstlich verfärbter Alpweiden - ein Paradies für Walser - führt der Weg von der Bettaforca östlich in die Tiefe. Auf einer breiten, weit gegen das Haupttal vorstossenden Kuppe steht eine kleine Kapelle. Die Häusergruppe etwas unterhalb erwies sich als bewohnt, und Theodor, der behauptet hatte, in Gressoney, Alagna und Macugnaga spräche man so gut Deutsch als in Zermatt, redet einige in der Sonne faulenzende Kinder an. Es erfolgt keine Antwort, und erst auf die knappe Frage: « TedescoItaliano? » bekennen sie sich eindeutig als « Italiano ».
Etwas ausserhalb der Häuser macht sich eine alte Frau zu schaffen, und Theodor versucht sein Glück bei ihr. Aber sie versteht weder Walliser- noch Schriftdeutsch und Theodor greift zum letzten Mittel, das ihm bleibt. Ich traue meinen Ohren nicht, als er der Frau die Frage hinüberschleudert: « Hâve y ou milkmilk? » Aber Grossmutter wackelt mit dem Kopf, verwirft die Arme und zieht sich fluchtartig zwischen die Ställe zurück.
Wir mögen nun beide nicht gerade in Stimmung sein, das Richtige zu tun, nämlich zu der kleinen Kapelle Sant'Anna hinaufzusteigen und Rast zu halten. Weder ein Hotel noch eine Bahnstation lassen den ahnungslosen Wanderer vermuten, dass er sich an einem der grossartigsten Punkte der Alpen befindet. Der Höhenzug, der, vom Bettlinerhorn ostwärts streichend, uns bis jetzt die Aussicht nach Norden verdeckt hatte, fällt hier plötzlich zur Tiefe ab und gibt den Blick frei auf die ganze Südflanke des Monte-Rosa-Massivs vom Kastor bis zur Vincentpyramide. Das Mittelstück bildet der langgezogene Lyskamm, von dem der westliche und östliche Lysgletscher als zwei mächtige Katarakte von Eis in den hintersten Teil des Tales von Gressoney abfallen. Die Grosse des Anblicks wird verstärkt durch die Überlegung, dass diese Gletscher nach Süden gerichtet, also bei schönem Wetter der ungebrochenen Kraft der Sonne ausgesetzt sind. Trotzdem jedenfalls auch sie dem allgemeinen Schwund des Eises unterworfen bleiben, zeigen ihre Zungen nicht das rudimentäre Aussehen so vieler anderer Gletscher.
Theodor, der selber Schafzüchter ist, hatte eine grosse Herde dieser Tiere entdeckt, deren Vliesse im Gegenlicht silbrig schimmerten, und war schon vor einer Weile das steile Weglein hinabgeeilt. Ich folgte gemächlich nach, wahrscheinlich wäre links ein besserer Pfad gewesen. Meist im Schatten in die rechte Seite des Haupttales absteigend, gelangten wir rasch tiefer. Auf einer kleinen Holzbrücke überschritten wir den Lysbach, nach einer Viertelstunde traten die Hänge des Bachtobeis zurück, und vor uns breitete sich der ebene Talgrund von Gressoney-la-Trinité aus. Hier schien der Talfluss übel gehaust zu haben, und ein Trupp Arbeiter war mit dem Bau einer soliden Quader-mauer beschäftigt.
Die Kirche mit den wenigen Häusern des alten Dorfes steht weiter vorn dicht am Fuss des westlichen Talhanges. Obschon es erst ein Viertel nach drei war, lag die Siedlung schon im Schatten.
Nach dem Quartierbezug im Albergo Castore durchstreifte ich nach meiner Gewohnheit die nächste Umgebung, während Theodor in der Hotelveranda bei einem Quarto Roten oder zwei zurückblieb.
Die Sehenswürdigkeit von Gressoney-la-Trinité ist der Friedhof mit den schönen deutschen Grabschriften aus dem vorigen Jahrhundert - heute sind sie italienisch - mit der Familiengruft der « Famiglia Delapierre alias Zumstein ditta Danialsch » und den Mausoleen der « Famiglia Busca » und « Famiglia Fritz Thedy », die auf einen ansehnlichen Wohlstand schliessen lassen.
