Märchler Anden-Expedition 1963
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Märchler Anden-Expedition 1963

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON CHRISTIAN HAUSER, SIEBNEN SZ

Mit 4 Bildern ( 96-99 ) Es entspricht menschlichem Sehnen und Hoffen, einmal in der Zeitspanne seines kurzen Lebens die weite Welt zu sehen und zu erleben.

Der Bergsteiger im besonderen zieht den Kreis seiner Wunschträume immer und immer wieder bis zu den grossen, fernen Weltgebirgen, die ihm unbekannte Bergabenteuer und glückliche Erfüllung versprechen.

Bergsteigerexpeditionen kommen in der Regel zustande durch die Initiative irgendeiner alpin interessierten Gemeinschaft oder Institution, wobei zur Teilnahme begreiflicherweise in erster Linie die leistungsfähigsten Bergsteiger, die sogenannten Spitzen, berücksichtigt werden müssen.

Recht so! Aber die Begeisterung und die Flamme der Sehnsucht nach dem grossen Erlebnis einer Expedition zu den einsamen, wilden Bergen eines fernen Kontinentes brennt auch in den Herzen der « namenlosen Bergsteiger. » Ziel Daheim in meiner Stube liegt die Weltkarte ausgebreitet. Kamerad Edy Schelling und ich sind auf der Suche nach einem Ziel. Wir zwei sind bisher noch nie über den Mont Blanc und die Dolomiten hinausgekommen, fahren nun aber mit den Fingern ganz respektlos auf der Weltkarte herum: Norwegen, Island, nichts! Persien, Türkei mit hohen Bergen würde auch nicht befriedigen. Spitzbergen? Schon interessanter, käme eventuell in Frage. Grönland, kalt, unwirtlich. Himalaya braucht zuviel Zeit und Geld. Die Berge von Neuseeland, Australien, sicher lohnende Ziele, aber laut Berichten anderer Expeditionen immer von stürmischem, schlechtem Wetter beherrscht.

Aber Südamerika, die Anden, die gleissenden Schnee- und Eisgipfel der Kordillera, das wäre ein Ziel, lockend und verheissungsvoll! Sind sie doch sehnlichster Wunschtraum vieler Bergsteiger!

Unsere erste Kundfahrt mit dem Zeigfinger ist beendet. Und wir sind fest entschlossen, eine private Kleinexpedition zu starten und schon morgen mit den Vorbereitungen zu beginnen. Mit Julius Hensler, Heinz Gebauer und Walter Schnyder werden noch drei weitere Teilnehmer für das Unternehmen gewonnen, die nicht nur als Bergsteiger, sondern auch als einsatzfreudige, bewährte Kameraden die notwendigen Voraussetzungen erfüllen.

Vorbereitung, Planung Es folgte nun die erste Kontaktnahme mit der « Schweizerischen Stiftung für Alpine Forschung » in Zürich, wobei wir durch den erfahrenen Expeditionsfachmann Dr. F. Schwarzenbach in ver-dankeswerter Weise sehr wertvolle, gutgemeinte Ratschläge entgegennehmen durften. Mit dem erhaltenen Adressenmaterial war es dann möglich, Verbindungen mit wichtigen Stellen in Lima ( Peru ) aufzunehmen. So konnten Träger, Arieros mit den Lasttieren sowie zusätzlicher Proviant im voraus bestellt werden.

Nach viermaligem Briefwechsel mit Dr. Cesar Morales, Präsident des Club Andino in Lima, erhielten wir sogar die Zusicherung, dass in Zusammenarbeit mit der dort ansässigen Schweizerischen Botschaft unser Expeditionsgepäck ausgelöst werden könne, und auf die telegraphische Bestätigung hin beabsichtigten wir, in der Schweiz zu starten, um dadurch unliebsame Wartezeit in Lima zum vornherein auszuschalten. In kameradschaftlicher Verbundenheit beteiligten sich an unsern Vorbereitungen auch die erfahrenen Kameraden André Roch und Bergführer Geni Steiger.

Ferner erhielten wir von Peter Diener und Ernst Reiss Zelte sowie andere Spezialausrüstung. In sehr wichtigen administrativen Angelegenheiten zog auch Kamerad Willy Maser, Zürich, tüchtig am « Karren » der Märchler Anden-Expedition.

