«Mad Dad» Remy 5c mit neunzig Jahren
Mit 92 Jahren klettert Marcel Remy immer noch. Der ehemalige SBB-Angestellte und Vater der bekannten Kletterer Yves und Claude Remy liebt die Berge. Seine Leidenschaft teilte er schon immer gerne mit anderen.
Unser Treffen findet in der Nähe der «Dent du Jaman» statt. Ein herrliches Fleckchen Erde, von wo aus man gleichzeitig den Berg und den See erblicken kann. Genau das gefällt Marcel Remy, der diesen Ort wie seine eigene Westentasche kennt und von ganzem Herzen liebt. Ein Herz, das schon seit zwölf Jahren mit Schrittmacher läuft, aber immer noch leidenschaftlich für eines schlägt: die Berge.
Mit 92 Jahren ist er den gleichen Gipfeln treu, die er schon als Kind im Visier hatte. Die Wegbeschreibung für unser Treffen gab er uns, als ob es das einfachste der Welt wäre, dahin zu kommen. Marcel Remy hat kein Handy und natürlich verfehlen wir uns am Bahnhof in Glion. Auf gut Glück erwischen wir ihn dann doch noch oberhalb von Montreux. Bei der kleinen Station von Haute-de-Caux auf der Linie Montreux-Berner Oberland (MOB) treffen wir schliesslich aufeinander.
Wir sitzen auf eine Terrasse. Ein kleiner Imbiss und ein Bier stehen vor Marcel Remy. Er ist von kleiner Statur, hat azurblaue Augen, eine Mütze auf seinem haarlosen Schädel und – wirkt ein bisschen verloren. Der 92-Jährige lebt heute allein, seine Frau Rachel (86) wohnt mittlerweile in einem Alterspflegeheim. Später wird er zugeben, dass ihm Interviewsituationen recht unangenehm sind. Er würde sich gerne besser ausdrücken können.
Die kleine Bahnstation von Bossière (Lutry) am Ufer des Genfersees ist sein zu Hause. Eine fast natürliche Wahl für einen alten Eisenbahner, der bereits seine Kindheit in der Bahnstation von Cases (MOB) in Gruyères verbracht hat. Zu dieser Zeit bedeuteten die Berge für ihn nichts anderes als mühselige Arbeit. «Wenn ich die Bergschuhe anzog, dann nur zum Heuen», erzählt er.
Nur Arbeit, kein Geld
In diesen Zeiten, zwischen den beiden Weltkriegen, entdeckte er die Bergsteiger, die gekommen waren, um den Grat von Gais Alpin östlich der Dent du Jaman zu erklimmen. Und im Winter sah er an der kleinen Bahnstation von Cases, wo seine Familie wohnte, betuchte Skitouristen aus der Genferseeregion, die angereist waren, um den eingeschneiten Talkessel von Jaman zu befahren.
«Wenn wir sie sahen, sagten wir immer: Voilà! Die Verrückten aus Lausanne», lacht er. Aber die Geschichten von ihren Bergtouren faszinierten den jungen Marcel. Die Lust, ihnen zu folgen, wuchs von Tag zu Tag. Nicht einmal die schreckliche Lawine 1942, die die komplette Bahnstation von Cases auslöschte und seine Mutter und Schwester mit in den Tod zog, konnte etwas gegen den Virus ausrichten, der ihn angesteckt hatte. Für seinen Vater war es jedoch ausgeschlossen, es den Leuten aus dem Tal gleichzutun. Für ihn gab es nur die Arbeit. Und es gab kein Geld. «Ich hatte dieses Bild von den Bergen. Eine fantastische Welt, aber sie war nicht für mich», vertraute er Philippe Barraud an, der 2014 seine Biografie schrieb. Marcel rekapituliert die schwierigen Jahre seiner Kindheit und betont immer wieder, dass man heutzutage nicht mehr verstehen kann, wie das Leben damals war.
Nach seinem zwanzigsten Lebensjahr verliess Marcel Remy seinen Vater, um bei der SBB zu arbeiten – und dort Karriere zu machen. Allmählich fing er auch mit dem Bergsteigen an. Ausgerüstet mit schweren Karabinern, Hanfseilen und Bergschuhen mit Tricouni-Beschlag. Er gibt zu, dass es Zeiten gab, wo er immun gegen jegliche Neuerung war. Er, der die Bohrhaken kommen sah, Klettergurte, leichtere Karabiner, Kletterschuhe ...