Theodor hatte unterdessen ein bekanntes Gesicht gefunden, einen ehemaligen Hüttenwart der in 4556 m Höhe gelegenen Capanna Margherita auf der Signalkuppe oder Punta Gnifetti. Da auf ärztliche Empfehlung keiner länger als acht Tage in dieser Höhe ausharren soll, teilen sich jeweilen mindestens drei in dieses Amt mit abwechslungsweise einer Woche Ruhezeit und einer Woche Trägerdienst. Abends lernte ich den Guardiano auch kennen. Dieser, ein junger, flotter Mann, spricht fliessend einen dem Walliserdeutsch ähnlichen Dialekt. Dass er einige schriftdeutsche Ausdrücke einflocht, mochte dem Bestreben entspringen, sich möglichst verständlich zu machen.
Er brauchte aber z.B. noch das Wort Ustag für Frühling, das als Ustig der alten Berner heute im Bernbiet ausgestorben zu sein scheint. Eine Geldsumme gab er zahlenmässig in « Chrone » an, korrigierte sich aber sofort und sagte « Lire ». Er bedauert, dass die deutsche Sprache in Gressoney in Abgang komme, in der Schule werde nur noch Italienisch und Französisch gelehrt...
Über die Sennen von Sant'Anna befragt, erklärt er, diese Leute kämen weit aus dem Süden herauf. Von den Einheimischen wähle keiner mehr den Beruf des Alpers.
« Me verdienet z'wenig derby. » Wer will es den Gressoneyern verargen, dass sie sich von uneinträglichen Berufen abwenden, sie, die Nachkommen jener Leute, die durch ihre ausgedehnten Handelsreisen ihrer Heimat den Namen « Krämertal », « Valée des marchands » zugezogen haben?
So fahren denn im Frühling fremde Hirten mit den Herden zu Berg, um von den zerfallenden Ställen der Walser aus die grünen Triften zu bestossen; Leute, deren Hoffnung noch nicht nach grossem Gewinn, sondern nach einem nicht durch Unglück in Frage gestellten Fristen des nackten Daseins geht. Ein bescheidener Verdienst wird in diesem Fall nicht ausbleiben, um eine Nachkommenschaft durchzubringen, die, geschunden durch ein dürftiges Leben in einer rauhen Natur, eine Erziehung erhält, wie sie keinem Reichen zuteil wird, und die sie zu jedem Aufstieg fähig macht.
Mittwoch, 18. September. Über den Col d' Olen, 2881 m, nach Alagna Die französischen Namen der beiden Dörfer von Gressoney werden auf Walserdeutsch umschrieben durch die Bezeichnungen Platz für Gressoney-St-Jean und Oberteil für Gressoney-la-Trinité, wo am Municipio dieses Wort in einer einfachen Fraktur aufgemalt ist. An solchen Ortsbezeichnungen fanden wir an dem gepflasterten Saumweg nach Col d' Olen: « Underem woald » eine durch prächtigen Lärchenwald gegen Lawinen geschützte Häusergruppe, Ejo, Orsia und Tscobeshus, ein als Capanna Morgenrot das ganze Jahr geöffnetes Skiheim der Sektion Gressoney des CAI.
Nach etwas mehr als zwei Stunden gemächlichen Aufstiegs liessen wir uns am Ufer des schönen, gestauten Sees von Gabiet zu einer kurzen Rast nieder, die wir im nahegelegenen Rifugio etwas zu verlängern gedachten. Das Haus war unverschlossen, aber kein Mensch kam auf unser Lärmen herbei. Eine Frau, die schliesslich von aussen her gerannt kam, sagte uns, der Wirt sei gerade abwesend, aber im Rifugio del Lys der Sektion Gallarate sei der Wirt anwesend und wir würden nach Wunsch zu trinken bekommen. Dieses Haus steht etwa einen Büchsenschuss weiter unten, und da man nach Bergsteigerbrauch von der einmal gewonnenen Höhe ohne Not keinen Meter preisgibt, setzten wir unsern Aufstieg fort mit der leisen Hoffnung, auf dem Col d' Olen das Gewünschte zu finden.
Wie uns in Gressoney gesagt worden war, stehen dort oben zwei Gasthäuser; etwas viel für einen solchen Pass, der von beiden Seiten nur in ziemlich anstrengender Wanderung erreicht werden kann. Das eine Hotel war denn auch seit Jahren geschlossen und das andere von der Sektion Vigevano des CAI übernommen und als Rifugio eingerichtet worden, eine Lösung, die in Italien häufig angewendet zu werden scheint. So kommen die zahlreichen Sektionen des CAI zu billigen Bergheimen, und der Gasthausbesitzer kann noch ein Gewisses aus dem Schiffbruch retten.