Diese alle haben viel dazu beigetragen, dass es möglich war, die vier « Seekisten » im Totalgewicht von etwas über 1000 kg programmgemäss zwei Monate zuvor abzusenden.

Begleitmusik - Nebengeräusche Unser Unternehmen erlebte von seiten Besserwisser und gar Neider allerlei Vorkritik, war es doch etwas Neues, dass eine kleine Expedition von fünf Mann, die zudem noch nirgends ins grelle Licht der « Weltbühne » getreten war, ein solches Vorhaben in die Hand nahm, ganz aus privater Initiative, aus freien Stücken und mit eigenen Mitteln. Und so erfolgte der Start auch in aller Stille, ohne Reporter, ohne Radio und Fernsehen.

Drei Worte Anfangs Juni 1963 traf das langersehnte Telegramm von Lima ein: « Gepäck ist ausgelöst. » Nur drei Worte! Für uns bedeuteten sie aber alles. Es war das Startzeichen zum grossen Abenteuer, zur grossen Reise in die einsamen peruanischen Berge.

Und schon einige Tage später konnten wir in Kloten mit einer DC 8 zum verheissungsvollen Flug starten, unter Beisein vieler Angehöriger von Bergkameraden. Es begann für uns der erste grosse Flug Nach acht Stunden eindrucksvollem, herrlichem Flug landeten wir am Spätnachmittag gespannt und erwartungsvoll im mächtigen « Dorf » der Wolkenkratzer, das auf der Weltkarte mit New York eingetragen ist. Hier schalten wir zur Stadtbesichtigung einen Aufenthalt von zwei Tagen ein. Überwältigend sind für uns die Eindrücke, die uns die riesigen Hängebrücken, das Rockefeller Center machen, imposant das architektonisch so wuchtig und formschön, nur aus Glas und weissem Marmor erbaute UNO-Gebäude, geradezu verwirrend die nächtlichen, farbenprächtigen Leucht-reklamen im Chinesen- und in den Geschäftsvierteln. Wir « besteigen » sogar den 450 m hohen Empire State Building, den höchsten Wolkenkratzer von New York, und geniessen von dessen Dachterrasse aus einen einzigartigen, unvergesslichen Rundblick über die riesige Weltstadt.

Die folgende Weiterreise bringt uns im Nachtflug weiter südlich nach Miami ( Florida ), Panama und gegen Morgengrauen in Äquatornähe. Auf einer Höhe von zirka 10 000 m, hoch über den Wolken, erleben wir mit noch halbverschlafenen Augen einen selten schönen, stimmungsvollen und farbenprächtigen Sonnenaufgang. Kurz darauf ist die Sicht wolkenfrei, und schon ist der nördliche Teil von Peru erkennbar, zuerst trostloses, vegetationsloses Hügelland, dann aber die ersten Schnee- und Eisberge dieses unseres Traumlandes. Es sind die Gipfel der Cordillera Blanca, deren höchste wildvergletscherten Spitzen und Wächtengrate in der ersten Morgensonne leuchten und aus der Vogelschau einen phantastischen Anblick bieten. Weiter südlich folgt die Gletscherwelt der Cordillera Huayhuash, die unser Ziel ist.

Lima Im grössten Hotel von Lima, im « Crillon », das einem Engadiner Bezzola gehört, werden wir sehr vorteilhaft und liebenswürdig aufgehoben.

Doch kaum im Zimmer angekommen, klopfen schon Reporter an die Tür! Sie wollen Auskunft über Ziel und Zweck unserer Expedition. Mit einem Kauderwelsch von Spanisch, Italienisch und Deutsch erkundigen sie sich, ob wir auch schon auf dem Rigi und dem Matterhorn gewesen seien. Dann werden noch Blitzlichtaufnahmen geknipst, mit verbeulten Kästen, die eher einer ausran- gierten Kaffeemühle gleichen als einem Photoapparat. Dann folgt eine Einladung der andern, ein reichhaltiges Nachtessen mit auserlesenen peruanischen Spezialitäten bei Dr. Cesar Morales. Im Schoss des Club Andino zeigen wir Farbenlichtbilder von den Schweizer Bergen und tauschen gegenseitig Clubwimpel aus. Drei Tage benötigen wir zur Erfüllung der gesellschaftlichen Verpflichtungen. Dann folgen nochmals eine « Lagebesprechung » und genaues Kartenstudium mit Dr. Morales und Felix Marx, der sich übrigens bereit erklärt, bis zum Basislager mitzukommen. Marx ist ein Luzerner, der seit 15 Jahren in Lima ansässig ist. Als leidenschaftlicher Bergsteiger war er in den Anden schon an verschiedenen Expeditionen erfolgreich mitbeteiligt.