Von den Söhnen überholt
Seine Söhne durften schon als Kind klettern und ihn begleiten. Es war eine relative Freiheit im Gegensatz zur sonst recht strengen Erziehung. «Sie sagen, dass ich sie zur Härte erzogen habe, das ist übertrieben», sagt er. Manchmal nahm er seine Söhne aus der Schule, um in die Berge zu fahren. «Viel weniger hart als seine Erziehung, aber trotzdem ...», antwortet Claude, der uns erzählt, dass sein Vater mit einer Tracht Prügel selten gegeizt habe. Die beiden Brüder Yves und Claude Remy haben mit 15 000 Seillängen ihren Vater rasch überholt, trotzdem besteigen sie weiterhin gemeinsam die Klassiker wie das Matterhorn, den Grand Combin oder den Mont Blanc.
Kletterfinken statt Tricouni
Bei den Remys ist es nicht üblich, sich zu beglückwünschen, aber man hat stets ein offenes Ohr für den anderen. Nachdem der Vater die Söhne eingeführt hatte, war es an den Söhnen, ihren Vater auf neue Wege zu bringen. Eines Tages, Ende der 1970er-Jahre, vergisst Marcel Remy seine guten, alten Bergschuhe zu Hause. Seine Söhne klettern schon länger in Kletterschuhen und leichten Klettergurten. Und so kommt es, dass Marcel zum ersten Mal diese komischen Finken anprobiert. Eine Offenbarung? «Ich war noch nie so unglücklich», gibt der Pensionierte heute zu.
Aber mit den Jahren gibt er klein bei und findet sogar Spass daran. Die Mittel, um sich und seine Söhne mit der nötigen Ausrüstung zu versorgen, fehlten ihm und seiner Frau oft in diesen Jahren. Aber man lernte, das vorhandene Material zu teilen. Während seines ganzen Lebens nahm er immer wieder Anfänger unter seine Fittiche – und am liebsten mit auf eine seiner Glücksbringerwände, die Miroir de l’Argentine. Bis heute, erzählt uns sein Sohn, geize er nicht mit Ratschlägen und beweise eine unglaubliche Geduld mit den Jungen, die ihm in der Kletterhalle von Saint-Légier begegnen.
Das Leben beginnt mit 80
Marcel Remy hat miterlebt, wie Anfang der 1990er-Jahre die ersten Kletterhallen in der Schweiz entstanden sind. Dieser radikale Wechsel und die explosionsartige Ausbreitung des Sportkletterns bedeuten auch, dass einige die Berge gar nicht zu Gesicht bekommen. Aber im Unterschied zu Marcel können die jungen Talente von heute neue Gebiete mithilfe von Google Earth ausfindig machen. Und sie werden gesponsert. Das Material, die Mobilität, Filme, so viele Dinge haben sich seit den ersten «Verrückten aus Lausanne» im Bergsport verändert. Auch der 92-Jährige gibt zu, dass er als junger Mann wohl ebenfalls von den zahlreichen Möglichkeiten, die sich heutzutage den Jungen bieten, Gebrauch gemacht hätte. «Es war damals schlicht und einfach nicht möglich. Mit den Mitteln, die ich hatte», wiederholt der alte Mann und nippt an seinem Bier.
Mit Hüftprothesen in die Wand
Heute nutzt er die Möglichkeiten, die er hat: Mit 80 stellte er sich auf das Snowboard und das Skateboard. Einige Jahre später, 2007, entdeckt er die Insel Kalymnos, hoch geschätzt unter Kletterern. Seitdem kehrt er regelmässig mit seinen Söhnen dorthin zurück. Auch wenn die 6a nur in seinem Kopf bezwungen wird und schätzungsweise eine 5c ist, zollen ihm die anderen Kletterer immer wieder Respekt. Überall ermutigt man ihn liebevoll mit dem Spitznamen «Mad Dad». Der alte Mann hofft, seinen Rhythmus dank zwei Hüftprothesen und seiner Gesundheit zu halten, die ihm momentan keine Probleme bereitet. Mit 92 klettert er im Schnitt alle zwei Tage. «Ist doch ziemlich gut, oder?», meint er.