Auf der scharfen Schneide des Passes, der Grenze zwischen der autonomen Region von Aosta und der Provinz Vercelli, hielten wir einen Augenblick an. Der übliche Blick zurück blieb verweilend auf einer glatten Steinplatte ruhen, wo die Farbe der Wegmarkierung noch ausgereicht hatte für drei sauber in Rot hingeschriebene Worte: « Wellchömme in Gressoney. » Sonst nichts, keine Übersetzung ins Italienische. Wie viele, oder besser gefragt, wie wenige Menschen mögen hier von Osten heraufsteigen, die diese Schrift verstehen? Einige alte Alagner vielleicht; aus der Fremde heimkehrende Grescheneier?
Und doch muss dieser Gruss in der stillen Hoffnung gemalt worden sein, dass auch andere Leute daherkämen, die sich von ihm angesprochen fühlten, und das können nur wir Deutschschweizer sein.
Ich möchte unser Verhältnis zu den Auslandwalsern mit den Beziehungen vergleichen, wie sie zwischen reichen Familien und ihren armen Verwandten bestehen. Der Reiche, auch ohne sich seiner Vettern zu schämen, lässt den Verkehr mit ihnen einschlafen und der bescheidene Arme will jenen nicht in seiner Ruhe stören. Ein solcher Zustand wird verschärft durch grosse örtliche Entfernungen, und diese sind, nicht der Luftlinie nach, aber verkehrstechnisch, zwischen unserem Land und Gressoney ganz beträchtlich. Trotzdem stünde es uns Schweizern wohl an, statt immer nur in die Allerweltsbadeorte Italiens zu fahren, auch die Täler am Südfuss des Monte Rosa zu besuchen, die für einen schnittigen Wagen nicht schwerer zu erreichen sind als die Meerküste.
Aus dem engen Einschnitt des Col d' Olen läuft das Weglein ostwärts waagrecht an einem Steilhang hin zum verwahrlosten Albergo gleichen Namens. Hier hielt ein Maurer Mittagspause und war erfreut, durch uns Gesellschaft zu erhalten. Sein Kollege suche Génépi und sonst sei niemand da. Der Hüttenwart des Rifugio Vigevano, das wir nun einige Schritte weiter östlich erblickten, sei vor einigen Tagen zu Tal gezogen. Sie beide hätten Auftrag, das Hotel Col d' Olen instandzustellen, denn nächstes Jahr werde mit dem Bau einer Funivia von Alagna herauf begonnen und dann ständen wieder glänzende Zeiten bevor...
Theodor, der gestern Abend sozusagen die Nase gerümpft hatte, als ich mich nebst dem guten italienischen Wein an perlendem Mineralwasser erlabte, fragt den Maurer nach etwas Trinkbarem. Dieser versteht Deutsch, ist ein erfahrener Mann, hat unter anderem in Spiez und Interlaken gearbeitet und im Krieg Erfrierungen an den Füssen davongetragen, so dass er in den Socken herumläuft, da ihm die Schuhe vom langen Aufstieg Schmerzen verursachen. Er holt im Haus eine Literflasche voll gewöhnlichen Wassers, welche Theodor während unserer anderthalbstündigen Rast bis auf den letzten Tropfen leert.
Nachdem wir unsern Lunch verzehrt hatten, machte ich einen Abstecher zu dem 10 Minuten nördlich gelegenen wissenschaftlichen Institut Angelo Mosso. An einem kleinen Seelein in einer vegetationslosen Mulde grober und gröbster Steine stehen Kapelle, Hauptgebäude und Wärterhaus, dazwischen ein hohes Schneemesspegel und die Antennenanlage. Aus dem Wärterhaus drang motorisches Summen und auf dem Dache kreiste munter das Anemometer. Ich umkreiste photographierend die ganze Anlage und kehrte zum Olenpass zurück.
Von der Terrasse des Rifugio Vigevano überblickt man wie von einem Balkon aus die zahllosen, zum Teil kühn geformten Gipfel im Stromgebiet der Sesia und ihrer Nebenbäche. Im Norden verdeckt der nahe Monte Rosa mit Vincentpyramide, Punta Giordani, Parrotspitz und Signalkuppe den blauen Himmel; im Osten glaubt man im Dunst unendlicher Ferne einige weisse Flecke zu erkennen, von denen ich nicht zu sagen wüsste, ob es Schnee der Bergamasker Alpen oder Wolken gewesen seien.