Die intensive, lückenlose Vorarbeit hat sich gelohnt. Dr. Morales hat das Expeditionsgepäck nicht nur durch die Schranken der launischen, unberechenbaren peruanischen Zöllner geschleust, sondern auch den Weitertransport mit Lastauto nach Chyqian besorgt, unserm Ausgangspunkt in den Bergen.

Hinreise Dadurch blieb uns eine holperige, staubige Lastautofahrt, eingeklemmt zwischen Kisten und Gepäck, glücklicherweise erspart. In bequemem Autobus fuhren wir in früher Morgenstunde von Lima weg, nordwärts der Westküste entlang in interessanter, abwechslungsreicher Fahrt, durch eine Wüste mit vereinzelten Dörfern und schwenkten nach etwa 250 km rechts ab, um auf staubiger Naturstrasse ins vegetationsreichere Santatal zu gelangen. Bald führt die Strasse in steilen Kehren hinein in die Berge, vorbei an armseligen Siedlungen einzelner Indios. Steilabstürze und tiefe Schluchten, hart am Wegrand, sorgen für etwelche Aufregung und Ängstlichkeit. Zudem sprechen die vielen Kreuze am Rand der Strasse deutlich von Unglücksfällen; doch unser Chauffeur fährt mit bewundernswerter Ruhe und Sicherheit vorwärts.

Auf dem 4100 m hohen Gonokochapass wird nach acht Stunden anstrengender Autofahrt eine längere Rast eingeschaltet. Ein paar Lehm- und Strohhütten, verschmiert mit Wahlsprüchen, zieren die einsame Passhöhe. Wir sind nun mitten in der Sierra, dem riesigen, unendlich weiten und öden Hochland der Bergindios. Kopfweh und schwere Beine, die Folge des Wechsels von Meereshöhe plötzlich auf 4100 m, macht sich bemerkbar. In einer alten rauchgeschwärzten Hütte gibt es gebackene Fische mit Reis, ein wahrer Leckerbissen, obwohl auch Hühner, grunzende Schweine und unzählige Hunde als duftende « Gäste » im gleichen Raum anwesend sind.

In nördlicher Richtung führt die Strasse nach Huaras, ins Herz der Cordillera Blanca. Wir zweigen von der Höhe nach rechts ab und fahren hinunter ins Bergdorf Chyqian, unserm Ausgangspunkt der eigentlichen Bergfahrt.

Chyqian liegt auf 3320 m Höhe, etwa 350 km nördlich von Lima. Ich nenne den Ort noch am gleichen Abend « das Dorf der wohlriechenden Gassen ». Im Hotel Santa Rosa finden wir « feudale » Unterkunft in einem alten Wanzenschlag mit herunterhängender Gipsdecke, wackligen Eisenbetten und den hölzernen Nachthafen darunter. Noch am gleichen Abend treffen die drei bestellten Träger Vargas, Balthasar und Morales ein. Sympathische, kräftige Burschen, die uns sofort einen guten Eindruck machen.

Am andern Tag erscheinen auch die zwei Arieros und versprechen auf morgen mit 26 Eseln und einem Reitpferd bereit zu sein.

Anmarsch Die Arieros halten Wort, sie sind mit den Lasttieren zur abgemachten Zeit eingetroffen. Das gesamte Expeditionsmaterial, schon daheim zu 20—kg—Lasten in leichten Fibertrommeln verpackt und genau numeriert, wird den Eseln aufgebastet. Besondere Aufmerksamkeit schenken wir dabei der peinlich genau zusammengestellten, reichhaltigen Apotheke, die wir aus Sicherheitsgründen doppelt führen und auch zwei verschiedenen Tieren aufladen. Unter reger Anteilnahme der ganzen Dorfbevölkerung wird Abschied genommen, und mit viel Lärm und Geschrei setzt sich die bunte Karawane mit den 26 schwerbepackten Eseln in Bewegung.

Ein steiniger, schlechter Saumweg führt zuerst steil hinab in das 700 m tiefer gelegene Pativilcatal. Trotz der drückenden Hitze geniessen wir die landschaftliche Eigenart dieser wilden Gegend. Wir marschieren einem rauschenden Bergfluss entlang durch tief eingeschnittene Erosionsschluchten, in denen üppige, tropische Vegetation herrscht - Immer mehr Kakteen, mit den langen, stahlharten Stacheln geschmückt, liegen auf dem Weg herum, so dass ich mein Vorhaben, den ganzen Anmarsch barfuss zu bewältigen, schon nach fünf Stunden aufgeben muss. Ich wollte auf das merkwürdige Vergnügen, einen solchen Stachel mit der Beisszange aus der Fusssohle herausreissen zu lassen, zum vornherein verzichten.

Nach langem strengem Wiederaufstieg erreichen wir nach acht Stunden Marsch das auf 3300 m gelegene malerische Bergdorf Padion, wo wir ein Zeltbiwak auf dem « Sportplatz » am Dorfrand errichten. Schweigend, aber voller Neugier stehen die Indios, in ihre langen, rotbraunen Ponchos gekleidet, um unsere « Küche » herum. Als besonders aufregende Neuigkeit bestaunen sie unsere Bergschuhe. Denn der Bergindio kennt hier als Fussbekleidung nur die primitive Pneusohle, die mit einem Riemen, der zwischen der grossen Zehe hinauf zum Knöchel führt, festgehalten wird.

Auf immer schlechter werdendem Saumpfad marschieren wir am andern Tag wieder engen, dunklen Schluchten entlang. Eukalyptusbäume, Lupinien, Kakteen und anderes Dornengebüsch säumen den schmalen Weg bis in den Talhintergrund, wo wir scharf nach rechts abbiegen und im steilen Aufstieg gegen Abend den landschaftlich unvergleichlich schönen Taphuspass erreichen. Im letzten Licht der untergehenden Abendsonne leuchten die Firn- und Eisflanken der Tsacra-Gruppe, ein packendes Naturschauspiel, das wir voll geniessen, bis nach kurzer Dämmerung die Nacht hereinbricht und wir fröstelnd in die Zelte kriechen.

Die Überschreitung des 4800 m hohen Taphuspasses am andern Morgen zählte zum Eindrücklichsten und Schönsten, was wir am ganzen Anmarsch erlebten.

Selbst hier in der Höhe der Sierra hausen noch einsame Bergindios in ihren armseligen Steinhütten, hüten ihre Schaf -und Ziegenherden, ringen der kargen, dürren Erde noch ein paar Kartoffeläcker ab. Ein älterer Indio, im dunkelroten Poncho, schwarzen Hut, hoch zu Ross, mit der Steinschleuder in der Hand, lässt schweigend und fast grusslos die ganze Karawane vorüberziehen. Sicher sind diese Menschen dem Europäer nicht im eigentlichen Sinn des Wortes feindselig eingestellt, aber ein gewisses Misstrauen ist in ihnen immer noch verwurzelt. Es schien mir, sein Blick schweife schwermütig über uns hinweg, weit, weit über das unendliche riesige Hochland der Sierra, die seine Heimat bedeutet. Bestimmt denken sie zurück und erinnern sich der Zeit, da ihre Vorahnen die Vertreter einer stolzen Rasse waren, die Jahrhunderte lang ganz Peru und die angrenzenden Länder beherrschte, bis dann anfangs des 15. Jahrhunderts spanische Abenteurer und Plünderer ihr blühendes Reich zerstörten. Sie ahnen das grosse Unrecht, das einmal geschah, ohne aber das ganze Ausmass der damit verbundenen Tragik zu überwinden. So lebt der heutige Indio armselig, in dumpfer Ergebenheit dahin, und es wird noch Generationen dauern, bis sie aus ihrer Lethargie und Interesselosigkeit wachgerüttelt werden, um selber an einer besseren Zukunft zu arbeiten.