Die Septembersonne warf schon Schatten an den steilen Hängen. Wir nahmen Abschied von den Maurern, die ihre Arbeit an den schadhaften Stützmäuerchen und Treppen längst wieder aufgenommen hatten, und brachen auf, neuen Tiefen zu. Denn der Abstieg nach Alagna ist lang, und besonders unterhalb des Alpgebietes nach dem auch geschlossenen Rifugio Mortara ( vormals Hotel Grande Halte ) schien der steile, steinige und staubige Pfad durch das dichte Unterholz eines Eschenwaldes an kein Ende zu kommen. Im kleinen Weiler Bodmen oder Piane hielten wir kurz am prächtig sprudelnden Brunnen. Auffallend sind die leiterartigen Gitter vor den Fronten und Seitenwänden der alten Holzhäuser, an denen Getreide und Emd zum Trocknen aufgehängt werden. Offenbar ist das Klima zu feucht und die Sonnenscheindauer in dem engen und tiefen Tal zu kurz, um ein genügendes Trocknen auf dem Feld zu bewirken.
Der Ort lag längst im Schatten, und wir glaubten das Ziel des Tages ganz nah; so unterliess ich leider, eine Aufnahme zu machen. Durch sauber gemähte Wiesen, auf denen ich leicht einen günstigen Standpunkt hätte suchen können, führte der Pfad weiter in die Tiefe. Erst nach etwa zehn Minuten fanden wir sein Ende auf dem grossen Platz südlich der Kirche des fast städtisch aussehenden Alagna-Valsesia, das mit seinen 1190 Metern den tiefsten Punkt unserer Reise bezeichnete. Trotz der ungewohnten Bauart der Gebäude stellte sich das zauberhafte Gefühl des Fremdseins nicht ein wie sonst in solchen Fällen; ich fühlte mich irgendwie hier beheimatet, was ich der Sauberkeit und Gepflegtheit der Häuser mit ihren Blumengärten zuschrieb.
Gemächlich schritten wir an der Kirche vorbei, an die grossen Gasthöfe mit ihren restlos geschlossenen Fensterläden hinaufsehend. Die Aufschrift « aperto tutto l' anno » bewog mich, in den Albergo Moderno Ferraris, ein kleineres, neues Haus, einzutreten. Wir waren die einzigen Gäste und der Besitzer die einzige Person, die wir zu sehen bekamen. In der Schweiz scheint es unmöglich, einen Gasthof ohne einen grossen Stab von Angestellten betreiben zu können, Signor Ferrari aber schien ausser einem dienstbaren Geist in der Küche keine Helfer zu beschäftigen. Eine Prüfung seiner Deutschkenntnisse fiel nicht ganz erfolglos aus. Er gab zwar alsbald die verfluchte Behauptung zum besten, Alagnerdiitsch sei ein schlechtes Deutsch, doch sprächen es nur noch die ganz alten Leute, die Jungen nicht mehr...
Ich hatte zum Wein ein wenig Brot und « Chäs » verlangt und war erstaunt, dass er dafür nur die italienische Bezeichnung zu kennen schien. Er aber holte uns aus der Bar mit den Worten: « Es is zu smool hier » in den Speisesaal hinüber, wo er die ganze reich assortierte Dessertplatte voll « Cheisch » zu unserer Verfügung stellte. An die dunkle Klangfarbe dieses Dialektes nicht gewohnt, brauchte ich einige Zeit, um zu begreifen, dass « smool » soviel wie schmal bedeute und sich auf das niedliche runde Bartischchen bezöge, an das wir uns gesetzt hatten.
Ein kurzer Spaziergang durch die Hauptstrasse hinab und zurück leitete von unserer späten Vesper zum Nachtessen über. Nachher blätterte ich noch eine Weile in der mir von unserem freundlichen Gastwirt gebrachten Broschüre des Dottore Giovanni Giordani: « La colonia tedesca di Alagna-Valsesia e il suo dialetto », die eine Grammatik und ein Wörterbuch des Alagnerdeutsch enthält. Bald aber stieg ich hinauf in mein Zimmer hoch über der wilden Sesia, die ungestüm über grosse Blöcke am Dorf vorbei zur Tiefe stürzt und in ihrem Rauschen den ohnehin geringen Lärm von Alagna verschluckte.
Donnerstag, 19. September. Über das Türli, 2736 m, nach Macugnaga, 1300 m Ein schmaler holpriger Karrweg steigt von Alagna hart neben der mutwilligen Sesia durch die enge Taltiefe hinan zu einem kasernenartigen Gebäudeviereck, der alten Goldwäscherei. Auf einer schmalen Holzbrücke überschritten wir das klare Bergwasser und gewannen, dem gut angelegten Saumweg folgend, langsam, aber stetig an Höhe. Himbeerschläge mit Früchten von seltener Süsse und Kraft des Aromas breiteten sich da und dort im Walde aus.
Hinter der Alp Faller, die einen schönen Tief blick auf Alagna bietet, beginnt ein Steinplattenweg, dessen Breite die doppelte Länge meines Pickels um etwa zwanzig Zentimeter übertrifft. Unsere Vermutung, dass ein solcher Luxus nur von militärischen Instanzen veranlasst und mit strategischen Erfordernissen begründet werden kann, wird durch die Namen der Alpini bestätigt, die sich in jeder einigermassen flachen Platte eingemeisselt finden.
Das Türli oder der Colle del Turlo, ein enger Durchschlupf in einem Felsgrat, bietet trotz seiner militärischen Bedeutung nur eine beschränkte Aussicht. Zum erstenmal seit Montag begannen sich Nebel zu bilden, die langsam Gräte und Gipfel einhüllten.
In gleicher Breite zieht sich der Passweg vom Türli nördlich auf eine Felskante hinaus, wo der staunende Blick das gerade Val Quarazza in seiner ganze Länge und Tiefe erfasst. Mit massigem Gefälle senkt sich der Weg in zahllosen Kehren durch die Steilflanke hinunter, um auf einer Alp hoch am rechten Talhang sein Ende zu finden. Ein schmaler Alpweg alten Stils liess uns endlich in steilerem Abstieg die waldige Talsohle gewinnen, die zum grossen Teil vom breiten Bett der Quarazza eingenommen wird.
Eine ausgedehnte Ruinenanlage gab uns ein Rätsel auf, bis ich in einer verwaschenen Aufschrift das Wort « oro » entziffern konnte. Richtig, auch hier wurde vor nicht allzulanger Zeit das begehrte Metall gewonnen, und Theodor erzählte mir, dass auch Leute aus Saas hier gearbeitet hätten.
Bei der Mauer des kleinen Stausees am Talausgang bogen wir links in die Valle Anzasca ein. Kleine Weiler sind über den breiten, hügeligen Talgrund verstreut, darunter Staffa, unser heutiges Ziel, Hauptort der Gemeinde Macugnaga. Bei unserer Ankunft breitete sich schon die Dämmerung über den Talschluss und liess die Gliederung der gewaltigen Wände des Weissgrates vom Fillarjoch zum Schwarzberg Weisstor, dem die Cima di Jazzi entragt, nur undeutlich erkennen. Vom Monte Rosa sieht nur der Gipfel des Nordends hinter der steilen Kante des Pizzo Nero hervor, um die das westlich ansteigende Anzascatal südwärts umbiegt in die Mulde von Pedriola.
Auf einem kurzen Gang durch das meist aus Hotels und Kaufläden bestehende Staffa zur Casa communale - das Wort « Gemeindehaus » steht gross in Fraktur angeschrieben - hörte ich einen Einheimischen sich mit einem fremden Paar, vermutlich Wallisern, auf Deutsch über das Wetter unterhalten.
Unser Albergo Macugnaga beherbergte an diesem Abend einen 78jährigen Hamburger mit langem, weissem Bart, der « früher mal Professor am Gymnasium war », und einen Dr. Schniewind aus München mit Gemahlin. Diese beiden beendeten hier auch eine Art Tour um den Monte Rosa: Sie hatten Breuil und Gressoney besucht im eigenen, vom Chauffeur gesteuerten Wagen. Was ihnen auf ihrer Fahrt am besten gefallen hatte, war der Wechsel zwischen südlicher und gebirgiger Landschaft, den diese langen Täler von ihren tiefgelegenen Ausgängen bis in die obersten Dörfer aufweisen.