Steil und beschwerlich führt der Abstieg 900 m tief hinunter ins Tal von Calinca. Die letzte Siedlung Ayapà lassen wir rechts liegen und marschieren stundenlang einem wildsprudelnden Bergbach entlang, Richtung Talhintergrund, in der Hoffnung, noch heute die für das Basislager vor- gesehene Laguna Jurau Kocha zu erreichen. Aber kurz vor 18 Uhr bricht wieder nach kurzer Dämmerung die Nacht herein, ohne dass wir am Ziel sind. So erleben wir nochmals ein Zeltbiwak im einsamen, weit abgelegenen Talkessel von Calinca, bereits umgeben von hohen wuchtigen Bergen. Die Träger haben aus dürrem Gebüsch ein Lagerfeuer entfacht und singen ihre uralten indianischen Volkslieder.

Am andern Morgen erreichen wir nach zwei Stunden den Talhintergrund. Noch ein kurzer Aufstieg über einen verwachsenen Moränenhügel, und wir stehen endlich, nach dreieinhalb Tagen Marsch, an der Laguna Jurau Kocha.

Ein herrlicher, von Moränen, dunklen Felswänden und Gletschern eingerahmter Bergsee auf einer Höhe von 4340 m.

Im Basislager Etwas oberhalb der Moräne, im letzten dürren Steppengras, errichten wir zwischen haushohen Felsblöcken unser Hauptlager. Ein traumhaft schöner Platz mit Blick zum Gletschersee, im Hintergrund die wuchtigen, eisgepanzerten Steilflanken der Nevada Jurau. Noch sind wir nicht im Vollbesitz unserer Kräfte, so dass uns das Zusammentragen der Steine für die Küche Kopfweh und Müdigkeit verursacht. Die Höhenanpassung erfordert Zeit. Aber trotzdem ist gegen Abend die « Siedlung » fertig erstellt: ein grosses Hauszelt mit Schlaf- und Aufenthaltsraum, ein Zweier-Berg-zelt für die Nichtraucher, das Trägerzelt, die Naturküche, das Proviantdepot und die frisch sortierte Apotheke unter einem überdachten Felsen versorgt. Der Auftrieb und die Neugierde lassen uns aber keine lange Ruhe. Schon am andern Tag steigen Gebauer, Hensler, Marx, zwei Träger und ich mit Ausrüstung, Proviant und einem Bergzelt zum oberen Gletscherplateau hinauf und erstellen in einer windgeschützten Mulde in der Höhe von etwas über 5000 m ein Hochlager.

Nevada Jurau und Puscaturpa-Gruppe Ein unbeschreiblich schönes Gebiet liegt nun in greifbarer Nähe vor uns. Dazu herrschen ausgezeichnete Verhältnisse und eine gute, stabile Wetterlage.

Von den zentralen Gipfeln der Cordillera Huayhuash, aus denen der wilde eisgepanzerte 6143 m hohe Sarapo besonders hervorsticht, schliesst sich in südlicher Richtung eine Kette form schöner, noch unbestiegener Eisgipfel, die Nevada Jurau an. Dann folgt die eigentliche Puscaturpa-Gruppe, die durch die wuchtige, steilaufstrebende Felsbastion des 5600 m hohen Puscaturpa-Hauptgipfels abgeschlossen wird.

In diesem stillen, abgeschiedenen Reich, im Kranze gleissender Eisgipfel und schöner Felsberge dürfen wir nun unvergessliche Tage der Bergeinsamkeit und des Gipfelglücks erleben! Stellt diese Kette auch Berge der sogenannten « zweiten Höhenklasse » dar, so beeinträchtigt das weder unsere Freude, noch die Begeisterung. Wir sind nicht der sportlichen Sucht nach Höhenmetern verfallen, sondern wir zogen aus als Bergsteiger mit der Sehnsucht im Herzen, ein fernes, einsames von der Technik noch völlig unberührtes Gebirge in seiner Grösse und Ursprünglichkeit zu erleben.

Jurauraju-Nord- und Südgipfel Westlich oberhalb unserm Hochlager, gegenüber der Nevada Jurau-Gruppe, locken zwei noch unbestiegene Gipfel. Technisch nicht schwer, aber zur Höhenangewöhnung und zur Rekognoszierung für weitere, grössere Unternehmen bestens geeignet.

Nach einem Aufstieg über leichte Felsen gelangen wir an den Rand eines Eisabbruches und schnallen die neu konstruierten Einsiedler-Steigeisen an. Zu viert am Seil führt uns der Weiteraufstieg durch eine mässig steile Eisflanke. Leicht aufgeweichtes, grobkörniges Eis erlaubt ein flüssiges Gehen ohne zu hacken. Dafür verwende ich in den ersten zwei Seillängen zur Standsicherung die selbst konstruierten 50-80 cm langen Aluminium-Profilhaken, die sich in dem weichen Eis vorzüglich anbringen lassen. Etwas höher queren wir im leicht felsdurchsetzten Gelände, mehr rechts haltend, in der Gipfelfallinie. Eine wilde Landschaft von Eis und Schnee, dazu prachtvolles Wetter mit einer schönen Wolkenstimmung begleiten uns beim Schlussaufstieg zum höchsten Punkt.So erreichen wir nach knapp drei Stunden, vom Hochlager aus gerechnet, den Jurauraju, 5340 m ( Südgipfel ), unser erster Andengipfel und auch den ersten 5000er!

Wir geniessen frohes Gipfelglück! Eine überwältigende Rundsicht bietet sich in die ganze Weite der Huayhuash und südlich zu den herrlichen Schnee- und Eisgipfeln der Cordillera Raura.

Nur einige hundert Meter nördlich liegt der ebenfalls noch unbestiegene Nordgipfel, mit ungefähr gleicher Höhe, den zwei Tage später die inzwischen vom Basislager aufgestiegenen Kameraden Edy Schelling und Walter Schnyder besteigen. Als Kameramann ist auch Heinz Gebauer von der Partie, um die ganze Besteigung im Film festzuhalten.

Der Berg war stärker...

Nicht alle Wünsche und geplanten Besteigungen konnten wir verwirklichen.

Gebauer und Schnyder starteten zwei Versuche am südlichsten Gipfel der eigentlichen Nevada Jurauraju, ein massiger, breiter aber schöner Eisgipfel mit sehr steilem Aufbau, abgeschlossen durch einen langen, fast horizontalen überwächteten Firngrat.

Nachdem sie in schwerer, extremer Eiskletterei durch ein Steilcouloir die östliche Scharte erreichen, versuchen sie mit zweitem Anlauf in der vereisten, mit brüchigem Fels durchsetzten Nordostflanke aufzusteigen. Etwa drei Seillängen unter der Gipfelabdachung muss aber der Besteigungsversuch abgebrochen werden ( denn die Schwierigkeiten waren zu gross und rechtfertigten den Entschluss zur Rückkehr ).

Die Puscaturpa-Gruppe Einige Tage später verlegen wir ein Hochlager zum südlichen Ende des Gletscherplateaus, an den Fuss des wuchtigen Puscaturpa-Hauptgipfels. Der Charakter der Hochgebirgslandschaft ist hier stark verändert, nicht mehr Eis, sondern mehr Steilfirne und brauner Granit geben dieser Bergkette das Gepräge.

Immer noch herrscht ausgezeichnetes Wetter, noch nie fiel während unserer Fahrt ein Tropfen Regen oder setzte einmal Schneefall ein. Die Monate Juni bis September zählen in den Anden zur Winterzeit und sind in der Regel sehr niederschlagsarm. Wohl bezieht sich diese Regel mehr auf den nördlichen Teil der Peruanischen Anden: Raura, Huayhuash und Bianca-Gebiet, weshalb für Expeditionen auch diese Jahreszeit gewählt werden soll, obwohl die Tage so kurz sind wie bei uns im Hochwinter. Die Temperaturen sind aber erträglich. Wir messen im Hochlager auf 5000 m Tagestemperaturen bei Sonnenschein zwischen 15-18 Grad über Null, während in der Nacht das Quecksilber etwa 10-15 Minusgrade anzeigt.

Nach einer schlecht verbrachten Nacht, zu dritt im kleinen Dhaulagiri-Zelt, verspüren wir am Morgen keine Lust zu grossen Taten. Erst im späten Vormittag wird zu einer Rekognoszierungstour um den Puscaturpa-Stock herum gestartet. Dabei entdecken, wir die mögliche Aufstiegsroute für den 5500 in hohen Südgipfel, an dem 1954 zwei Teilnehmer der österreichischen Anden-Expedi-tion, kurz vor Erreichen des höchsten Punktes, von einem Schneebrett in die Tiefe gerissen wurden.