Freitag, 20. September. Über den Monte-Moro-Pass, 2868 m, nach Saas Eine geschlossene Hochnebeldecke hing am Freitag früh über den lieblichen Gründen von Macugnaga. Nach den klaren Morgen der vergangenen Tage mussten wir daraus auf eine bevorstehende Änderung des Wetters schliessen. Der Monte Moro aber ist ein Pass, den man bei klarem Himmel überschreiten muss, um der ganzen Grosse und Schönheit seiner Aussicht teilhaftig zu werden. Also liessen wir den Gedanken an einen Ruhetag in Macugnaga stillschweigend fallen und stiegen wohlgemut auf schmalem Weglein den heimatlichen Bergen entgegen. Langsam hob sich die Wolkendecke in die Höhe, Bewegung machte sich in ihr bemerkbar, dann verdünnte sie sich, liess ferne Gegenstände durchscheinen, und noch bevor wir die Waldgrenze überschritten, schwebte nur noch hier und dort eine leichte Trübung wie ein Hauch zwischen uns und der Ostwand...
Comité Central Neuchâtel 1953-1955 Dr Edmond Brandt Alpinisme Roger Calarne Conseiller juridique Marcel Etienne Ski J.P. FarnyPierre Soguel ier Vice-président Président Central J.J. Du Pasquier Cabanes Charles Barbey Organisation de la jeunesse Pierre Favre 2e Vice-président Jean DuBois Publications et guides Dr Jean Clerc Stations de secours Gaston Dubied Secrétaire Alfred Imhof Marcel Cordey CaissierAssurances Photo Willy Chor, Neuchâtel
Central-Comité Basel 1956-1958 Gustav HöflinEduard GeeringDr. Hans DeckDr. Beat Im Obersteg O. ChefVersicherungenJuristischer Berater Karlrobert SchäferDr. Max Frutiger 2. SekretärSommer-Tourenchef Dr. Theodor MüllerErnst Ringele RettungschefWinter-Tourenchef Karl DettwylerDr. Rud. Suter Publikationenchef1. Sekretär Robert WenckWilhelm Preiswerk Central-PräsidentHüttenchef Ernst Waibel Kassier Dr.Wilh. Rütimeyer 7. Vizepräsident Fritz Iseli 2. Vizepräsident und Führerchef Photo'Karl Mettler, Basel Ein junger, stämmiger Bursche, der mühelos einen drahtgeflechtbespannten Rahmen - ich weiss nicht, ob Türe oder Bettstatt - auf ein Räf geschnallt dahertrug, sprach Deutsch wie wir. Nur als er Theodor fragte: « Wie heit Er d'Schprach? », begriffen wir nicht gleich, dass er sich nach dem Namen erkundigte.
Gräte und Gipfel sanken langsam in die Tiefe zurück, nur die Spitzen des Monte Rosa standen immer gleich hoch und fern im blauen Himmel, ja, schienen noch höher zu wachsen, je weiter wir stiegen. In Theodor erwachten alte Erinnerungen, hatte er doch die Ostwand zweimal durchstiegen. Es fehlt dem Beschauer ein Maßstab für die Grosse dieser Bergwelt; Theodor zeigte mir den schwierigen Caterinagrat am Nordend, von hier gesehen ein kurzes Grätchen, für den sie allein sechs Stunden im Abstieg gebraucht hatten.
Mit uns war auch die Sonne immer höher gestiegen und hatte die Luft in den Tälern erwärmt; sie strömte immer heftiger nach oben, stiess mit den kalten, über den Grenzkamm einfallenden Winden zusammen, und das unergründliche Spiel zwischen Erwärmung und Abkühlung, Verdampfung und Kondensation begann. In der Stärke blieb schliesslich der Südwind Sieger, aber die Temperatur wurde durch den Nordwind bestimmt, und als wir nach fast fünfstündigem Aufstieg um 12.40 Uhr den Monte-Moro-Pass erreichten, verschwand die Aussicht nach Süden immer mehr in den treibenden Nebeln.