Am Passübergang südlich des Puscaturpa, in landschaftlich einzigartger Umgebung, halten wir Rast. Da wir etwas « ausgepumpt » sind, bereitet es uns etwelche Mühe, Brot und Fleisch zu kauen und zu schlucken. Aber die in den Feldflaschen mitgeführte kalte Ovomaltine empfinden wir als Göttertrank. Auch Trägerchef Vargas, der sonst glaubt, man könne sich in den Bergen nur mit gebratenem Schaffleisch erhalten, lernt unsere Ovo schätzen und kann sich an den zugeteilten Rationen kaum begnügen.

Obwohl wir eigentlich nur zu einer Erkundung ausgezogen waren, kommt es doch zu einem schönen Gipfelerfolg: Julius Hensler und Träger Vargas besteigen von der Passhöhe aus den 5320 m hohen Cuyoraju. Nur mit Mühe finden sie sich vor Einbruch der Dunkelheit noch ins Hochlager zurück.

Am Abend im Zelt herrscht feierliche Stimmung. Gipfelfieber hat uns gepackt. Beim flackernden Kerzenlicht studieren wir die ausgezeichnete Huayhuash-Karte von Prof. Dr. Kinzl, Innsbruck, vermerken die erstiegenen Gipfel und setzen uns neue Ziele. Prof. Kinzl war mehrmals als Wissenschafter und Bergsteiger in der Huayhuash tätig und zählt zu den besten Kennern dieses Gebietes. In grosszügiger Weise hat er uns seine hervorragende Karte zur Verfügung gestellt, die wir sehr zu schätzen wissen.

Nacheinander folgen nun die Besteigungen des Puscaturpa Central, 5442 m, zweite Besteigung. Dann zwei Tage später in der gleichen Kette der technisch schwerste Gipfel, der Sueroraju, 5439 m. Am gleichen Tag wird von einer anderen Mannschaft der etwas harmlosere Cutatambo, auf der gegenüberliegenden Seite, 5245 m, bestiegen. Nach zwei Ruhetagen im Hochlager, die wir mit Filmen, Photographieren und Tagebuchführung verbringen, wird von Julius Hensler und Träger Balthasar, als würdiger Abschluss der bergsteigerischen Tätigkeit, der 5500 m hohe Puscaturpa Sur erstmals ganz bestiegen.

Dann räumen wir das Hochlager und nehmen Abschied von der unvergesslich schönen Gletscherwelt der Nevada Jurau und Puscaturpa. Wenn auch nicht alle vorgesehenen Ziele in die Tat umgesetzt werden konnten, so gelangen uns doch einige anspruchsvolle und beachtliche Gipfelbesteigungen in einem Gebiet der Peruanischen Anden, die an landschaftlicher Schönheit, gepaart mit wilden, eindrucksvollen Szenerien eisgepanzerter Steilflanken und wächtengekrönten Hochgipfeln, kaum überboten werden kann.

Ausklang Noch verblieben uns im Basislager bis zur Ankunft der Lasttiere einige Ruhetage. Sie waren voll ausgefüllt mit Filmen, Klettern und kleineren Ausflügen. In der Moräne am Gletschersee sammelten wir seltsame, farbige Steine; Edy Schelling betätigt sich als Maler und hielt die reizvolle landschaftliche Eigenart mit Farbe und Pinsel fest.

In Chyqian zurück, verabschieden wir uns aufs herzlichste von den drei Trägern. Sie erhielten 65 Soles pro Tag und als Geschenk noch verschiedene Ausrüstungsgegenstände. Allen drei können wir nur das beste Zeugnis ausstellen. Während des Anmarsches, im Basislager und am Berg haben sie sich immer voll eingesetzt. Körperlich sind sie uns Europäern am Berg natürlich überlegen, alpintechnisch jedoch müssen sie noch einiges lernen. Ihre Tätigkeit als Träger empfinden sie nicht als blosse Arbeit um des Geldes willen. Mit einer echten Begeisterung und Freude machen sie soviel als möglich bei den Gipfelbesteigungen mit. Auch unter der Brust der peruanischen Träger klopft ein Bergsteigerherz!