Auf der breiten, aus zerklüfteten Bänken eines hellen Gneises aufgebauten Passhöhe, deren Vertiefungen mit Firnschnee gefüllt sind, traten ein halbes Dutzend aus dem Wallis aufgestiegener Besucher den Rückweg an. Wir suchten und fanden ein Plätzchen, das zwar nur teilweise Schutz gegen den Wind, aber einen freien Blick nach Norden bot. Wir hatten in den letzten Tagen manches grosse Tal im dunstigen Gegenlicht des Südens unter uns liegen sehen und erstaunten nun über der Leuchtkraft der Farben, die von der langgezogenen Furche des Saastals ausgingen, das in herbstlicher Klarheit vor uns lag, gerade gegen das Bietschhorn ausgerichtet, dessen zerfurchte Pyramide sich hoch über seine Umgebung erhebt.
Über breite Felsbänder, die schräg abwärts streichen und, eines über dem andern, stufenförmig nach dem Tällibodengletscher und einer geröllgefüllten Mulde abfallen, die sein Schwinden blossgelegt hat, führt die Spur zahlreichen Steinmännern entlang auf die obersten Weiden hinunter. Ein gutes Weglein läuft talaus über die einsamen Hütten der Distelalp gegen den breiten Talboden von Mattmark. In bestimmten Zeitspannen zog ein Flugzeug darüber einen Halbkreis und verschwand talaus. Wir vermuteten Geiger in ihm, konnten uns aber den Zweck seiner Flüge nicht erklären.
Endlich tauchte ein gewaltiger Felsklotz von vitriolähnlicher Farbe am Wege auf, der berühmte blaue Stein, und dahinter das Hotel Mattmark. Mit dem Behagen von Wanderern, die, aus fremdem Land heimkehrend, ihre Beine unter den Tisch der ersten heimatlichen Herberge strecken, tauschten wir einige Neuigkeiten mit dem freundlichen Wirt aus. Er erzählte uns, wie die grosse Ebene vor den Fenstern, auf der ein Feuer brannte, dessen Rauchfahne Richtung und Stärke des Windes anzeigte, von Geiger als Umschlagplatz benützt werde, um Material nach der Britanniahütte zu fliegen. Von Saas-Grund hierher erfolgte der Transport auf Jeeps über die von einem Kraftwerk-unternehmen erstellte Strasse. Eine Arbeitergruppe, mit umfangreichen Sondierungsarbeiten für den künftigen Staudamm beschäftigt, werde im Gasthaus verpflegt, weshalb dieses voraussichtlich bis Mitte November offenbleibe.
Der Stausee sei nun beschlossene Sache, und der alte Bau werde mitsamt dem blauen Stein in den Fluten verschwinden. Damit geht wieder ein Stück alter Passromantik dahin, doch ist der Verlust an Kulturboden nur gering.
19 Die Alpen - 1958 - Les Alpes289 Das klassische Endstück der Rundtour um den Monte Rosa von Zermatt aus ist der Gletscherpass des Schwarzberg-Weisstors und Mattmark der Ausgangspunkt dafür. Aber wir waren nun schon den sechsten Tag unterwegs über zum Teil ziemlich lange Pässe und ein Ruhetag war endlich angebracht. Theodor hatte in den Gasthöfen beim Nachtisch die Süsse und Saftigkeit italienischer Früchte entdeckt und war dazu übergegangen, Birnen und Pfirsiche zu kaufen und als Zwischenproviant mitzunehmen. Diese Umstellung in seinen Ernährungsgewohnheiten zog ihm eine Magenverstimmung zu, die er nun freilich auf Mattmark mit einem Gläschen reinen Absinths wunderbar kurierte.
Da zudem für morgen mit einer Wetteränderung zu rechnen war und übermorgen meine Ferien zu Ende gingen, sahen wir von einer Überschreitung des Schwarzberg-Weisstors ab und beschlossen unsere Tour mit dem Marsch nach Saas-Fee.
Ein mit Nichtstun und dem Beobachten des sich gegen Mittag rasch verschlechternden Wetters zugebrachter Vormittag in Saas-Fee, das nur noch von wenigen Gästen belebt war, wurde beherrscht von den frischen Erinnerungen an die vollendete Fahrt. In die Befriedigung über das gute Gelingen mischte sich ein leises Bedauern, an den besuchten Orten nicht länger verweilt zu haben. Schön wäre auch ein Durchstreifen der einzelnen Täler von zuoberst ihrer ganzen Länge nach abwärts: Abstieg vom Schwarztor am Breithorn ins Tal des Evançon, vom Lysjoch ins Tal von Gressoney, vom Sesiajoch nach Alagna. Dafür sollte man einmal Zeit finden.