Zurück in Lima Im späten Abend fahren wir staubig, verschmutzt und mit einem währschaften Bart in die lichterfüllte Zweimillionenstadt ein. Am folgenden Tag sitzen wir wieder mit Dr. Cesar Morales zusammen, um über unsere bergsteigerische Tätigkeit zu rapportieren. Selbstverständlich überlassen wir Dr. Morales die Benennung unserer neu bestiegenen Gipfel, um den einheitlichen Charakter der Gipfelnamen beizubehalten. Wir erachteten unser Unternehmen nicht für ein so weltbewegendes Ereignis, als dass wir uns mit einem schönklingenden « Silber- oder Märchlerhorn » verewigen wollen. Wieder kommen Einladungen von Schweizer Freunden zu gemeinsamen Stadtrund-fahrten, feudalen Nachtessen; es herrscht eine herzliche Atmosphäre kameradschaftlicher Verbundenheit unter Landsleuten.

Wir wollen aber die noch zur Verfügung stehende Zeit nicht nur in der Hauptstadt von Peru verbringen. Denn Peru ist geographisch so vielgestaltig und geschichtlich so interessant, dass wir uns noch zu einer längeren Landreise entschliessen. Gerade darin liegt ja auch der grosse Reiz einer derartigen Expedition, dass man nicht nur die Berge eines fremden Landes kennenlernen will, sondern sich auch etwas mit dessen Geschichte befasst und Land und Leute zu erkennen sucht.

Stumme Zeugen einer grossen Vergangenheit In einem altehrwürdigen « Blechvehikel », das den Namen Autobus beanspruchte, starten wir ein paar Tage später zu einer Landreise. In einer Fahrt von anderthalb Tagen südwärts, der Westküste entlang, durch weite, endlose Wüsten, führt die Strasse hinauf nach Arequipa, der zweitgrössten Stadt von Peru. Nach einer zweiten strapaziösen Nachtfahrt erreichen wir Puno am Titicacasee, auf 3825 m Höhe gelegen.

Weiter führt die recht abwechslungsreiche Reise mit der Bahn, dem Titicacasee entlang, dann über die unendlich weite Hochebene in neun Stunden nach Cuzco, der ehemaligen Hauptstadt der Inka. Zwei Tage später fahren wir mit der schaukelnden, buntfarbigen Eisenbahn durch die tiefen, dunklen Urwaldschluchten des Urubamba bis nach Machu Picchu zu den berühmten Inkaruinen, diesem für die Geschichte von Peru recht bedeutungsvollen Ort, der auf seltsame, geheimnisvolle Art in längst vergangene Zeitepochen zurückgreift und ein stummes Zeugnis von der damals blühenden, auf hohem Niveau stehenden Kultur der alten Inkavölker ablegt.

Abschied in Lima und Heimreise Von Cuzco fliegen wir zurück nach Lima, sehen aus der Vogelschau nochmals die schimmernde Gletscherwelt der Cordillera Vilcabamba und erkennen die wuchtige, steilaufstrebende Pyramide des 6250 m hohen Salcantay.

In Lima beteiligen wir uns zum Abschied noch an der 1 .August-Feier, welche die Schweizerkolonie im bekannten Landgasthof Grand Azul veranstaltet. Mitten in den Parkanlagen wird ein riesiges Feuer entfacht, Heimatlieder erklingen, Reden in drei Sprachen werden gehalten, und der Pisco-Saur fliesst in Strömen...

Trotz den nächtlichen Strapazen besteigen wir am andern Morgen das Flugzeug. Über den südlichen Teil von Peru, über Bolivien und Brasilien erreichen wir nach sieben Stunden Flug Rio de Janeiro, diese Weltstadt, am Meer gelegen, mit ihren Buchten und den kunstvoll angelegten Parkanlagen, die zu den schönsten Städten zählen soll. Nach vier erlebnisreichen Tagen reisen wir im Nachtflug weiter, über den Atlantischen Ozean nach Dakar in Senegal. Es gibt hier kurzen, nächtlichen Aufenthalt, Weiterflug im Morgengrauen über Nordafrika, über das Mittelmeer. Die Küste von Marseille taucht auf- und gegen Mittag landet die « Coronado » in Genf!

So durften wir in den zwei Monaten Aufenthalt in Peru ein Stück des südamerikanischen Kontinentes kennenlernen und schöne, tiefe Eindrücke und Erlebnisse mit nach Hause bringen, von einem Land voller Eigenarten und Gegensätze, mit schönen Schnee- und Eisbergen, einem Land uralter, noch heute fast rätselhafter Geschichte und Kultur.

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